Karlsruher Philosoph erkennt mit Corona Zeitenwende

„Es ist phä­no­me­nal, was sich die­ser Tage ereignet“

Der am KIT for­schen­de Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sor Heinz-Ulrich Nen­nen sieht mit Coro­na eine neue Zeit angebrochen

Die Coro­na-Kri­se ist zu einem der aktu­el­len For­schungs­schwer­punkt des am KIT täti­gen Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sors Heinz-Ulrich Nen­nen gewor­den. Der Gei­stes­wis­sen­schaft­ler unter­sucht die Aus­wir­kun­gen der welt­wei­ten Virus­kri­se auf den Umgang der Men­schen unter­ein­an­der und die Moralvorstellungen. 

Inter­view mit Wolf­gang Voigt. In: Badi­sche Neue­ste Nach­rich­ten, 8. Mai 2020. 

Der Phi­lo­soph Heinz-Ulrich Nen­nen erkennt in der Coro­na-Kri­se den Beginn einer neu­en Zeit.

Wie wirkt die Coro­na-Kri­se auf das Leben der Men­schen, wie auf Moral­vor­stel­lun­gen und den Umgang mit­ein­an­der? Die Beschäf­ti­gung mit sol­chen Fra­gen nennt der am KIT täti­ge Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sor Heinz-Ulrich Nen­nen, „Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“. Mit dem Gei­stes­wis­sen­schaft­ler sprach BNN-Redak­teur Wolf­gang Voigt.

Laut Bun­des­tags­prä­si­dent Wolf­gang Schäub­le bedeu­tet die Wür­de des Men­schen nicht not­wen­dig, dass alles ande­re hin­ter dem Schutz von Leben zurück­tre­ten muss. Eine halt­ba­re These?

Heinz-Ulrich Nen­nen: Der Bun­des­tags­prä­si­dent hat kraft sei­nes Amtes und viel­leicht auch vor dem Hin­ter­grund sei­nes per­sön­li­chen Schick­sals, Atten­tats­op­fer gewor­den zu sein, einen ziem­lich unspek­ta­ku­lä­ren Gedan­ken in die über­hitz­te Debat­te geworfen.

Wir haben Güter­ab­wä­gun­gen vor­zu­neh­men, und seit wir die Göt­ter in vie­lem beerbt haben, umso mehr. Wolf­gang Schäub­le hat einen Impuls gesetzt, und das war gut. Ich wer­de nie ver­ges­sen, wie mein Dok­tor­va­ter, Pro­fes­sor Wil­helm Goerdt, der in Russ­land in Gefan­gen­schaft war, reagier­te, als ich ihm die Dring­lich­keit einer öko­lo­gi­schen Wen­de dar­stel­len woll­te: „Schließ­lich geht es ja um unser aller Leben!“

Er sag­te unge­rührt und ziem­lich fest: „Ist das alles?“ Mir gab das zu den­ken. Um es mit Schil­ler zu sagen: „Das Leben ist der Güter höch­stes nicht, der Übel größ­tes aber ist die Schuld.“

Ist die Ret­tung des Wirt­schafts­le­bens ange­sichts der Lebens­ge­fahr für Risi­ko­grup­pen also ein legi­ti­mes Anliegen?

Die Eng­füh­rung, ent­we­der Wirt­schaft oder Tod, ist ten­den­zi­ös. Aber in der Tat hat die Wirt­schaft nie einen Hehl dar­aus gemacht, einer absur­den Theo­rie vom Markt als frei­er Wild­bahn zu frö­nen. Die Poli­ti­ker, ins­be­son­de­re die Kanz­le­rin, die zu der Ent­schei­dung gekom­men ist, den Not–Aus–Schalter zu betä­ti­gen, waren der Auf­fas­sung, das ein­zig Rich­ti­ge zu tun. Es ist eine Schock-Star­re, die dar­auf ein­ge­tre­ten ist.

Zwei­fels­oh­ne ist mit der Corona–Krise ein Para­dig­men­wech­sel von­stat­ten gegan­gen. Die Poli­tik war bis­lang die Magd der Wirt­schaft, wie es einst die Phi­lo­so­phie der Theo­lo­gie gegen­über war. Und urplötz­lich ist die Poli­tik die unum­strit­te­ne Her­rin im Haus.

Sehen Sie Anzei­chen für einen mora­li­schen Fort­schritt, der sich durch die Kri­se ein­stellt? Wenn ja, wie sieht er aus?

Die Welt danach wird eine ande­re sein. Es gibt drei mög­li­che Sze­na­ri­en: ein auto­ri­tä­res, eines, das allen Ern­stes glaubt, man könn­te zum vor­ma­li­gen All­tag zurück­keh­ren, und ein drit­tes Sze­na­rio, das den Kai­ros, also den glück­li­chen Augen­blick, beim Schopf ergrei­fen will.

Unterm Strich sehe ich schon einen mora­li­schen Fort­schritt, weil das bis­he­ri­ge Ver­ständ­nis von Poli­tik kol­la­bie­ren muss. Das mit­tel­al­ter­li­che Bild vom Guten Hir­ten mit einer Her­de, die der Füh­rung bedarf, wird durch die Kri­se über­holt. Es war immer schon inhu­man, den Men­schen als sol­chen zu ver­ach­ten und ihm gar kei­ne Chan­cen zu geben, sich selbst zu verbessern.

Wir sind also Zeu­gen einer Zeitenwende?

Es ist phä­no­me­nal, was sich die­ser Tage ereig­net. Viel­leicht ist es in der Tat eine Epo­chen-Wen­de, min­de­stens ist es der Über­gang in eine Poli­tik, die sehr viel mehr Mit­be­stim­mung mög­lich machen wird. Das ist auch mei­ne Fun­da­men­tal-Kri­tik an der Poli­tik in der Corona–Krise.

Das Virus mag gefähr­lich sein. Aber die Ein­grif­fe in Grund­rech­te und das damit doku­men­tier­te Miss­trau­en in die Mün­dig­keit und das Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein der Bür­ger ist eine Her­ab­set­zung sondergleichen.

Wie beur­tei­len Sie den Umstand, dass die Coro­na-Maß­nah­men rasant getrof­fen wur­den, wäh­rend sich beim Kli­ma­schutz seit Jah­ren eher wenig tut?

Gre­ta Thun­berg hat zwei­mal eine Ver­wün­schung aus­ge­spro­chen, in New York und in Davos: „I Want You to be in Panic!“ Genau das ist gesche­hen, nur anders als gedacht. Im Hin­ter­grund steht ein neu­er Generationenvertrag.

Dabei ist es bemer­kens­wert, dass man mit der Gene­ra­ti­on der Jün­ge­ren gar nicht erst spricht. Aber ange­sichts von Coro­na lässt sich kon­sta­tie­ren, dass die Gene­ra­ti­on der Jün­ge­ren ihre Rück­sicht nimmt, um der Gene­ra­ti­on der Älte­ren, die ihrer­seits Rück­sicht neh­men soll­te, das mög­lichst lan­ge Leben nicht zu gefährden.

Die­ser Hin­ter­grund jeden­falls ist eine Iro­nie der Geschich­te, und es spricht Bän­de, dass sich die Coro­na-Maß­nah­men genau gegen die Jün­ge­ren rich­ten, vor allem auch gegen die Kin­der, ohne sie selbst zu Wort kom­men zu lassen.

Gegen­wär­tig gilt der Pri­mat der Viro­lo­gen. Kommt da die Phi­lo­so­phie zu kurz?

Aber gewiss. Was Wolf­gang Schäub­le ange­merkt hat, ist anders von Juli­an Nida–Rümelin gesagt wor­den, und Boris Pal­mer hat es über­setzt in den Jar­gon der Mora­li­sten: „Sie wol­len ja wohl nicht ver­ant­wort­lich sein für…“ – Dabei ist Pal­mer bewusst miss­ver­stan­den worden.

Es ist ent­täu­schend, dass die mei­sten Zeit­ge­nos­sen den phi­lo­so­phi­schen Witz bei alle­dem ein­fach nicht ver­ste­hen. Das Lachen der Wei­sen ist eben eines, das die Offen­heit der Ent­wick­lun­gen stets mit bedenkt.

Die Kri­se hat die System-Rele­vanz von Pfle­ge­kräf­ten, Super­markt-Per­so­nal oder auch Lkw-Fah­rern ans Licht gebracht. Braucht es hier eine gesell­schaft­li­che Neubewertung?

Das ist eine Erkennt­nis, die von blei­ben­der Bedeu­tung sein dürf­te. Es ist ja bereits kon­sta­tiert wor­den, dass Applaus ganz nett ist aber nicht genügt. In der Tat wird es Ver­schie­bun­gen geben. Wich­tig ist auch, ob Divi­den­den aus­ge­schüt­tet wer­den in Kon­zer­nen, die sich haben einen Tropf anle­gen lassen.

Die Ban­ken­kri­se war inso­fern eine gute Lek­ti­on. Neun­mal­klu­ge haben sich damals eine Stra­te­gie über­legt, sich vom Staat mit Steu­er­gel­dern ret­ten zu las­sen, und die Rech­nung ist auf­ge­gan­gen. Danach war alles wie immer, nur schlim­mer. So wird es nach der Corona–Krise nicht kom­men, denn die alte Welt ist längst unter­ge­gan­gen, es ist nur die Fra­ge, wie sie wie­der­ge­bo­ren wird.

Wel­chen Ein­fluss hat Coro­na auf Ihre wis­sen­schaft­li­che Arbeit?

Ich habe mich ent­schlos­sen, ein Buch über den Dis­kurs der Coro­na-Kri­se zu schrei­ben, wie ich es schon ein­mal bei einem noch lau­fen­den Skan­dal gemacht habe, näm­lich zur Sloterdijk–Debatte vor rund 20 Jahren.

Es geht mir dabei um eine bestimm­te Metho­de, die ich „Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“ genannt habe. Seit­her schrei­be ich an die­sem Buch mit dem Titel „Der Corona–Diskurs als Kathar­sis. Panik, Absturz, Kri­se und Transformation“.