Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Ausnahmezustand

Querkopf

Bekenntnisse eines Selbstdenkers

Jac­ques-Lou­is David: Der Tod des Sokra­tes (1787).

Ich beken­ne nicht ohne Stolz, daß ich schon immer ein Quer­kopf war. Das hat mich früh in die Phi­lo­so­phie getrie­ben, der ein­zi­ge Ort, wo die böse Warum–Frage aus­ge­hal­ten wer­den muß und jeder Gedan­ke sei­ne Chan­ce bekommt. Auch Gefüh­le und Inspi­ra­tio­nen gehö­ren dazu, sogar das, wofür noch gar kei­ne Wor­te vor­han­den sind. 

Quer­köp­fe sind eher unbe­que­me Cha­rak­te­re. Mei­nen Eltern war das ein Graus. Tat­säch­lich hat mein Vater im Zorn ein­mal zu mir gesagt: „Nie beugst Du Dei­nen Rücken!“ 

Da war ich baß erstaunt, denn was konn­te für einen ange­hen­den Den­ker grö­ßer sein als die­ses Lob. Und mei­ne Mut­ter sag­te: „Nie machst Du es so, wie alle ande­ren es machen. Immer machst Du alles auf Dei­ne Wei­se!“  Ja, auch das stimmt. Nur neh­me ich die­se Kri­ti­ken als Lob der Anerkennung. 

Neu­lich habe ich einen Freund besucht, ehe­ma­li­ger WG–Genosse, lan­ge Zeit mein Haus­arzt, auch da habe ich immer mei­nen Kopf durch­ge­setzt. Auf dem Weg zu ihm, in Vor­ah­nung auf die Ermah­nun­gen dach­te ich amü­siert über mich selbst nach. 

Ich neh­me kei­ne Beta­blocker, höre nicht wirk­lich auf den Rat von Ärz­ten, las­se mich allen­falls bera­ten und bil­de mir mein eige­nes Urteil vor dem Hin­ter­grund mei­ner Kennt­nis­se. Ich schnal­le mich im Auto nicht an, weil ich der Auf­fas­sung bin, daß der Staat nicht das Recht hat, mir das abzu­ver­lan­gen. Ich bin gegen das Rauch­ver­bot, obwohl ich selbst seit Jahr­zehn­ten nur noch rau­chen las­se. Es gibt die­se Eigen­tüm­lich­keit bei Rau­chern, daß sie irgend­wie „wacher“ sind und für mich und mei­nen Geist ein­fach oft die bes­se­ren Gesprächspartner.

Und noch nie habe ich eine Grip­pe­schutz­imp­fung machen las­sen, und wie selbst­ver­ständ­lich bin ich auch gegen Coro­na rein gar nicht geimpft. Und natür­lich ver­wen­de ich auch die Alte Recht­schrei­bung. Da kommt also eini­ges zusam­men: Unge­impft, Gefähr­der, Wis­sen­schafts­feind, Covidi­ot, Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker, Esoteriker. 

Seit Febru­ar 2020 schrei­be ich an einem Buch zur Phi­lo­so­phie über die Kri­se, vor allem auch über die „Schlie­ßung der Dis­kur­se“. Ganz früh wur­den näm­lich sehr vie­le Per­spek­ti­ven ein­fach aus­ge­schlos­sen. Wer dann noch so etwas über­haupt anspre­chen woll­te, war schon drau­ßen, exkom­mu­ni­ziert wie in der Kir­che. Und vie­le Medi­en­ver­tre­ten haben sich dann auch noch erei­fert mit Ver­un­glimp­fun­gen jeg­li­cher Art. Man hat die Kri­ti­ker nie ernst genom­men, weil man ein­fach dar­an glaubt, den rich­ti­gen Glau­ben zu haben, streng wis­sen­schaft­lich natürlich.

Alles im Namen „der“ Wis­sen­schaft, wel­cher eigent­lich? Seit­her gel­ten Glau­bens­be­kennt­nis­se, die vie­le bereits im Halb­schlaf herunterbeten.

Ja, die Gesell­schaft pola­ri­siert sich, weil der Ein­druck erzeugt wird, die Unge­imp­fen sei­en ver­ant­wort­lich dafür, daß die gan­ze Gesell­schaft sich bis­her noch nicht „frei­imp­fen“ konnte. 

Dar­an sind wie üblich die Ungläu­bi­gen schuld. – Die Imp­fung ist zur Tau­fe gewor­den, es geht zu wie im Mit­tel­al­ter. Aber der Kir­chen­glau­be hält sich inzwi­schen auch noch für auf­ge­klärt. Man sieht kau­sa­le Zusam­men­hän­ge: Wer sich nicht imp­fen läßt, kommt ins Fege­feu­er, das sei so sicher wie das Amen in der Kir­che. Aber die Dis­kur­se lau­fen wei­ter, wenn nicht in den übli­chen Medi­en, dann eben im Netz. Inzwi­schen gibt es schon Dating-Por­ta­le für Ungeimpfte.

Mir ist neu­er­dings etwas Phä­no­me­na­les auf­ge­fal­len, was ich mir bis­lang noch nicht erklä­ren kann. Man fragt sich ja inzwi­schen den Impf­sta­tus ab: Männ­lich, weib­lich, divers, geimpft oder unge­impft? Dabei ist mir auf­ge­fal­len, daß mir „die“ Unge­impf­ten oft die sym­pa­thi­sche­ren Men­schen sind. 

Nein, nicht weil sie unge­impft sind, son­dern weil sie ihre eige­nen Grün­de haben, nicht geimpft zu sein. Und das hat wie­der­um etwas mit mei­nem Quer­kopf zu tun, denn sie haben auch einen, über den sich immer zu Reden lohnst.  Man ist doch gern in guter Gesellschaft.

Die mir lieb gewe­se­ne Bezeich­nung vom „Quer­den­ker“ ist inzwi­schen bereits ver­brannt. Aber mei­nen Quer­kopf las­se ich mir nicht nehmen.

Phi­lo­so­phen sind nun in der Höh­le nicht sehr beliebt, sie stö­ren den Nor­mal­ver­lauf, daher das Urteil gegen Sokra­tes. Frü­her als der Pro­phet der Chri­sten ist da einer für sei­ne Den­kungs­art in den Tod gegan­gen. Er hät­te sich ret­ten kön­nen, denn alles war arran­giert, der Wäch­ter besto­chen, die Gefäng­nis­tü­re offen und dahin­ter stan­den schon die Pfer­de für die Flucht nach Spar­ta, wie sie Prot­agoras wohl 10 Jah­re frü­her bereits absol­viert haben soll.  Wenn man nun dar­über nach­denkt, war­um Sokra­tes geblie­ben ist, dann kommt man irgend­wann dar­auf, daß er in Athen blei­ben muß­te, um wei­ter­hin Sokra­tes zu sein. Er hät­te sich selbst ver­ra­ten, wäre er geflohen.

Das ist dann auch die Geste, die dann vom Chri­sten­tum geka­pert wor­den ist. Nicht auf den christ­li­chen Him­mel, auf die gött­li­chen Ideen kommt es an! Ja, das wäre die aller­be­ste Gesellschaft. 


Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

Über Menschenwürde und Impfzwang

Viel war immer von „Wür­de“ die Rede, gera­de in Deutsch­land. Die­ser Begriff war wie ein Fetisch, man hob ihn sehr hoch und höher. Aber den aller­mei­sten war das Gemein­te so faß­bar wie die Begrif­fe Leib und Seele.

Und da nun die „har­ten“ Wis­sen­schaf­ten kei­nen Zugang haben zu alle­dem, ist es eigent­lich schlecht bestellt um das, was gemeint sein könn­te. Allen­falls wird wider­wil­lig noch so etwas wie Psy­che zuge­stan­den aber dann auch nur mit einem Man­ko. Wenn etwas „psy­cho­lo­gisch bedingt“ ist, dann ist es zugleich „nur psy­cho­lo­gisch“.  Es ist gewis­ser­ma­ßen grund­los, weil es ja nun kei­ne „kau­sa­le“ Ursa­che gibt, oder?

Das ist der bor­nier­te Mate­ria­lis­mus einer Kul­tur, die inzwi­schen gefähr­lich geist­los gewor­den ist, wie sich an der aktu­el­len Debat­te um den Impf­zwang zeigt.

„Wür­de“ ist unfaß­bar für alle die­je­ni­gen, die mei­nen, es gäbe nur eine ein­zi­ge Wahr­heit, näm­lich die­je­ni­ge, die sich in Zah­len mes­sen und natur­wis­sen­schaft­lich the­ma­ti­sie­ren läßt. Ja und Lie­be wird zur Hor­mon­stö­rung, ist es nicht so? Und Schön­heit kommt von außen, tau­send Influen­ce­rIn­nen kön­nen nicht irren?

Alles, was nicht ins Pro­kru­sten­bett die­ser Unbil­dung paßt, wird pas­send gemacht. Das geht so weit, daß Bio­lo­gIn­nen in den Talk­shows der Repu­blik unwi­der­spro­chen zwi­schen Glau­ben und Wahr­heit unter­schei­den, um dann “die Wahr­heit” für sich zu rekla­mie­ren. Und alles ande­re ist Hokus­po­kus? – Ich muß doch sehr bitten.

Das Niveau ist inzwi­schen unter­ir­disch. Die so scheel beäug­te Psy­che geht gera­de über Hecken und Zäu­ne. Es geht schon längst nicht mehr um kör­per­li­che Gesund­heit. Wir haben es mit einer Mas­sen­hy­ste­rie zu tun, die nun Sün­den­böcke braucht, weil aus alle­dem, was man sich ver­spro­chen hat, durch Imp­fen wie­der­zu­ge­win­nen, nichts wie erwar­tet gekom­men ist. 

Dabei wur­de von Anfang an rück­sichts­los alles ins Opfer­feu­er gewor­fen, ob es das See­len­heil von Kin­dern ist, denen man sag­te, sie wür­den den Tod brin­gen oder die Wür­de der Ster­ben­den und Demen­ten, die ohne jede mensch­li­che Berüh­rung weg­däm­mern und ster­ben. Die Liste ist inzwi­schen unüber­seh­bar, was da an Schä­den ange­rich­tet wor­den ist.

„Wür­de“ ist ein höchst inti­mes Selbst­ver­hält­nis zwi­schen Ich und Selbst, Kör­per und Psy­che, Leib und See­le, Sinn­lich­keit und Geist. Es ist die­ser selt­sa­me Wider­spruch, daß wir von den einen nicht ein­mal flüch­tig berührt wer­den möch­ten, wäh­rend wir uns den ande­ren mit­un­ter vor­be­halt­los hin­ge­ben kön­nen. Das hat etwas mit einem Ver­trau­en zu tun, das nicht ein­ge­for­dert wer­den kann.

Was haben wir denn für Bil­der im Kopf, wenn „unser Kör­per“ gera­de mit etwas ringt? Das sind Nar­ra­ti­ve, die wir uns durch den täg­li­chen Wis­sen­schafts­jour­na­lis­mus ein­fan­gen. Als ob das alles wäre, um zu sagen, wer und was „wir“ denn so alles „sind“.

Naiv sind weni­ger die der Eso­te­rik Ver­bun­de­nen, sie ver­su­chen wenig­stens eige­ne Wor­te zu fin­den für die­ses Intim­ver­hält­nis. Wäh­rend die ande­ren nur ihre Geist­lo­sig­keit demon­strie­ren und einen längst arbeits­los gewor­de­nen Kir­chen­glau­ben nun­mehr auf „die“ Wis­sen­schaft rich­ten, ja wel­che denn?  Es gab zu allen Zei­ten ein­fa­che Gemü­ter und die­se wuß­ten dar­um. Nur, inzwi­schen hal­ten sich die­se auch noch für auf­ge­klärt, wenn sie dar­an gehen, ande­re zu beleh­ren, um sie auf den rich­ti­gen Glau­bens­weg zu bringen.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein und das Leben ist der höch­sten Güter nicht; vie­les, unend­lich vie­les ist schon gesagt wor­den dar­über, daß es Din­ge gibt zwi­schen Him­mel und Erde, zwi­schen Kör­per und Geist, von denen sich unse­re Wissenschafts–Weisheiten nun wirk­lich nicht ein­mal eine Vor­stel­lung machen können.

Alle die­se Schu­ster soll­ten bei ihren Lei­sten blei­ben, denn es ist zwi­schen Tech­nik– und Natur­wis­sen­schaf­ten einer­seits und zwi­schen Gei­stes– und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten ande­rer­seits zu unter­schei­den. Und die Bor­niert­heit man­cher Fach­ver­tre­ter und ihrer Nach­be­ter soll­te uns nicht dar­über hin­weg­täu­schen, daß wir es mit einer kom­ple­xen und auch tief­grün­di­gen Wirk­lich­keit zu tun haben.  Wir haben eine Innen­welt, die es mit den unend­li­chen Wei­ten des Kos­mos spie­lend auf­neh­men kann, wenn man bedenkt, wer und was in unse­rer Phan­ta­sie so alles leib­haf­tig ist.

Als ich in einem Thinktank vor­zei­ten des­öf­te­ren inter­dis­zi­pli­nä­re Exper­ten­krei­se mode­riert habe, gab es nicht sel­ten die­se Kind­lich­keit im Auf­tre­ten von Sach­ver­stän­di­gen, wenn sie mal für etwas nicht zustän­dig sind, son­dern ande­re, noch dazu kon­kur­rie­ren­de Dis­zi­pli­nen. Man muß­te dann schon ener­gisch wer­den, um sie dahin zu bewe­gen, nur über ihre Sache spre­chen, wovon sie schließ­lich etwas ver­ste­hen aber nicht ande­re schlecht reden.  Genau das aber geschieht nun in die­ser Gesell­schaft. Da sucht eine auf­ge­hetz­te Mehr­heit nach Sün­den­böcken und erklärt alle Anders­den­ken­den zu „Gefähr­dern“.

Die Mehr­heit hat nicht das Recht, sich so eine Min­der­heit zu erschaf­fen, um dann über sie her­zu­fal­len, nur weil sie sich hat Angst machen und mit fal­schen Ver­spre­chun­gen und trü­ge­ri­schen Hoff­nun­gen ins Bocks­horn jagen las­sen. Die Gesell­schaft hat nicht das Recht, so zu tun, als sei sie eine Gemein­schaft und hät­te dem­entspre­chen­de Rech­te. Gera­de unse­re real exi­stie­ren­de Gesell­schaft ist sozi­al käl­ter als vie­le ande­re, daher hat sie sogar noch weni­ger Rech­te als jene. 

Der Staat hat nicht das Recht, ein Impf­re­gi­ster auf­zu­bau­en, denn bereits das ver­letzt die Wür­de im Daten­schutz und die infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung. Und der Staat hat schon gar nicht das Recht, in das inti­me Ver­hält­nis zwi­schen mir und mei­nem Kör­per ein­zu­grei­fen. Das wäre mehr als die Ver­let­zung mei­ner Wür­de, das wäre bereits Miß­hand­lung. Nur eine Ver­ge­wal­ti­gung wäre noch übler.

Und für Neun­mal­klu­ge: Wenn ich in eine Alko­hol­kon­trol­le gera­te und gefragt wer­den, ob ich mit einer „frei­wil­li­gen Alko­hol­kon­trol­le“ ein­ver­stan­den sei, dann fra­ge ich stets, was dar­an frei­wil­lig sein soll. Wenn nicht, dann müs­se ich eben mit zur Wache kom­men, wo mir zwangs­wei­se Blut für einen Alko­hol­test abge­nom­men wür­de, erklär­te mir der Beam­te.  Da habe ich ihm wie­der­um erklärt, daß das kei­ne Frei­wil­lig­keit sei. Ver­deut­licht habe ich es ihm am Bei­spiel sei­ner Kol­le­gin, die dane­ben stand. Wenn ich die­se auf­for­dern wür­de, mich nicht abzu­wei­sen, wenn ich ihr wür­de nahe­tre­ten wol­len, weil ich anson­sten „Maß­nah­men“ ergrei­fen wür­de, was das dann wäre. Nöti­gung min­de­stens, viel­leicht Frei­heits­be­rau­bung, viel­leicht mehr.

Nur, wenn ich mit einem Fahr­zeug am Stra­ßen­ver­kehr teil­neh­me, gebe ich gewis­ser­ma­ßen einen Teil mei­ner Grund­rech­te preis. Soll­te mir das nicht geheu­er sein, könn­te aber auch auf das Fah­ren ver­zich­ten…  In der Coro­na-Kri­se habe ich die­se Alter­na­ti­ve nicht, ich kann nicht nicht leben oder mal eben auswandern.

Die Geschich­te wie­der­holt sich nicht, das ist eines der meist­ge­glaub­ten Stan­dards, und dann wer­den immer wie­der Ana­lo­gien gesucht, wohl, weil wir dann doch aus den Feh­lern der Geschich­te ler­nen wol­len. Ich den­ke in den letz­ten Wochen des­öf­te­ren an die berühmt-berüch­tig­te Schrift von Hen­ry David Tho­reau: Über die Pflicht zum Unge­hor­sam gegen den Staat:

„Auf die­se Wei­se kon­fron­tiert der Staat nie das Inne­re eines, intel­lek­tu­ell oder mora­lisch, son­dern nur sei­nen Kör­per, sei­ne Sin­ne. Der Staat ist nicht mit über­le­ge­ner Weis­heit oder Red­lich­keit aus­ge­rü­stet, er besitzt nur über­le­ge­ne phy­si­sche Stär­ke. Ich bin nicht gebo­ren, um mich zwin­gen zu las­sen. Ich will nach mei­ner eige­nen Art atmen. Laßt uns sehen, wer der Stär­ke­re ist.“ (Hen­ry David Tho­reau: Uber die Pflicht zum Unge­hor­sam gegen den Staat. 1849. S. 9.)


Klio dichtet

Klio dichtet

Es sind immer die Narrative.

Auch die­ses hier, die­se Mischung aus Sup­pen­kas­per und dem Losungs­wort für eine neue Wei­ma­ri­sie­rung und dann die unsäg­li­che Rede von den Covidio­ten. Ergo: Coro­na­leug­ner, Wis­sen­schafts­fein­de, Faschi­sten, Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker, Staats­fein­de, Schuldige.
“Wer­det wie die Kin­der”, kann das rat­sam sein? Denn Kin­der und ihre Lie­der sind oft grausam.
Ich kann mich dun­kel und pein­lich berührt an eines aus der Nach­kriegs­zeit erinnern:
Hin­ter einer Bude, saß ein J*… Dann kam irgend­et­was mit “Pie­pen”, also Geld und auch etwas mit “Läu­sen”. Aber Erwach­se­ne haben flü­sternd gebrüllt, wir soll­te sofort auf­hö­ren damit…
Gera­de die Über­tre­tung, ins­be­son­de­re die Her­ab­set­zung von ande­rer berei­tet oft eine gewis­se Lust, die sich selbst frei­zu­spre­chen bemüht ist. 
Vor allem dann, wenn man glau­ben möch­te, “denen” das Böse, das man ertra­gen muß, anla­sten zu können.
Wer sich also an ihnen ver­greift, gibt ja nur zurück, oder?  Sie erhal­ten ja nur, was sie „ver­dient“ haben, oder?
Ja?  Ver­dient wie­so, wofür, weswegen?
Tie­fen­psy­cho­lo­gisch läßt sich erklä­ren, was da eigent­lich gera­de vor sich geht, wenn sich revan­chi­sti­sche Gefüh­le in den Vor­der­grund drängen. 
Es ist schon befremd­lich, mit wel­cher Häme zur Kennt­nis genom­men wird, wenn einer die­ser Akti­vi­sten stirbt an Coro­na! Und dann auch noch unge­impft, also ohne getauft wor­den zu sein! Und jetzt schmort er im Fegefeuer.
Weil wir uns allen Ern­stes vor­be­halt­los einer Rie­ge von Epi­de­mio­lo­gen anver­trau­en, sind wir im Ent­wick­lungs­ni­veau wie­der im Mit­tel­al­ter ange­kom­men, denn sie ver­ste­hen nur ihre Zah­len und sehen auch nur, was die­se sagen.
Ja und was sagen die Zah­len denn schon? Was sehen sie über­haupt?  Sie sehen nicht die Psy­che, den Ruin vie­ler, den Unter­gang der Clubs, das Ster­ben der Kul­tur, den Ver­lust an Nähe und die see­li­schen Grau­sam­kei­ten gegen­über Kin­dern und Alten.
Sie sehen nicht die Bür­ger­kriegs­po­ten­tia­le, den neu­en Haß, das Ver­sa­gen des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes, den Niveau­ver­lust auf allen erdenk­li­chen Ebenen. 
Dafür haben sie kei­ne Zah­len, dafür sind sie auch nicht zustän­dig. Ja, das sind sie in der Tat nicht. Dann soll­ten sie auch nicht Emp­feh­lun­gen geben, die sie gar nicht ver­tre­ten kön­nen, weil sie kei­ne Ahnung haben davon, was Mensch­sein aus­macht. Men­schen die Nähe, die Berüh­rung, das inti­me Ver­hält­nis zum eige­nen Kör­per, Ster­ben­den die Berüh­rung, Demen­ten die Besu­che zu neh­men, ist das rettend?
Sor­ry, selbst ein ver­stor­be­ner AFD–Mann war, ist und bleibt ein Mensch mit allem, was dazu gehört. Etwas mehr Wür­de im Umgang soll­te schon drin sein, selbst wenn sich gera­de die AFD hier nicht ver­dient gemacht hat.
Wür­de ist umso wich­ti­ger, in einer Zeit, die den Grundgesetz–Artikel über die Wür­de gera­de auf den Altä­ren der Zah­len­fe­ti­schi­sten aus­blu­ten läßt um dem Gott der Geist­lo­sen zu opfern.
Nicht was sie wis­sen, die Her­ren und Damen Sci­en­ti­sten in ihrem uner­schüt­ter­li­chen Glau­ben an die Rein­heit der Zah­len, son­dern das, was sie alles nicht wis­sen, inter­es­siert mich.
Nie waren Zei­ten so geist­lo­ser. Da tre­ten Natur­wis­sen­schaft­ler auf, um ernst­haft über den Unter­schied zwi­schen Wis­sen und Glau­ben zu fabu­lie­ren. Sie hät­ten nun mal das Wis­sen und die ande­ren nur Glauben.
Sor­ry, Ver­trau­en läßt sich nicht ein­for­dern, es wird einem gege­ben, wenn man es sich ver­dient hat in den Augen derer, die ja viel­leicht auf ande­re und auf ande­res vertrauen.
Wir haben einen neu­en Aber­glau­ben am Hals, einer, der sich auf­ge­klärt gibt, aber blind ver­traut und dann auch noch blin­des Ver­trau­en ein­for­dert. Da kann man aber auch sehen, was Angst mit Men­schen macht.
Dabei wis­sen wir doch schon seit gerau­mer Zeit, daß der Zeit­geist zwi­schen Auf­klä­rung und Aber­glau­ben immer wie­der hin und her pendelt.
Der Glau­be an die ein­zig wah­re Epi­de­mio­lo­gie zeigt den erbärm­lich­sten Stand der Huma­ni­tät seit Men­schen­ge­den­ken. Wir sind fort­an nur noch Bio­ma­schi­nen ohne Psy­che, Leib oder See­le, ohne Geist und Ver­nunft. Das alles zählt nicht, meint Klio, heute.
Sie ist besof­fen vom ver­meint­li­chen Erfolg, Gei­ster zu ver­trei­ben, die sie selbst geru­fen hat. Sie pin­kelt des Nachts berauscht in einen Brun­nen und steht Stun­den davor, weil sie die eige­ne Grö­ße ver­spürt, denn das Rau­schen hört ein­fach nicht auf.
Die Prie­ster im Tem­pel der Ver­nunft ken­nen das alles. Es gibt unend­lich vie­le Nar­ra­ti­ve, von denen alle irgend­wann ein­mal äußerst wich­tig sein wer­den. Das ist eine Fra­ge, die im Tem­pel der Ver­nunft immer wie­der neu gestellt wird. Wie wird das Wet­ter des Gei­stes mor­gen? Dar­auf kommt es an.
Ver­nunft ist mehr als die Sum­me epi­de­mio­lo­gi­scher Zah­len. Es geht nicht nur um die Mate­rie im Kör­per­li­chen. Men­schen sind sehr viel mehr als nur das. Auf den Geist kommt es an. Nie­mand und nichts ist näher am Licht der Vernunft.

Georg Stefan Troller zum Hundertsten

Sich auf das Verstehen verstehen

Er hat mich geprägt, denn er zeigt immer wie­der, wie Ver­ste­hen mög­lich ist und wie fan­ta­stisch es sein kann. Dabei ist sein Ver­ständ­nis oft etwas mut­wil­lig her­ge­holt, aber genau damit wird er zum Vorbild. 

Ja, man kann ver­ste­hen, muß sich aber nicht gleich­ma­chen. Aber viel­leicht war und ist es ja auch “nur” die Son­ne in sei­nem Her­zen und das bei die­sem Lebens­weg, – viel­leicht auch gera­de deswegen.

Die­ses Niveau ist ein­ma­lig. Der freund­li­che, leicht iro­ni­sche Unter­ton, das stets bereit­wil­li­ge Under­state­ment, das zur Not auch betont hemds­är­me­lig daher­kommt, von wegen, es müs­se doch wohl so sein…  Das ist höch­ste Kunst der Begeg­nung. Dabei kommt alles so leicht­sin­nig und fla­neurhaft daher, aber es wer­den Tie­fen erreicht, die oft nicht ein­mal erahnt werden.
Es ist schon bestechend, dabei zu sein, um mit­zu­er­le­ben, wie leicht man auf wirk­lich Wich­ti­ges kommt ohne die­se strom­li­ni­en­för­mi­ge Ober­fläch­lich­keit, die nur so tut, als wäre da Tie­fe. Dann die­ser Ton mit einer ver­locken­den Kom­pli­zen­schaft für den Zuschau­er, der mit ihm gern auf Erkun­dung. Man ver­traut sich gern an.
Da weiß einer sehr viel zu erzäh­len und ver­steht sich auf das Ver­ste­hen und das auch noch in gro­tes­ken Begeg­nun­gen. Man spürt, wie eine Zeit auf die ande­re folgt im Sau­se­schritt. Stets sind es berei­chern­de Begeg­nun­gen und Erfah­run­gen, die sogleich ein Teil wer­den, als hät­te man es selbst erlebt. 
Trol­ler tut das, was die Mythen immer schon woll­ten: Welt­ver­trau­en schaf­fen auf der Grund­la­ge eines Under­state­ments, das es sich lei­sten kann, sich zu riskieren.
Herz­li­chen Glück­wunsch, Georg Ste­fan Troller!

Wir haben nicht nur Corona, – wir haben auch Demokratie

Was Menschen einander antun können

Es ist erstaun­lich, wie wenig ver­trau­ens­er­weckend die men­ta­len Wider­stands­kräf­te sind, wenn es um „Gesund­heit“ geht. In der Tat ist es wün­schens­wert, an Leib und See­le gesund zu sein, und ein wenig Glück dürf­te auch noch mit dabei sein. Nicht zu ver­ges­sen die Lieb­sten und Freun­de mit Nähe und Mit­ge­fühl, denn es lebt und fei­ert sich in Gemein­schaft ein­fach besser.

Aber was ist inzwi­schen aus der Nähe gewor­den? Die gan­ze Gesell­schaft fügt sich einem Medizin–Diskurs, wie ihn Michel Fou­cault nicht schlim­mer hät­te aus­ma­len können. 

Dabei hat der Glau­be an ‚die‘ Medi­zin selbst etwas Aber­gläu­bi­ges in der Erwar­tung, sie wäre „Wis­sen­schaft“ und sonst gar nichts. Alles ande­re sei dage­gen nichts wei­ter als Ket­ze­rei, eine Abwei­chung vom ein­zig wah­ren Glau­ben und zuletzt ein­fach nur Quer­den­ker­tum und Hokuspokus.

Teaser. Das Erste: Hart aber fair. Nur ja kei­nen Zwang: Ist unse­re Poli­tik beim Imp­fen zu fei­ge? 15.11.2021.

Die Welt ist aber viel kom­ple­xer, als es sich Poli­tik und Medi­zin träu­men las­sen, die sich in die­ser Kri­se zusam­men­ge­tan haben, um sich gegen­sei­tig zu stützen. 

Her­aus­ge­kom­men sind Ver­hält­nis­se, als leb­ten wir noch im 19. Jahr­hun­dert. Da gibt es eine bemer­kens­wer­te Unter­schei­dung zwi­schen Arzt und Medi­zi­ner. Letz­te­re waren damals noch Staats­be­am­te und sie stan­den zumeist im Mili­tär­dienst und so ist dann auch heu­te noch immer ihre Denkungsart. 

Mein Dok­tor­va­ter, Prof. Wil­helm Goerdt war Mit­glied der ersten Ethik–Kommission in Deutsch­land. Er hat mir berich­tet, daß es in den ersten Sit­zun­gen über den soge­nann­ten „Mün­di­gen Pati­en­ten“ ging. 

Er war ein her­vor­ra­gen­der Mode­ra­tor in Semi­nar­dis­kus­sio­nen. Man kam stets ins Schwit­zen auf der Suche nach bes­se­ren Argu­men­ten. — Er war völ­lig ent­setzt und befrem­det dar­über, daß die Medi­zi­ner gar nicht ver­stan­den oder nicht ver­ste­hen woll­ten, was wohl damit gemeint sein könn­te, wenn von „Mün­di­gen Pati­en­ten“ die Rede war. 

Nun hat sich die Poli­tik im Zuge der Corona–Krise in einen Akti­vis­mus ver­rannt. Sie hat Äng­ste geschürt und Panik ver­brei­tet. Man glaub­te, die Kri­se auf die­se Wei­se „in den Griff zu bekom­men“. Dabei ist in Wirt­schaft, in der Bil­dung und in der Zivil­ge­sell­schaft ganz erheb­li­cher Scha­den ange­rich­tet worden.

Nicht nur der Ver­lust jahr­zehn­te­lang „erspar­ter“ Steu­er­mil­li­ar­den, son­dern auch see­li­sche Schä­den bei Kin­dern, psy­chi­sche Bela­stun­gen bei jun­gen Leu­ten und vie­le, sehr vie­le ver­lo­re­ne Träu­me, um von den Trau­ma­ti­sie­run­gen gar nicht erst zu spre­chen. Der fran­zö­si­sche Prä­si­dent hat den Kriegs­zu­stand aus­ge­ru­fen und dann ist es welt­weit zu unüber­schau­ba­ren Kol­la­te­ral­schä­den gekommen.

Hin­ter alle­dem steckt ein obso­le­tes Men­schen­bild, das aus dem 19 Jahr­hun­dert stammt. In die­ser Kri­se fei­ert der Mis­an­thro­pis­mus fröh­li­che Urständ, weil sich Poli­tik und Medi­zin zusam­men­ge­tan haben. In Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie wird dage­gen seit etwa 1900 von einem völ­lig ande­ren Men­schen­bild aus­ge­gan­gen, daß der Mün­dig­keit, der Selbst­fin­dung, der Selbst­ver­ant­wor­tung, der Ent­wick­lung und der Emanzipation.

Und jetzt, wo all­mäh­lich kaum noch abzu­strei­ten ist, daß alle Maß­nah­men die ver­spro­che­ne Wie­der­kehr zur Nor­ma­li­tät ein­fach nicht bewir­ken, daß Geimpf­te nicht etwa immun, son­dern wei­ter­hin ansteckend und auch gefähr­det sind, daß vie­le der erbrach­ten Opfer eben nicht erbracht haben, was in Aus­sicht gestellt wor­den ist, jetzt wird nach den Schul­di­gen gesucht wie in einer Ket­zer­ver­fol­gung. — Aber die Ver­ant­wor­tung liegt in die­ser fata­len Koope­ra­ti­on zwi­schen Poli­tik und Medi­zin auf der Grund­la­ge eine inhu­ma­nen Menschenbildes.

Eric Clap­tons Hand­ab­drücke und sei­ne Unter­schrift auf dem Rock Walk; 9. Juli 2005, Hol­ly­wood. Foto: Nick Wil­le, via Wikimedia.

Wir haben nicht nur Coro­na, wir auch Demo­kra­tie. Die über­bor­den­den Mach­phan­ta­sien, in denen Medi­zin und Poli­tik sich erge­hen, sobald sie sich zusam­men­tun, sind päd­ago­gisch kontraindiziert.

Sie ver­un­si­chern, erzeu­gen Panik und machen krank. Die Gesell­schaft wird pola­ri­siert, nur weil der Mut fehlt, zuge­ben zu kön­nen, daß der gute Wil­le mit­un­ter die schlech­te­sten Ergeb­nis­se erzielt. 

Der Akti­vis­mus, der Steue­rungs­wahn, die Über­heb­lich­keit, mit ganz weni­gen, völ­lig fixier­ten Model­len aus­zu­kom­men, um dann zu glau­ben, eine sol­che Kri­se lie­ße sich bewäl­ti­gen mit nur ganz weni­gen Hin­sich­ten und Rück­sich­ten, ist fahrlässig.

Alle Syste­me haben inzwi­schen Scha­den genom­men. Allem vor­an das Ver­trau­en in Poli­tik, Staat, Medi­zin, Recht, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und auch in die offe­ne Gesell­schaft, die sich selbst zum Feind wird.

Ganz ent­setz­lich ist es, daß immer wie­der neue Sün­den­böcke aus­ge­ru­fen wer­den. Erst waren es die Kin­der, dann die Jugend­li­chen und jetzt sind es die Unge­impf­ten. Quer­den­ker war mal eine ehren­vol­le Bezeich­nung für sol­che, die den Mut auf­brach­ten, sich des eige­nen Ver­stan­des ohne frem­de Anlei­tung zu bedie­nen. Jetzt wird auch noch das krea­ti­ve, unkon­ven­tio­nel­le, ergeb­nis­of­fe­ne Den­ken verunglimpft.

Die Poli­tik hat sich ein­neh­men las­sen von nur ganz weni­gen Dis­zi­pli­nen, die nicht ein­mal Wis­sen­schaft sind, son­dern nur Tech­nik. — Einer Tech­nik wer­den die Zie­le vor­ge­ge­ben. Daher hät­ten ganz ande­re Zie­le gesetzt wer­den müs­sen, um mög­lichst unbe­scha­det durch die Strom­schnel­len die­ser Kri­se zu steu­ern. Aber man hat eine Ideo­lo­gie dar­aus gemacht und erwar­tet Gehor­sam, wo Ver­trau­en gar nicht vor­han­den sein kann.

Staat und Medi­zin haben allein auf­grund ihrer Geschich­te ein wirk­lich gro­ßes Ver­trau­en ein­fach nicht ver­dient. — Die­ser Staat hat die­se Gesell­schaft mehr­fach in schlimm­ste Kata­stro­phen geführt und die Medi­zin stand ihm dabei immer zur Sei­te. Es ist an der Zeit, die viel­zi­tier­te Mün­dig­keit end­lich in Anspruch zu nehme. 

Tat­säch­lich haben immer nur die Pati­en­ten das letz­te Wort, denn sie tra­gen auch alle Kon­se­quen­zen. Weil dem so ist, tra­gen sie auch die Ver­ant­wor­tung dafür, wem sie sich anver­trau­en. — Mag ein Arzt noch so über­zeugt sein von “sei­ner” The­ra­pie, wir tra­gen die Ver­ant­wor­tung uns selbst gegen­über allein und Ärz­te haben nicht das Recht, uns dann zu maßregeln.

Weil aber die­se Dis­zi­pli­nen gar nicht in der Lage sind, die Vul­nerabi­li­tät der gan­zen Gesell­schaft in den Blick zu bekom­men, stür­zen sie sich auf das, was sie mes­sen kön­nen. Aber das ist nicht das gro­ße Gan­ze. Daher ist es inzwi­schen zu exor­bi­tant hohen, auch mensch­lich kost­spie­li­gen Opfern gekom­men, die aller­dings nicht wirk­lich gehol­fen haben.

Die offe­ne Gesell­schaft neigt inzwi­schen dazu, sich selbst zu ver­let­zen. Es wür­de hel­fen, end­lich vom hohen Roß der Erre­gungs­kul­tur her­un­ter­zu­stei­gen, in der sich nicht sel­ten jene wich­tig tun, die am wenig­sten zu sagen haben. Statt­des­sen fin­det ein Rück­fall in unrühm­li­che Zei­ten statt, die zwei­mal schon zum Wel­ten­brand geführt haben.

Wer nun behaup­tet, es wäre nun wirk­lich ange­sagt, mal wie­der auf den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter zu set­zen und auf eine Hinterwelt–Pädagogik, in der Men­schen wie­der ein­ge­schüch­tert, gebro­chen und umer­zo­gen wer­den, ist ein Feind der offe­nen Gesell­schaft. Allein schon der Flirt mit tota­li­tä­ren Syste­men wie Chi­na ist ein gei­sti­ges Armutszeugnis.

55:55 Frank Plas­beck: „Darf ich mal ganz kurz einen Gedan­ken rein­brin­gen. Wir reden ja viel­leicht sogar über kind­li­che Fra­gen, wie­viel Druck braucht ein Kind, um eine Ver­hal­tens­än­de­rung zu haben. Und wenn Sie sich anschau­en, wie sich Druck aus­übt, auch jetzt stei­gen die Impf­zah­len ja wie­der…, plötz­lich, wenn man das sieht, was zuvor immer wie­der bespro­chen wor­den ist mit den Ärz­ten, in den Medi­en, dann hilft plötz­lich Druck,…

59:50 Sven­ja Flaß­pöh­ler: Mir fällt nur auf, Sie haben ein völ­lig anders Demo­kra­tie­ver­ständ­nis als ich. Sie reden von Kin­dern, auf die man Druck aus­üben muß. Sie sagen, man kann von Kin­dern ler­nen, daß, wenn man Druck auf sie aus­übt, dann ver­än­dern sie ihr Ver­hal­ten… Wenn man wirk­lich über Bür­ge­rin­nen und Bür­ger redet und sie als Kin­der bezeich­net, auf die man Druck aus­üben muß, (lacht). Also mein Demo­kra­tie­ver­ständ­nis ist sozu­sa­gen hun­dert­pro­zen­tig ein ande­res.“ Das Erste: Hart aber fair. Nur ja kei­nen Zwang: Ist unse­re Poli­tik beim Imp­fen zu fei­ge? 15.11.2021.

Die Moti­ve derer, die an die rei­ne Leh­re des Auto­ri­tä­ren glau­ben, las­sen an mit­tel­al­ter­li­che Ver­hält­nis­se den­ken — mit Pran­ger, öffent­li­cher Demü­ti­gung und Exkom­mu­ni­ka­ti­on. Aber unter denen, die sich dage­gen zu Wort mel­den, zäh­len auch bedeu­ten­de Künst­ler aus der Rock–Generation. 

Eric Clap­ton ist noch unter der Lüge auf­ge­wach­sen, sei­ne Mut­ter sei sei­ne Schwe­ster. Er ist der Erfin­der des Blues­rock, was dar­auf ver­weist, daß er sich mit der Musik der Schwar­zen zu einer Zeit befaßt hat, als noch die Apart­heit galt. Wenn er die­ser Tage deut­lich macht, er wol­le nicht, daß sein Publi­kum oder Tei­le sei­nes Publi­kums dis­kri­mi­niert wür­den, dann geschieht sei­ne poli­ti­sche Demon­stra­ti­on vor die­sem Hintergrund. 

Die Nach­kriegs­zeit brach­te einen epo­cha­len Umbruch mit sich, gegen auto­ri­tä­re, krie­ge­ri­sche, tota­li­tä­re und dis­kri­mi­nie­ren­de Ver­hält­nis­se, alles, was sei­ner­zeit noch “nor­mal” zu sein schien. Aber gera­de der Blues­rock hat die Gesell­schaft geöff­net, die Abnei­gung und den Haß über­wun­den und die Schmer­zen gelin­dert, die Skla­ve­rei, Aus­beu­tung und Dis­kri­mi­nie­rung mit sich gebracht haben. — Sol­che Wun­den zu hei­len, dazu bedarf es aller­dings noch sehr viel mehr. 

Der­zeit ten­diert der Zeit­geist dazu, repres­si­ve Ver­hält­nis­se zu prä­fe­rie­ren. Man glaubt, ein wenig mehr Dik­ta­tur könn­te sinn­voll sein. Dage­gen wer­den aber die alten Gei­ster wie­der auf­ste­hen, um zu sagen, was zu sagen ist:

Do you wan­na be a free man / Or do you wan­na be a slave? / Do you wan­na wear the­se chains / Until you’re lying in the grave?

Natür­lich wirkt der Ver­gleich der Corona–Maßnahmen mit der Skla­ve­rei ver­stö­rend. Aber es geht nicht um eine Gleichsetzung. 

So etwas läßt sich nie­mals ins Ver­hält­nis set­zen, denn dann müß­te gesagt wer­den, was denn nun mehr oder weni­ger “schlimm” war. Es kann daher nur dar­um gehen, aus der Geschich­te ernst­haft die Kon­se­quenz zu zie­hen, daß der­ar­ti­ge Ver­hält­nis­se nie wie­der zuge­las­sen werden. 

Es ist ent­setz­lich, was Men­schen ein­an­der antun kön­nen, wenn böse Gefüh­le auf­kom­men und ver­stärkt wer­den. Wer Dis­kri­mi­nie­rung erfah­ren hat, wird sie nie wie­der zulas­sen, nicht ein­mal ansatzweise. 


Geimpfte und Ungeimpfte, das gute und das böse Kind

Euge­nio Lucas Veláz­quez: Eng­lish: Auto­da­fé (1853).

Ketzereien über Ketzerverfolgungswahn

Bei Ali­ce Mil­ler, einer begna­de­ten Kin­der­psy­cho­lo­gin, gibt es den inne­ren Kampf zwi­schen dem guten und dem bösen Kind. Das eine ist eben­so des­ori­en­tiert wie das ande­re. Wäh­rend sich das eine fügt, rebel­liert das ande­re und bei­de füh­len sich selbst dabei irgend­wie „gehal­ten“.

Aber was ist denn gut an den guten Kin­dern? Man könn­te kon­sta­tie­ren, daß alle, die sich haben imp­fen las­sen, es in Erwar­tung einer damit auf­kom­men­den Nor­ma­li­tät getan haben aber doch weit weni­ger aus Grün­den der Solidarität. 

Wer sich hat imp­fen las­sen, wird sehr viel weni­ger Acht­sam­keit an den Tag legen. Aber inzwi­schen ist es ein offe­nes Geheim­nis, das der Unter­schied zwi­schen geimpft und unge­impft all­mäh­lich schwindet…

Reak­tio­nen dar­auf, daß Coro­na eine glo­ba­le Natur­ka­ta­stro­phe ist und eben­so­we­nig zu beherr­schen ist wie eine Flut, besteht dar­in, daß gan­ze Gesell­schaf­ten retar­die­ren. Gesucht wer­den Sün­den­böcke und man glaubt, sie unter Anders­den­ken­den und Unge­impf­ten gefun­den zu haben. – Allen wird letzt­lich so etwas wie ein Glau­bens­be­kennt­nis abver­langt, das Spek­trum des Sag­ba­ren ist denk­bar eng. So ent­steht eine Schwei­ge­spi­ra­le, die Hälf­te aller Deut­schen geben zu Pro­to­koll, sich nicht mehr frei­mü­tig öffent­lich zu äußern. 

Dabei war von Anfang an klar, daß alle unter Drei­ßig kaum gefähr­det sind. Aber, man woll­te ja ener­gisch etwas tun. — Aber warum hat man nicht die vul­ner­ablen Grup­pen geschützt und der Jugend die Frei­heit gelas­sen. War­um läßt man es zu, daß die Zahl der Pfle­ge­kräf­te stän­dig abge­nom­men hat?

Es ist unge­heu­er viel Geld ver­brannt wor­den, war­um hat es nicht dazu gereicht, die Ver­hält­nis­se in den Kli­ni­ken durch einem Quan­ten­sprung zu heben? – War­um ist man nach allen Maß­nah­men, Hoff­nun­gen, Aus­sich­ten, Ver­spre­chun­gen und Opfern immer wie­der genau da, wo man ange­fan­gen hat? 

Die Ver­hält­nis­se in die­ser Kri­se sind hyper­kom­plex. Es ist Hybris zu mei­nen, eine sol­che Kata­stro­phe lie­ße sich beherr­schen. Man kann geziel­te Schutz­maß­nah­men ergrei­fen, vor allem Klug­heit wäre ange­ra­ten aber kein Aktionismus. 

Das Muster ist nur zu bekannt: “So tu doch etwas! — Ja was denn tun? — Tu’ irgend­was!”. Das ist jedoch ein Armuts­zeug­nis für alle, die sich in den Glau­ben flüch­ten wie bei der Ket­zer­ver­fol­gung im Mit­tel­al­ter. Die gan­ze Stim­mung ist seit Mona­ten mittelalterlich.

Ich schrei­be seit Febru­ar 2020 an einer phi­lo­so­phi­schen Stu­die über die­se Sinn­kri­se, über das Ver­sa­gen sämt­li­cher Syste­me von Recht, Poli­tik, Medi­en und Wis­sen­schaft. Es hat sich wie­der ein­mal zeigt, was ich immer wie­der zu mei­nem Ent­set­zen beob­ach­ten muß­te: Aus­ge­rech­net dann, wenn es wirk­lich dar­auf ankä­me, gelas­sen, cool, fast kalt­blü­tig und vor allem mit sehr viel Sinn und Ver­stand dar­an zu gehen, die Per­spek­ti­ve der Ver­nunft in der Viel­falt ihrer Stim­men zur Kennt­nis zu neh­men, durch Dis­kur­se, die frei sein müs­sen und offen, immer dann ver­lie­ren die mei­sten den Kopf und die guten, ach so lie­ben Kin­der sind immer ganz vor­ne. Das hilft nicht.

Alles was da so tag­täg­lich ver­han­delt wird, hat gar nicht die Kapa­zi­tät, auf den Boden der Tat­sa­chen zu kom­men, die man zur Kennt­nis neh­men müß­te, woll­te man wirk­lich ver­ste­hen, was da gera­de von­stat­ten geht. Es ist eine unge­heu­re Kom­ple­xi­tät, die aber stets auf eines hin­aus­läuft, sie erwischt unse­re ach so rechts­staat­li­chen, wis­sen­schaft­li­chen, frei­heit­li­chen, dis­kur­si­ven und für­sorg­li­chen Ambi­tio­nen bra­chi­al. Die Moral von der Geschicht‘?

Mehr Beschei­den­heit bit­te, nicht behaup­ten zu wis­sen, was man nicht wis­sen kann. Mit dem Nicht­wis­sen arbei­ten, also nicht den gro­ßen Zam­pa­no machen. – Geschaf­fen wird statt­des­sen eine fast bür­ger­kriegs­ähn­li­che Atmo­sphä­re, ein Auto­da­fé. Ich habe einen geschätz­ten Kol­le­gen am Insti­tut, einen Ket­ten­rau­cher. Und wenn mir das mit der Suche nach den Sün­den­böcken in den Semi­na­ren zu viel wur­de, bei alle­dem schmie­ri­gen Mora­lin, dann habe ich im Brust­ton der Über­zeu­gung ver­kün­det: Alle Pro­ble­me der Mensch­heit könn­ten gelöst sein, wenn nur die Rau­cher nicht wären. – Nun ja, sie spür­ten die Iro­nie dann doch und ahn­ten, wen ich mein­te und sie sahen dann auch in die Hin­ter­grün­de die­ser Bemerkung.

Die Welt ist zu schwie­rig für gute Kin­der, die doch nur spie­len wol­len. Wann soll­te man den aus­sche­ren, wenn nicht jetzt, wo fast alle den Ver­stand ver­lie­ren? Man merkt es an den Wet­ter­vor­her­sa­gen, die Lust am Unter­gang bringt täg­lich neue Epi­so­den. Neu­lich hat sich angeb­lich ein Polar­wir­bel geteilt, war­um hier sibi­ri­sche Käl­te zu erwar­ten sei. Als ich sah, daß die Mel­dung vom Pots­dam-Insti­tut lan­ciert wor­den war, kurz vor der Kli­ma­kon­fe­renz, dach­te ich über die Bere­chen­bar­keit von Akteu­ren, die Kam­pa­gnen und Wis­sen­schaft seit Jahr­zehn­ten nicht mehr auseinanderhalten.

Es ist per­fi­de, den Leu­ten mit gro­ßer Käl­te zu kom­men, das Anschwel­len der Küsten­li­ni­en ver­bin­den vie­le ja doch mit Süd­see­fee­lings. – Dann wur­de ich auch noch auf die­se Mel­dung auf­merk­sam gemacht, weil bad News nun­mal good News sind. Bis mir die Hut­schnur riß, ich habe dann ein­fach nach­ge­schaut, was denn Jörg Kachelm­ann, der sich immer so schön auf­re­gen kann über die­sen Bock­mist sagen wür­de. – Und rich­tig! Er schlug auf den “Spie­gel” ein und kon­sta­tiert, man wüß­te über­haupt nichts von die­sem Polar­wir­bel und daß es wohl nur um die Mel­dung ginge.

Nicht, daß es nicht noch eine Stei­ge­rung gäbe: 

„Der Ablauf eines Inqui­si­ti­ons­pro­zes­ses war weder für den Ange­klag­ten noch für sei­ne Ange­hö­ri­gen durch­schau­bar. Wäh­rend der Ver­neh­mun­gen wur­den den Ver­däch­ti­gen ein­zel­ne Ver­hal­tens­wei­sen vor­ge­wor­fen, die u.U. für sich allein gese­hen kei­ne Abwei­chun­gen von der kirch­li­chen Leh­re dar­stel­len mußten.

Die­se Taten konn­ten dann von den Ange­klag­ten ent­we­der zurück­ge­wie­sen oder zuge­ge­ben und bereut wer­den. Wel­che Schlüs­se von Sei­ten des Gerich­tes dar­aus gezo­gen wur­den, war nicht ersicht­lich. Der Pro­zeß fand nicht als zusam­men­hän­gen­de Ver­hand­lung mit der Anwe­sen­heit der Betei­lig­ten oder wenig­stens der mit der Urteils­fin­dung Betrau­ten statt. Die Dau­er des Ver­fah­rens gab kei­nen Hin­weis auf die Bedeu­tung der Ange­le­gen­heit. Das alles führ­te dazu, daß die Ange­klag­ten bis zum Tag des Auto­da­fés kei­ner­lei Schlüs­se auf den Aus­gang des Ver­fah­rens zie­hen konnten. …

Die mil­de­ste Art der Sank­ti­on des Ver­hal­tens der Ange­klag­ten durch das Inqui­si­ti­ons­ge­richt war das Abschwö­ren. Bei ein­fa­che­ren Ver­ge­hen muß­te dies nicht in der Öffent­lich­keit gesche­hen, son­dern konn­te im Gerichts­saal vor dem Tri­bu­nal durch­ge­führt wer­den. Bei schwer­wie­gen­den Fäl­len fand auch das Abschwö­ren wäh­rend einer öffent­li­chen Urteils­ver­kün­dung statt.

Das Abschwö­ren war gewöhn­lich mit Neben­stra­fen ver­bun­den. Dies waren Geld­bu­ßen, die Ver­pflich­tung, den San­be­ni­to in der Öffent­lich­keit zu tra­gen, oder die Ver­ban­nung.“ („Auto­da­fé“, Wikipedia)


Technikethik

Tech­nik­ethik:

Tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen kon­tro­vers reflektieren

Kolloquium 

WS 2021 | don­ners­tags | 14:00–15:30 | Online
Beginn: 28. Okt. 2021 | Ende: 10. Febr. 2022

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Von Ver­ant­wor­tung ist immer wie­der die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles ande­re als ver­trau­ens­er­weckend. Der gute Wil­le allein genügt nicht. Zu unter­schei­den sind min­de­stens das Sub­jekt der Ver­ant­wor­tung, der Ver­ant­wor­tungs­be­reich und die Ver­ant­wor­tungs­in­stanz, (ehe­dem Gott und jetzt?).

Es gilt näher hin­zu­se­hen, wenn wir Fra­gen der Ver­ant­wor­tung ange­hen wol­len, denn der Begriff ist mehr­di­men­sio­nal. Der Karls­ru­her Tech­nik­phi­lo­soph Gün­ter Ropohl hat das Gan­ze auf eine For­mel mit sie­ben Varia­blen gebracht: Wer ver­ant­wor­tet was, wofür, wes­we­gen, wovor, wann, wie? Wir müs­sen doch nicht alles machen, was wir kön­nen. Wie weit geht ihre (per­sön­li­che) Ver­ant­wor­tung wirklich?

Die­ses Kol­lo­qui­um soll Fra­gen der Tech­nik­ethik prak­tisch erfahr­bar machen. Das wird anhand von Fall­stu­di­en aus ihren eige­nen zukünf­ti­gen Berufs­fel­dern gesche­hen, die sich aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven dis­ku­tie­ren las­sen. Dabei kommt es weni­ger auf das Ergeb­nis an, son­dern auf die Qua­li­tät und den Aus­tausch der vor­ge­brach­ten Argumente.

Betrei­ben wir also Tech­nik­ethik ganz kon­kret. Neh­men wir uns rea­le Situa­tio­nen vor: sei­en es der Abgas­skan­dal, Stel­lung­nah­men zum Ein­satz von Gen­ma­ni­pu­la­ti­on, der Ein­sturz der Brücke in Genua, Unfäl­le im Rah­men von Fahr­ten mit auto­no­men Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmit­tel­bar dabei und hät­ten etwas zu sagen. Insze­nie­ren wir die Kon­tro­ver­sen, in denen Tech­nik­li­ni­en gestal­tet wer­den, um sie am eige­nen Leib zu
erfah­ren. Die Ver­an­stal­tung soll Ihnen dazu die­nen, Erfah­run­gen zu machen, die spä­ter womög­lich auf Sie zukom­men. Es ist dann fast wie ein Pri­vi­leg, sich spä­ter dar­an zurück­er­in­nern zu kön­nen, so etwas Ähn­li­ches schon ein­mal durch­ge­spielt zu haben.

Nein, wir müs­sen es nicht.
Aber?
Aber wir wer­den es machen.
Und wes­halb?
Weil wir nicht ertra­gen, wenn der klein­ste Zwei­fel bleibt,
ob wir es wirk­lich können.

(Hans Blu­men­berg)

Dirck van Babu­ren: Pro­me­theus wird von Vul­kan ange­ket­tet (1623). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia. — Pro­me­theus, der Gott des Fort­schritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Auf­sicht des Göt­ter­bo­ten Her­mes, vom Gott der Tech­nik Vul­kan an einen Fel­sen im Kau­ka­sus geschmie­det. Sein Ver­ge­hen: Er hat aus Men­schen­lie­be die Tech­nik zu den Men­schen gebracht. Die­se soll­ten dar­auf den Fort­schritt eini­ge Jahr­tau­sen­de nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Die Zei­ten sind vor­bei, als Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen fast jede wei­te­re Ver­ant­wor­tung noch zurück­wie­sen mit den Wor­ten, sie wür­den die Tech­nik nur her­stel­len, sei­en aber nicht ver­ant­wort­lich dafür, was dar­aus wür­de. — Aber machen wir uns nichts vor, Ver­su­che, den tech­ni­schen Fort­schritt auf ›bes­se­re‹ Bah­nen zu len­ken, gab es vie­le. Unver­ges­sen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der ver­selb­stän­dig­ten Wis­sen­schaf­ten die Rol­le einer Fahr­rad­brem­se am Inter­con­ti­nen­tal Flugzeug. 

For­de­run­gen nach Ethik, Ver­ant­wor­tung, Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, nach­hal­ti­gem Wachs­tum und Kil­ma­schutz wer­den tag­täg­lich erho­ben und sind nicht unpro­ble­ma­tisch, denn es ist auch Über­for­de­rung im Spiel. Wofür sind wir als Ein­zel­ne ver­ant­wort­lich und wie soll denn die Gesamt­ver­ant­wor­tung wahr­ge­nom­men wer­den? All­mäh­lich wird es Zeit. Wer gibt die Tech­nik­zie­le vor oder gene­rie­ren sie sich selbst? 

Was vie­le Ver­schwö­rungs­theo­rien noch unter­stel­len: Es gibt sie nicht, die Schalt­zen­tra­len der Macht, in denen die Zie­le des Fort­schritts vor­ge­ge­ben, der Kurs ein­ge­stellt und die Ent­wick­lun­gen koor­di­niert wer­den. Zwei­fels­oh­ne spie­len Tech­nik und Wirt­schaft eine gro­ße Rol­le, aber auch Poli­tik und Kultur.

Der blaue Pla­net ist zur Anthro­po­sphä­re gewor­den. Inzwi­schen wur­de bereits ein neu­es Erd­zeit­al­ter aus­ge­ru­fen, das Anthro­po­zän. Die Zivi­li­sa­ti­on ist nun­mehr alles ent­schei­dend für das Schick­sal des gan­zen Pla­ne­ten und die Zukunft der Mensch­heit. Die Erde ist zum Raum­schiff gewor­den. Wir rasen durch einen lebens­feind­li­chen Raum, hin­ter uns eine erst kur­ze Epi­so­de der Zivi­li­sa­ti­on und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kol­li­si­ons­kurs geht.

Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navi­ga­ti­on vor­ge­nom­men wird, wenn wir dort­hin­ein gelan­gen könn­ten, es wäre der Schock unse­res Lebens. Denn die Pilo­ten­kan­zel ist leer, alles steht auf Auto­pi­lot und nie­mand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steu­ern. Dabei ist das Gan­ze kei­nes­wegs nur eine Fra­ge der Tech­nik, son­dern auch eine von Poli­tik, Wirt­schaft, Recht, Kul­tur, Wis­sen­schaft und vie­lem ande­ren mehr.

Jan Cos­siers: Car­ry­ing Fire (ca. 1630). Pro­me­theus stiehlt das Feu­er aus der Werk­statt des Vul­kan. Es ist nicht das Herd­feu­er, das hat­ten die Men­schen schon sehr lang. Es ist das Metall­ur­gen­feu­er, womit die Bron­ze­zeit begann und
dann auch die Zivi­li­sa­ti­on. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Daher genügt es längst nicht mehr, ein­fach nur ›gute‹ Tech­nik zu machen, Pro­ble­me prag­ma­tisch zu lösen, im Sin­ne des ›sta­te of the art‹ zu ent­wickeln, Nor­men und Vor­schrif­ten ein­zu­hal­ten usw. usf. — Dar­über hin­aus stellt sich vor allem auch die Fra­ge, wie weit denn die per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung rei­chen soll. Es ist nicht allein die Tech­nik, die den Fort­schritt bestimmt, es sind vie­le ver­schie­de­nen Fak­to­ren, die eine Rol­le spie­len. — Die Rol­len im Mythos vom Pro­me­theus, der den tech­ni­schen Fort­schritt zur Dar­stel­lung bringt, las­sen die Zusam­men­hän­ge erahnen. 

Da ist der Men­schen­freund Pro­me­theus, der mit besten Absich­ten die Ent­wick­lung anfacht, aber eigent­lich nicht sehr glück­lich agiert. Da ist Vul­kan, der Tech­ni­ker, der alles tut, was ihm auf­ge­tra­gen wird. Er murrt zwar, als er den geschätz­ten Kol­le­gen anket­ten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zur Mensch­heit hat und daher hin und her­ge­ris­sen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athe­ne, die Göt­tin der Weis­heit, die den neu­en Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen eine See­le ein­haucht. Sie spen­det auch die Wis­sen­schaft und die Ver­nunft. Außer­dem ist da noch Pan­do­ra, die mit allen Gaben Beschenk­te, die die Gaben der abdan­ken­den Göt­ter zu den Men­schen bringt, aber eben auch die damit ver­bun­de­nen Übel. Und da ist noch Epi­me­theus, ein Melan­cho­li­ker, der sich in Pan­do­ra ver­liebt. — Das dürf­te genü­gen, die ver­schie­de­nen Sei­ten und Inter­es­sen zu cha­rak­te­ri­sie­ren, die dafür sor­gen, daß der Fort­schritt eben einen bestimm­ten Gang nimmt.

Als der Mün­che­ner Sozio­lo­gie Ulrich Beck im Jah­re 1958 den Ein­tritt in die Risi­ko­ge­sell­schaft dia­gno­sti­zier­te, sah er den technisch–ökonomischen Fort­schritt über­la­gert von immer grö­ße­ren, unge­plan­ten Neben­fol­gen, grenz­über­schrei­ten­den Umwelt­pro­ble­men und glo­ba­len Fol­gen Es gibt inzwi­schen einen Grad an Kom­ple­xi­tät, der sich nicht mehr steu­ern oder gar beherr­schen läßt. Eigent­lich müß­ten alle unse­re Inno­va­tio­nen unter­halb die­ser Schwel­le blei­ben, aber das Gegen­teil ist der Fall. Also wofür sind Tech­ni­ker, Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen wirk­lich ver­ant­wort­lich? Wel­cher Teil der Ver­ant­wor­tung fällt ande­ren zu?

Har­ry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wur­de von Vul­kan eine Frau erschaf­fen, mit allen Gaben der Göt­ter aus­ge­stat­tet und von Her­mes zu den Men­schen gebracht. Sie brach­te jedoch nicht nur die Fähig­kei­ten der Göt­ter, son­dern auch die damit ver­bun­de­nen Übel auf die Erde. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Es ist kei­ne unpro­ble­ma­ti­sche Ent­wick­lung, daß in den letz­ten Jahr­zehn­ten immer mehr Ver­ant­wor­tung auf Ein­zel­ne über­tra­gen wur­de, wäh­rend die Gesamt­ver­ant­wor­tung sich immer wei­ter ver­flüch­tigt. Wer ver­ant­wort­lich sein soll, muß gestal­ten, muß auch anders ent­schei­den kön­nen, erst dann kann Ver­ant­wor­tung zuge­schrie­ben wer­den. — Inso­fern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz prak­tisch umge­gan­gen wer­den kann, ist das ande­re. Sich ver­ant­wort­lich zu füh­len für Ver­hält­nis­se, die nicht in der eige­nen Macht ste­hen, ist daher nicht unpro­ble­ma­tisch. Wer Ver­ant­wor­tung über­nimmt, muß ›Nein sagen‹ kön­nen oder ›So nicht!‹.

In die­sem Semi­nar sol­len sol­che Kon­flik­te in Wert­fra­gen, Ziel­kon­flik­ten und der mora­li­schen Inte­gri­tät durch­ge­spielt wer­den. Das geschieht anhand von Bei­spie­len ein­schlä­gi­ger Dilemma–Situationen. Mit­un­ter sind die Rah­men­be­din­gun­gen schon pro­ble­ma­tisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedin­gun­gen schlech­ter Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hält­nis­se und aus Sor­ge um die eige­ne Repu­ta­ti­on fach­lich kom­pe­tent und mora­lisch inte­ger zu han­deln. Dazu bedarf es eini­ger Erfah­run­gen, die genau­so wich­tig sind wie das gan­ze tech­ni­sche Know–how.

Dazu hat der Kon­stan­zer Phi­lo­soph und Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker Jür­gen Mit­tel­straß eine hilf­rei­che Unter­schei­dung geprägt: Zum tech­ni­schen Ver­fü­gungs­wis­sen gehört auch ein eben­so wich­ti­ges Ori­en­tie­rungs­wis­sen. Das eine sagt uns wie, das ande­re aber wozu. — Mit­un­ter gera­ten aber das Wie und das Wozu in Wider­sprü­che. Die Tech­nik­ge­schich­te ist voll sol­cher Bei­spie­le, wo erst sehr viel spä­ter sich Neben­fol­gen mit kolos­sa­len Wir­kun­gen zei­gen, bis sie end­lich wahr­ge­nom­men und the­ma­ti­siert werden.

Und natür­lich stellt sich immer wie­der die Fra­ge, ob es nicht doch eine ›bes­se­re‹ Tech­nik gibt, eine, die von vorn­her­ein weni­ger Neben­fol­gen hat. Tech­ni­ku­to­pien sind daher eine wich­ti­ge Ori­en­tie­rungs­hil­fe, vor allem dann, wenn kri­tisch damit umge­gan­gen wird. Wesent­lich ist es, die ver­schie­de­nen Aspek­te erör­tern zu kön­nen und nicht zuletzt, ande­re zu über­zeu­gen. Dazu ist kri­ti­sches Den­ken erfor­der­lich. Daher geht es um die ethi­sche, poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Ver­ant­wor­tung im Inge­nieur­we­sen. Erst das macht ›gute‹ Tech­nik mög­lich, ein ›gutes‹ Gewis­sen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

Band­icoot Robot: Con­ver­ting man­ho­le to robo­ho­le (2018). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.


Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft, Identität

Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft, Identität

Vom Clan zum globalen Dorf: Emanzipation ist Selbstorientierung

Phi­lo­so­phie moti­viert den Mut, durch Selbst­ori­en­tie­rung über sich selbst hin­aus­zu­wach­sen, sich immer wei­ter zu eman­zi­pie­ren von jeder Fremd­be­stim­mung durch Natur, Clan­g­eist, Gemein­schaft oder Gesell­schaft, bis hin zum Staat, der auch nicht unbe­ding­ten Gehor­sam ver­dient, all­zu­mal, wenn die­ser not­wen­di­gen Ent­wick­lun­gen im Wege steht. Phi­lo­so­phie ist wie ein guter Geist in fin­ste­ren Zei­ten, der Zuver­sicht ver­mit­telt, in der Eman­zi­pa­ti­on, der Indi­vi­dua­ti­on, der Selbst­ori­en­tie­rung und im Wunsch nach einer Glück­se­lig­keit, die es mit der der Göt­ter auf­neh­men kann.

Flamma­ri­on. Holz­stich eines unbe­kann­ten Künst­lers. In: Camil­le Flamma­ri­on: Die Atmo­sphä­re. Popu­lä­re Meteo­ro­lo­gie; Paris 1888. S. 163. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Phi­lo­so­phie muß nach­voll­zieh­bar sein, sie soll­te sich daher in aller Offen­heit ent­wickeln. Wir kön­nen Ver­nunft nicht besit­zen, wir kön­nen uns nur bemü­hen, ‘ver­nünf­tig zu wer­den’, indem wir uns auf Dia­lo­ge und Dis­kur­se ein­las­sen, in denen die Rat­schlüs­se der Ver­nunft erst zustan­de gebracht wer­den müs­sen. Es geht um das ent­schei­den­de Ori­en­tie­rungs­wis­sen, und wo das nicht hin­rei­chend ist, sind Dis­kur­se über Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung erforderlich.

Selbst­wer­dung, Selbst­ori­en­tie­rung steht auf dem Pro­gramm. Das kann nicht nur, das muß stets indi­vi­du­ell von­stat­ten gehen. Nicht von unge­fähr wird jede Phi­lo­so­phie arg­wöh­nisch betrach­tet, vor allem, wenn sie sich anschickt, ihren Kopf durch die Wol­ken­decke der vor­ge­ge­be­nen Welt­ord­nung zu stecken.

Im Ver­lauf der Anthro­po­ge­ne­se, der Kul­tur– und der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te, läßt sich eine Ten­denz von der Hete­ro­no­mie zur Auto­no­mie beob­ach­ten. Mit neu­en Tech­ni­ken kom­men neue Lebens­wei­sen auf und mit ihnen neue Göt­ter und neue Anschau­ungs­for­men. Was zuvor aus­ge­schlos­sen schien, wird mög­lich, was zuvor üblich war, kann schnell obso­let werden.

Es ver­steht sich, daß jeder Wand­lungs­pro­zeß immer Ver­lie­rer und Gewin­ner erzeugt. Eta­blier­te Auto­ri­tä­ten kön­nen fast über Nacht eine zuvor noch unum­strit­te­ne Aner­ken­nung ein­bü­ßen. Neue Leit­bil­der ent­ste­hen, die stets an den Bruch­li­ni­en zwi­schen Gemein­schaft und Gesell­schaft ver­lau­fen, aber auch an denen zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft. Gera­de mit dem Indi­vi­dua­lis­mus, der all­mäh­lich in den Städ­ten auf­kommt, gehen immense sub­jek­ti­ve und inter­sub­jek­ti­ve Bela­stun­gen einher.

Mit jeder neu­en Zeit betre­ten neue Göt­ter und Prie­ster­schaf­ten die Büh­ne der Kul­tur­ge­schich­te: Das war so, als die Schrift erfun­den wur­de und neue Göt­ter auf­ka­men, die im Buch des Lebens lesen und zu Gericht sit­zen soll­ten, doch vor allem, um die Ver­hält­nis­se in den neu­en urba­nen Wel­ten zu stabilisieren.

Im Ver­hält­nis zur tie­ri­schen Her­kunft liegt das Geheim­nis des Mensch­seins dar­in, daß wir mit­hil­fe von Spra­che und Kul­tur all­mäh­lich alle erdenk­li­chen Erfah­run­gen, die ein­zel­ne Men­schen jemals gemacht haben, mit­ein­an­der tei­len, nach­voll­zie­hen und uns leib­haf­tig aneig­nen kön­nen. Zivi­li­sa­ti­on stei­gert die Pro­zes­se der Erfah­rung von Erfah­run­gen um ein Viel­fa­ches. Das ver­schafft sehr viel mehr Lebens- und Aus­drucks­mög­lich­kei­ten, es erzeugt zugleich aber auch sehr viel mehr Unsi­cher­heit. Inso­fern ist Zivi­li­sa­ti­on wie ein Joker, alles Ler­nen, jede Erfah­rung, Ein­sich­ten, Erkennt­nis­se und Impres­sio­nen zählt plötz­lich sehr viel mehr, weil, wenn und sobald wir sie mit­tei­len, also mit ande­ren tei­len können.

Tho­mas Cole: The Cour­se of Empire. Third Epi­so­de: The Con­sum­ma­ti­on of Empire. 1835/6, New–York, Histo­ri­cal Socie­ty. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Der Staat muß alle die­se Koexi­sten­zen gewähr­lei­sten, und er wird kol­la­bie­ren, wenn es ihm nicht gelingt, eine Viel­falt von Gemein­schaf­ten in und mit ihren Inter­es­sen dau­er­haft mit­ein­an­der zu ver­ge­sell­schaf­ten. Der Staat kann zwar nicht wis­sen, was die Gesell­schaft umtreibt, aber es ist sei­ne Auf­ga­be, ihr zu die­nen und nicht über sie zu herr­schen. Ihm fehlt schlicht­weg die Phan­ta­sie, auch nur annä­hernd beur­tei­len zu kön­nen, was gera­de gesell­schaft­lich von Bedeu­tung ist, war­um und wozu.

In die­sem Kon­text spie­len neue Über­wa­chungs– und Spio­na­ge­mög­lich­kei­ten, ins­be­son­de­re der Ein­satz von Künst­li­cher Intel­li­genz eine weg­wei­sen­de Rol­le. Auf der Agen­da der Welt­ge­schich­te steht die Alter­na­ti­ve: Ent­we­der Tota­li­ta­ris­mus oder Demo­kra­tie, ent­we­der Mis­an­thro­pis­mus oder Humanismus.

Der­zeit schlit­tern nicht weni­ge auch west­li­che Staa­ten auf den Weg in die umfas­sen­de Über­wa­chung des Öffent­li­chen Raums und aller sozia­len Net­ze. Nie war die Gele­gen­heit so greif­bar, göt­ter­gleich alles zu sehen, zu wis­sen und zu deu­ten, um damit zu machen, was auch immer irgend­wel­chen Macht­ha­bern gefällt, wenn, wo und solan­ge sie nicht durch rechts­staat­li­che Siche­run­gen, Ver­fas­sun­gen und Gerich­te davon abge­hal­ten werden.

Man­che den­ken auch dar­an, den Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on zu stop­pen und die gan­ze Ent­wick­lung mehr oder min­der wie­der umzu­keh­ren oder sie ein­zu­frie­ren wie die Ami­schen, eine täuferisch–protestantische Glau­bens­ge­mein­schaft, die den Fort­schritt still­ge­stellt haben kurz vor Ein­füh­rung von Auto und Elektromotor.

Tho­mas Cole: The Cour­se of Empire. Fourth Epi­so­de: Des­truc­tion (1836). New–York, Histo­ri­cal Socie­ty. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Tat­säch­lich sind Ver­lu­ste zu ver­zeich­nen, die im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on mit auf­ge­kom­men sind, wovon eini­ge äußerst schmerz­haft sind. Eigent­lich ent­spricht es dem Wesen jener Kul­tu­ren, die vor jeder Zivi­li­sa­ti­on ihren Bestand hat­ten, Geschich­te als sol­che erst gar nicht auf­kom­men zu las­sen. – Also wur­de jede Dyna­mik ver­hin­dert, kein Ungleich­ge­wicht soll­te auf­kom­men und wo doch, dort wur­de alles unmit­tel­bar wie­der aus­ge­gli­chen durch Opfer, die das Errun­ge­ne gleich wie­der neu­tra­li­sier­ten, auf daß kei­ne ‘Geschich­te’ in Gang kom­men kann.

Nach dem Bruch mit dem Geist geschichts­lo­ser Kul­tur sind immer wie­der Ver­su­che dazu gemacht wor­den und eben­so oft sind sie geschei­tert. Offen­bar gelingt es spä­ter nicht mehr, aus der Dyna­mik aus­zu­stei­gen, um wie­der ein alles umgrei­fen­des gei­sti­ges umgrei­fen­des Gleich­ge­wicht zu schaf­fen und in einer Kul­tur als geleb­tes Leben zu etablieren.

Uto­pien spie­len mit die­sen Visio­nen, sie spe­ku­lie­ren wie Sisy­phus dar­auf, daß es >ein­mal< doch gelin­gen kann. – Sobald es aber wirk­lich ernst­haft ver­sucht wor­den ist, Uto­pien in die Tat umzu­set­zen, bleibt davon oft nur schlech­ter Utopismus.

Aus der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te zu ler­nen bedeu­tet viel, u.a. zu wis­sen, daß es nicht gelin­gen kann, nach mit­tel­al­ter­li­chem Muster die Gesell­schaft in eine Zwangs­ge­mein­schaft zu ver­wan­deln. Dif­fe­ren­zen las­sen sich weder reli­gi­ös noch ideo­lo­gisch ein­fach ver­bie­ten. Die ein­zi­ge Mög­lich­keit den Geist einer alles umgrei­fen­den huma­nen Kul­tur auf­kom­men zu las­sen, wäre die einer huma­nen Demo­kra­tie, in der Par­ti­zi­pa­ti­on gelebt wird.

Con­chi­ta Wurst für Öster­reich mit dem Lied „Rise Like a Phoe­nix“ bei der er- sten Kostüm­pro­be für das Fina­le des Euro­vi­si­on Song Con­test 2014 Kopen- hagen. — Quel­le: Albin Ols­son, Eige­nes Werk, CC BY-SA 3.0, Public Domain via Wikimedia.

Im Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se kommt ganz all­mäh­lich immer mehr Indi­vi­dua­li­tät auf. Zunächst lang­sam, dann immer schnel­ler wird eine histo­ri­sche Dyna­mik ent­facht, die sich inzwi­schen selbst per­p­etu­iert. — Von Epo­che zu Epo­che wer­den immer neue Ansprü­che auf per­sön­li­chen Aus­druck immer radi­ka­ler gel­tend gemacht, gegen Staat, Gesell­schaft und Gemein­schaft. Erst die­se Dif­fe­ren­zen brin­gen die Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te in Gang. Sie gene­rie­ren die Dyna­mik der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te und beschleu­ni­gen die Wand­lungs­pro­zes­se inzwi­schen immer mehr.

Gegen­wär­tig brin­gen Debat­ten über indi­vi­dua­li­sti­sche, sin­gu­lä­re Iden­ti­tä­ten zusätz­li­che Irri­ta­tio­nen mit sich und lösen einen wei­te­ren Schub der Indi­vi­dua­li­sie­rung aus. — Nach­dem die binä­re Dif­fe­ren­zie­rung, ent­we­der weib­lich oder aber männ­lich ›sein‹ zu müs­sen, immer wei­ter dekon­stru­iert wur­de, wer­den ver­schie­de­ne Aspek­te des Männ­li­chen und Weib­li­chen belie­big mit­ein­an­der kom­bi­nier­bar. Zugleich steigt damit aber auch die all­ge­mei­ne Verunsicherung.

Es geht inzwi­schen nicht mehr nur um Indi­vi­dua­li­tät, son­dern immer mehr auch um die Selbst­in­sze­nie­rung der eige­nen Sin­gu­la­ri­tät und dar­um, gegen Staat, Gesell­schaft und Gemein­schaft ganz neu moti­vier­te For­de­run­gen auf Ach­tung, Aner­ken­nung und Schutz gel­tend zu machen. — Auch die Indi­vi­dua­li­sie­rung kommt im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on auf, sie ist das eigent­li­che Movens. Die Lebens­ver­hält­nis­se wan­deln sich, also läßt sich auch die gan­ze Selbst­ori­en­tie­rung ver­än­dern. Nach die­sem Meta­prin­zip bricht jede Indi­vi­dua­ti­on mit ›alt­ehr­wür­di­gen‹ Traditionen.

Zugleich kommt all­ge­mei­ne Ver­un­si­che­rung auf, weil immer auch Erwar­tungs­si­cher­hei­ten dar­über ver­lo­ren gehen und immer mehr Ambi­va­len­zen und Ambi­gui­tä­ten spür­bar wer­den. Gera­de die ganz neu­en Frei­hei­ten, Indi­vi­dua­li­sie­run­gen und Sin­gu­la­ri­tä­ten haben einen beson­ders hohen Preis, weil zusätz­li­che psy­chi­sche aber auch sozia­le Bela­stun­gen damit aufkommen.

Jede neue Frei­heit geht mit Frei­heits­schmer­zen ein­her. Sich etwas davon ›her­aus­zu­neh­men‹, damit Irri­ta­tio­nen aus­zu­lö­sen und womög­lich auch Zorn auf sich zu zie­hen, ist das eine. Neue und ande­re Maß­stä­be aber auf Dau­er zu leben, ist etwas ganz ande­res. — Indi­vi­dua­ti­on ist das trei­ben­de Moment, das den Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on zunächst über­haupt erst in Gang gebracht hat und ihn seit­her durch immer neue Span­nun­gen und Wider­sprü­che immer schnel­ler über sich hinaustreibt.


Welche Werte zählen nach Corona

Unter Coro­na wur­de „Nähe“ para­dox: Zuvor hieß es immer­zu, man sol­le sich berüh­ren las­sen, Nähe zulas­sen und dann kamen die Mas­ken und das Abstandhalten.

Das hat viel aus­ge­löst: Alte Wer­te gehen unter, ande­re tre­ten auf. Inne­re Wer­te wer­den wich­ti­ger, Äußer­lich­kei­ten gera­ten ins Hin­ter­tref­fen. Es fehl­ten ech­te und tie­fe Begeg­nun­gen, in denen Gefüh­le tat­säch­lich mit­ge­teilt wer­den. Die Coro­na-Kri­se hat vie­le Äng­ste, Zwei­fel, Sor­gen und Nöte bewußt gemacht, die bis­lang ver­drängt wurden.

Die Coro­na-Kri­se hat eine inne­re Ein­kehr erzwun­gen, die selbst zum Pro­blem wur­de. Vie­le möch­ten, wol­len und kön­nen sich mit dem eige­nen Selbst aber nicht aus­ein­an­der­set­zen. Dann kämen Fra­gen auf, die boden­los schei­nen, obwohl sie es eigent­lich nicht sind. – Albert Camus spricht von „Selbst­mord“, ohne sich tat­säch­lich umzu­brin­gen. Das Auf­ge­hen in per­ma­nen­ter Sor­ge ist ein sol­cher Fall, sich durch Selbst­über­for­de­rung per­ma­nent abzu­len­ken vom eige­nen Selbst.

Vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen schil­dern die­ses Wag­nis, sich tat­säch­lich auf die ima­gi­nä­re Rei­se zu bege­ben, um dem eige­nen Selbst zu begeg­nen. Es gilt, sich wirk­lich mit dem dunk­len Selbst aus­ein­an­der­zu­set­zen und sich nicht abzu­len­ken von dem, was unse­re eigent­li­che Auf­ga­be wäre, unse­re inne­ren Wer­te zu suchen, zu fin­den und zu entfalten.

Woher stam­men eigent­lich die eige­nen Wer­te? Wir glau­ben zu wis­sen, wie eine roman­ti­sche Begeg­nung aus­zu­se­hen hat und insze­nie­ren sie nur. Wir glau­ben zu wis­sen, wie ein Kuß aus­schau­en muß, um als Aus­druck von Zunei­gung, Lie­be oder Begeh­ren zu gel­ten. Immer­zu geht es nur um die Insze­nie­rung von etwas, das erstre­bens­wert scheint.

Das zur Spra­che zu brin­gen, habe ich mir theo­re­tisch und prak­tisch zur Auf­ga­be gemacht in einer Kom­bi­na­ti­on, die ich als phi­lo­so­phi­sche Psy­cho­lo­gie betreibe.


Worauf es wirklich ankommt.

Vortrag: Bildungshaus Batschuns, Österreich, 11.06.2021

In einer Kri­se zeigt sich, wer wir sind und wor­auf wir uns wirk­lich ver­las­sen kön­nen und wie sta­bil die Ver­hält­nis­se wirk­lich sind. Ob wir es wol­len oder nicht: Kri­sen sind Bewäh­rungs­pro­ben, dann zeigt sich, ob wir uns anpas­sen, ver­än­dern oder viel­leicht sogar über uns hin­aus­wach­sen können.

Reden stärkt, vor allem Ver­ste­hen. Angst schwächt, eben­so wie Hetz­kam­pa­gnen, das alles ver­wirrt und schmä­lert die Kräf­te. – Neue Stär­ken ent­ste­hen, sobald wir läh­men­de Äng­ste behut­sam überwinden.

Eine Kri­se kann vor­über­ge­hend sein, im psy­cho­lo­gi­schen Sin­ne sind Kri­sen jedoch nur der Anfang umfas­sen­der Wand­lungs­pro­zes­se. – In Mär­chen und Mythen macht die Kri­se den Anfang, dann folgt zunächst die Kathar­sis und dar­auf die Transformation.

Vor allem für die Päd­ago­gik zei­gen die Erfah­run­gen der letz­ten 15 Mona­te, daß die Welt von Men­schen gemacht und zu ver­ant­wor­ten ist. Auch die Men­schen­bil­der, die Unkul­tur öffent­li­cher Debat­ten, der Rück­fall in fast reli­giö­se Äng­ste, das alles gibt zu denken.

Die­se Welt, so wie sie ist, hat kei­ne Zukunft. Dabei ist die Kli­ma­fra­ge nur wie die Spit­ze eines Eis­bergs. Wich­tig wäre es, end­lich auch in der Poli­tik ein posi­ti­ves Men­schen­bild an den Tag zu legen, wie es in Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie schon seit den 70er Jah­ren üblich ist. Staat, Poli­tik und Behör­den gehen aber immer noch vom Obrig­keits­staat aus, wenn sie mei­nen, mün­di­ge Men­schen vor sich selbst schüt­zen zu müssen.

Das Bild vom Guten Hir­ten und sei­ner Her­de ist obso­let, es soll­te den vie­len Auto­kra­ten über­las­sen wer­den. Der in der Coro­na-Kri­se erstark­te Staat wird blei­ben. Daher müs­sen die Gegen­ge­wich­te gestärkt wer­den, also brau­chen wir mehr Demo­kra­tie und mehr Gerichts­hö­fe, an denen sich Staat und Poli­tik recht­fer­ti­gen müssen.

Das wird aber alles nicht rei­chen, wenn man bedenkt, was eigent­lich alles inzwi­schen zur Nei­ge geht. Aller­dings war die Zivi­li­sa­ti­on, seit sie vor 12.000 Jah­ren ent­stand, immer schon eine insta­bi­le Angelegenheit.

Vor allem jene Ent­wick­lun­gen, auf die Päd­ago­gik, Psy­cho­lo­gie und Phi­lo­so­phie beson­ders Wert legen, sind über­haupt nicht mit­ge­kom­men. – Das Feh­len­de nach­zu­ho­len ist und bleibt eine Auf­ga­be, in der es vor allem sehr viel sehr pro­fes­sio­nel­le Päd­ago­gik braucht. Schließ­lich ist jeder Mensch ein­zig­ar­tig, dar­in lie­gen Hoff­nun­gen, nur nie­man­den zu verlieren.