Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Diskurs

Mythen der Liebe

Die Veranstaltung findet vorerst online statt

Oberseminar: Mythen der Liebe

SS 2020 | donnerstags | 11:30–13:00 Uhr | Raum 30.91–110

Beginn: 23. April 2020 | Ende: 23. Juli 2020

Lie­be steht oft am Anfang, wenn erzählt wer­den soll, war­um die Welt ist und nicht viel­mehr nichts. Vor allem im Mythos ist sie das Motiv aller Moti­ve. Aber auch, wenn die Welt längst erschaf­fen und mehr oder min­der geord­net ist, insze­nie­ren die Mythen das The­ma Lie­be in einer Viel­falt, die immer umfas­sen­der und einem Spek­trum, das immer grö­ßer wird.

Fast alles scheint mög­lich, weil es immer eine Sto­ry gibt, die auch noch von den unmög­lich­sten Begeg­nun­gen fabu­liert. Daher bleibt die Welt nicht wie sie ist, weil sie durch Lie­bes­ge­füh­le in ihrem Nor­mal­ver­lauf immer wie­der gestört und ver­än­dert wird.

Genau das wird vor­ex­er­ziert: Es kommt dar­auf an, Gren­zen zu über­schrei­ten, wenn nur die Moti­ve stark genug sind. Und immer wie­der wird neu durch­ge­spielt, was dar­auf­hin geschieht: Glück und Unglück, Segen und Fluch, Hoff­nung und Ver­zweif­lung lie­gen sehr nahe nebeneinander.

Es gibt kaum ein inten­si­ve­res Ein­füh­len als unter Anlei­tung die­ser Plots selbst ins Fabu­lie­ren zu gera­ten. Klein­ste Varia­tio­nen genü­gen, denn die Plots reagie­ren sen­si­bel auf jede Inter­pre­ta­ti­on. So läßt sich in Erfah­rung brin­gen, daß wir selbst krea­tiv wer­den, wo es ums Ver­ste­hen geht.—Es gilt, den Dia­log mit den Figu­ren zu suchen, um zu ver­ste­hen, war­um sie so agie­ren und nicht anders, wor­auf es dabei ankommt, was eigent­lich hin­ter den Kulis­sen geschieht.

Mythen bie­ten ganz gro­ßes Thea­ter. Wer sich dar­auf ein­läßt, fin­det sich als­bald schon in einer sehr pri­vi­le­gier­ten Posi­ti­on, nahe genug am Gesche­hen, um alles mit­zu­be­kom­men, aber weit genug ent­fernt, nicht selbst mit hin­ein­ge­ris­sen zu werden.—Mythen die­nen unse­rem Anspruch auf Sinn, wenn sie muster­gül­tig durch­spie­len, was der Fall gewe­sen sein könn­te, um uns anstel­le von Erklä­run­gen eine Erläu­te­rung anzu­die­nen. Eben das macht Kul­tur und Bil­dung aus,anhand zeit­über­grei­fen­der Moti­ve ein­schlä­gi­ge Erfah­run­gen zu machen, um Viel­falt und Kom­ple­xi­tät wür­di­gen zu kön­nen und nicht als Bedro­hung emp­fin­den zu müssen.

In den Mär­chen, Mythen, Sagen und Legen­den, in sämt­li­chen die­ser muster­gül­ti­gen Plots ist gera­de die Lie­be eines der stärk­sten Moti­ve über­haupt. Oft kommt die­ses Gefühl aller Gefüh­le urplötz­lich auf. Fast unmit­tel­bar wech­seln Betrof­fe­ne, die zuvor noch ganz bei sich gewe­sen sind, in einen ande­ren Modus.

Schnell zeigt sich, wie uner­bitt­lich die­ser Ruf ergeht, wie wider­stands­los ihm gefolgt wird. Wo Göt­ter, Hel­den oder auch gewöhn­li­che Men­schen in Lie­be ent­flam­men, sind sie bald schon zu allem bereit. Dabei zei­gen sie Züge, die man ihnen eigent­lich nicht zuge­traut hät­te. Sie wach­sen über sich hin­aus, gera­ten aber auch außer sich, unter­neh­men alle erdenk­li­chen Anstren­gun­gen und wech­seln sogar ihre Iden­ti­tät, was nicht immer gut aus­ge­hen muß.

Nicht von unge­fähr wird die­se Ergrif­fen­heit im Sym­po­si­on bei Pla­ton als Wahn begrif­fen und sodann als ›hei­li­ger‹ Wahn geadelt.—Von einem Augen­blick zum ande­ren kann es aus uner­find­li­chen Grün­den gesche­hen, was nicht sel­ten ohne Mühe auch Umste­hen­de beob­ach­ten kön­nen: Eine tief­grei­fen­de Wesens­ver­än­de­rung geht damit ein­her; Gefüh­le, Herz und Ver­stand, Kopf und Bauch, der gan­ze Kör­per spielt verrückt.

›Hei­lig‹ erschien Pla­ton die Lie­be auch in ihrer ele­men­tar­sten Erschei­nung bereits, weil sie gera­de auch denen Flü­gel ver­leiht, die anson­sten ihre Boden­haf­tung nie­mals ver­lie­ren. Inso­fern hat sie nicht nur etwas Anar­chi­sches, son­dern auch etwas Erhe­ben­des. Men­schen ler­nen sich selbst auf eine ganz neue Art ken­nen und nicht nur sie.—Folgt man dem pla­to­ni­schen Modell von den Stu­fen der Lie­be, dann stei­gen wir wie Adep­ten schritt­wei­se all­mäh­lich immer wei­ter auf.

Alle Vor­stel­lun­gen über Lie­be haben eines gemein­sam, sie ist als schick­sal­haf­tes Ereig­nis eigent­lich uner­klär­bar. Also greift der anti­ke Mythos zum Bild eines rechts­un­mün­di­gen Kna­ben, der aus dem Hin­ter­halt mit Pfei­len auf sei­ne Opfer schießt.

Nach­dem Apol­lon den Lie­bes­gott ein­mal als schlech­ten Schüt­zen ver­spot­tet hat­te, räch­te sich die­ser auf urei­gen­ste Wei­se: Eros schoß einen gol­de­nen Lie­bes­pfeil auf den Son­nen­gott, einen mit nur blei­er­ner Spit­ze dage­gen auf die Berg­nym­phe Daph­ne. Dar­auf ver­lieb­te sich Apol­lon unsterb­lich in Daph­ne, die­se aber floh vor ihm. Erschöpft von der Ver­fol­gung bat sie ihren Vater, den Fluß­gott Pen­ei­os, er möge sie ver­wan­deln, wor­auf ihre Glie­der erstarr­ten und sie zu einem Lor­beer­baum wurde.—Seither ist der Lor­beer dem Apol­lon hei­lig, zum Geden­ken an Daph­ne trägt er einen Lor­beer­kranz oder eine mit Lor­beer geschmück­te Kithara.

Das Kon­zept, die Ursa­chen der Lie­be auf die Pfei­le des Amor zurück­zu­füh­ren, ist dazu ange­tan, gar nicht erst erklä­ren zu wol­len, war­um die­se Ver­bin­dungs­stif­tung so unbe­re­chen­bar, ja nicht selten
aben­teu­er­lich ist. Es steckt kein Plan dahin­ter, kei­ner­lei Absicht. Es ist eher wie ein Schicksalsschlag.
Oft kommt näm­lich zusam­men, was zuvor nie zuein­an­der gepaßt hat, was nicht sel­ten ver­fein­det mit­ein­an­der ist seit Menschengedenken.—Immer sind Hin­der­nis­se zu über­win­den, die im Äuße­ren oder auch im Inne­ren lie­gen. Immer ist die Fra­ge offen, ob das gelingt und wenn, ob die Lie­be dann auch gelebt wer­den kann und was dar­aus wie­der­um folgt.


Vorlesungen und Seminare


Ökologie im Diskurs

Ökologie im Diskurs.
Studien zu Grundfragen der Anthropologie, Ökologie
und zur Ethik der Wissenschaften

Drei mög­li­che Begrün­dungs­ebe­nen las­sen sich unter­schei­den, auf die sich Moti­ve für Natur­schutz zurück­füh­ren las­sen: natur­wis­sen­schaft­li­che–, ästhe­ti­sche– und ethi­sche Begrün­dun­gen. Die­se drei mög­li­chen Per­spek­ti­ven wer­den aller­dings, anders als zu erwar­ten wäre, weder gleich­be­rech­tigt noch gleich­ran­gig ange­nom­men; es läßt sich ein Hang zur erste­ren, der natur­wis­sen­schaft­li­chen Argu­men­ta­ti­on beob­ach­ten, wenn Moti­ve fur Natur­schutz begrün­det wer­den sol­len. Gleich­falls ist eine gewis­se Scheu vor ästhe­ti­schen oder ethi­schen Kri­te­ri­en zu beob­ach­ten; letz­te­re ver­küm­mern gera­de­zu, wenn ihnen aus Grün­den, die wir prü­fen wol­len, allen­falls noch der Sta­tus von Hilfs­ar­gu­men­ten ein­ge­räumt wird.

In der Tat sind die­se drei Begrün­dungs­ebe­nen nicht gleich­ran­gig. Die allein mit ästhe­ti­schen und ethi­schen Sät­zen for­mu­lier­ba­ren Kri­te­ri­en qua­li­ta­ti­ver Natur sind, sofern sie tat­säch­lich qua­li­ta­ti­ve Momen­te aus­for­mu­lie­re, immer schon dem natur­wis­sen­schaft­li­chen und quan­ti­fi­zie­ren­den Zugriff ent­zo­gen; sie sind nicht gleich­ran­gig, weil sie auf ver­schie­de­nen Erkennt­nis­ebe­nen ope­rie­ren, aber sie sind gleichberechtigt.—Begründungen, war­um etwa ein Baum, eine Tier­art, eine bestimm­te Land­schaft oder z.B. die Wäl­der des Ama­zo­nas zu schüt­zen sei­en, las­sen sich bei­spiel­haft für alle drei Ebe­nen ange­ben: Weil der Baum z.B. Sau­er­stoff pro­du­zie­re oder weil Abhol­zen der Amazonas–Wälder das glo­ba­le Kli­ma gefähr­de, weil der Baum und sei­ne cha­rak­te­ri­sti­sche Land­schaft dem Men­schen Erleb­nis­se äuße­rer und inne­rer Erfah­rung ermög­li­che, die unwie­der­bring­lich ver­lo­ren wären, und schließ­lich, weil es dem Men­schen nicht erlaubt sei ohne Not zu töten, weil jedes Lebe­we­sen ein allein durch sei­ne Exi­stenz ver­brief­tes Recht auf art­ge­rech­tes Leben habe und weil im Fal­le der Zer­stö­rung der Ama­zo­nas­wäl­der den dort leben­den India­nern die Exi­stenz­grund­la­ge genom­men wäre.

Cha­rak­te­ri­stisch für die natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­te Begrün­dungs­ebe­ne sind Argu­men­te, die einen bestimm­ten Zweck als not­wen­dig vor­aus­set­zen (Vor­der­satz) und dann im Rah­men einer Wenn–dann–Folge die Gefähr­dung oder mög­li­che Zer­stö­rung eines als zweck­ra­tio­nal aner­kann­ten lebens­not­wen­di­gen Zusam­men­hangs begrün­den (Schluß­satz). Ein der­ar­ti­ges Argu­men­ta­ti­ons­mu­ster insi­stiert stets auf die zwin­gen­de Not­wen­dig­keit uner­wünsch­ter Fol­gen. Weit­aus schwie­ri­ger las­sen sich Begrün­dungs­zu­sam­men­hän­ge unter ästhe­ti­schen oder ethi­schen Gesichts­punk­ten gestal­ten, wenn erwar­tet wird, sie soll­ten eben­falls Schluß­fol­ge­run­gen ermög­li­chen, die zwin­gend not­wen­dig sind. Es kann aber von Sinn­zu­sam­men­hän­gen gera­de nicht ohne wei­te­res erwar­tet wer­den, daß sie zweck­ra­tio­na­le Schluß­sät­ze begrün­den, dazu sind sie nicht prä­de­sti­niert, denn sinn­haf­te und sinn­vol­le Argu­men­te wer­den mit­un­ter gera­de durch ein Rela­ti­vie­ren von Zwecken erst möglich.

An der Not­wen­dig­keit öko­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen in den Natur­wis­sen­schaf­ten scheint nie­mand mehr ernst­haft zwei­feln zu wol­len, es kommt nun­mehr dar­auf an, auch die Gei­stes­wis­sen­schaf­ten mit ein­zu­be­zie­hen. Was ange­sichts anthro­po­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen gelang, muß auch in der Öko­lo­gie gelin­gen; not­wen­dig ist der mul­ti­dis­zi­pli­nä­re Dis­kurs der Öko­lo­gie, wobei die Zahl der hier zu betei­li­gen­den Wis­sen­schaf­ten aller­dings bedeu­tend gro­ßer wäre. Dabei muß es den ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen zunächst im Rah­men ihrer jewei­li­gen Zustän­dig­keit selbst über­las­sen blei­ben, ihre je eige­nen Kri­te­ri­en zur Bestim­mung des Öko­lo­gi­schen zu ent­wickeln. Im Vor­feld der Dis­kur­se muß die Möglich­keit zur Selbst­be­stim­mung gewähr­lei­stet sein, Über­grif­fe oder vor­schnel­le Ver­bin­dun­gen sind abzu­leh­nen; eine Begren­zung des­sen was Öko­lo­gie ist, kann nur in Abhän­gig­keit von der jewei­li­gen Fra­ge­stel­lung, also von Fall zu Fall rat­sam sein, im Grun­de aber ist die­ser Dis­kurs als mul­ti­dis­zi­pli­nä­rer offe­ner denn je. Wenn zudem noch öko­lo­gi­sche Dis­zi­pli­nen den Men­schen mit ein­be­zie­hen sol­len, und sie wer­den nicht umhin kön­nen die­ses zu tun, so tre­ten neben die Kri­te­ri­en der phy­si­schen Natur zusätz­lich sol­che der psychischen–.

Zur psy­chi­schen Natur des Men­schen gehört die Mög­lich­keit ästhe­ti­scher Erfah­rung, eine Fähig­keit, die unter bestimm­ten Umstän­den auf­tritt, die unter den Erschwer­nis­sen ent­frem­de­ter Lebens­ver­hält­nis­se die per­so­na­le Inte­gra­ti­on durch das Erle­ben von Ganzheits–Erfahrungen gewähr­lei­sten kann. So wie das Indi­vi­du­um sei­ner­seits sei­ne Ent­ste­hung einem bestimm­ten histo­ri­schen und topo­gra­phi­schen Ort ver­dankt, so ist auch die Wahr­neh­mung des Natur­schö­nen ihrer­seits an Vor­aus­set­zun­gen gebun­den, die bedingt erfüllt sein müs­sen, bevor eine Land­schaft in Abse­hung vom Zweck als schön emp­fun­den wer­den kann…

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Energie und Ethik

Leitbilder im philosophischen Diskurs

Rio de Janei­ro, Ber­lin, Kio­to und Bue­nos Aires—weitere Kon­fe­ren­zen der UNO wer­den hin­zu­kom­men in dem Bemü­hen um inter­na­tio­nal ver­bind­li­che Ver­ein­ba­run­gen zum Schutz der Erd­at­mo­sphä­re. Die Ver­bren­nung fos­si­ler Ener­gie­trä­ger wie Koh­le, Gas oder Öl im der­zei­ti­gen Umfang führt zu erhöh­ten Kon­zen­tra­tio­nen von Koh­len­di­oxid in der Atmo­sphä­re, wodurch aller Vor­aus­sicht nach das Kli­ma der Erde ent­schei­dend ver­än­dert wird. Als Fol­ge erwar­ten die mei­sten Exper­ten eine Tem­pe­ra­tur­er­hö­hung und damit die Aus­deh­nung von Trocken­ge­bie­ten, eine Erhö­hung des Mee­res­spie­gels sowie die Zunah­me von Wir­bel­stür­men, Über­schwem­mun­gen und extre­men Wet­ter­la­gen. Um die damit ein­her­ge­hen­den Fol­gen abzu­mil­dern, ver­sucht die inter­na­tio­na­le Staa­ten­ge­mein­schaft, Reduk­ti­ons­zie­le für CO2 fest­zu­le­gen. So hat sich bei­spiels­wei­se Deutsch­land ver­pflich­tet, 25% bei der CO2 –Emis­si­on bis zum Jah­re 2005 ein­zu­spa­ren. Aller­dings sind die­se Maß­nah­men nicht unum­strit­ten, denn die Simu­la­tio­nen der zukünf­ti­gen Kli­ma­ent­wick­lung geben immer noch hin­rei­chend Raum für Inter­pre­ta­ti­on und Spekulation.

Heinz--Ulrich Nennen, Georg Hörning (Hrsg.): Energie und Ethik. Leitbilder im philosophischen Diskurs. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1999.

Heinz–Ulrich Nen­nen, Georg Hör­ning (Hrsg.): Ener­gie und Ethik. Leit­bil­der im phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs. Cam­pus-Ver­lag, Frank­furt am Main 1999.

Auch natür­li­che Kli­ma­schwan­kun­gen sind erheb­lich. Eis­zei­ten, Zwi­schen­eis­zei­ten, Wär­me– und Käl­te­pe­ri­oden, mit­un­ter aus­ge­löst durch Meteo­ri­ten­ein­schlag, sind immer wie­der zu ver­zeich­nen gewe­sen. Die­sen Kata­stro­phen sind gan­ze Kul­tu­ren zum Opfer gefal­len, aller­dings sind sie ohne das Hin­zu­tun des Men­schen ein­ge­tre­ten. Die Mög­lich­keit einer anthro­po­ge­nen glo­ba­len Kli­ma­än­de­rung ist dage­gen ein abso­lu­tes Novum in der Erd­ge­schich­te. Mitt­ler­wei­le befas­sen sich Ver­si­che­rungs­un­ter­neh­men in wohl­ver­stan­de­nem Eigen­in­ter­es­se ver­stärkt mit Maß­nah­men zur Vorsorge.

Selbst wenn die Welt­kli­ma­mo­del­le auf abseh­ba­re Zeit kei­ne dezi­dier­ten Vor­her­sa­gen erlau­ben soll­ten, so wäre es auch aus ande­ren Grün­den sinn­voll, nach Wegen zu suchen, den Ein­satz fos­si­ler Ener­gie zu begren­zen. Im Gegen­teil, es wäre begrün­dungs­pflich­tig, den bis­he­ri­gen Ein­satz die­ser Ener­gien im gewohn­ten Umfang bei­zu­be­hal­ten, obwohl Alter­na­ti­ven zur Ver­fü­gung ste­hen. Kon­kret stellt sich damit die Fra­ge glo­ba­ler Umwelt­ver­än­de­run­gen als Her­aus­for­de­rung an das Gestal­tungs­ver­mö­gen vor Ort. Die Moti­ve sind viel­fäl­ti­ger Natur, sie rei­chen von der Sor­ge um den Ver­lust an Lebens­qua­li­tät bis hin zu wirt­schaft­li­chen, sozia­len und ent­wick­lungs­po­li­ti­schen Anliegen.

Das Problem

Es sind nicht ledig­lich Fra­gen der Tech­nik ange­spro­chen, wenn es um die Gestal­tung zukünf­ti­ger Ener­gie­sy­ste­me geht. Das wird beson­ders dort deut­lich, wo unter­schied­li­che Ver­ständ­nis­se von Ver­zicht auf­ein­an­der tref­fen. Allein die Dif­fe­ren­zie­rung, ob es sich um ein Ver­zich­ten müs­sen oder um ein Ver­zich­ten kön­nen han­delt, ist bezeich­nend für die Ebe­ne auf der sich der Energie–Diskurs bewegt. Wel­che Tech­nik, wel­ches Ver­hal­ten und wel­cher Zukunfts­ent­wurf sind maß­geb­lich für die Gestal­tung der künf­ti­gen Ener­gie­ver­sor­gung? Die­se Aspek­te von Tech­nik­fol­gen­be­wer­tung las­sen sich in Leit­bil­dern ver­dich­ten, mit denen sich auch Gene­ra­tio­nen von­ein­an­der abgrenzen.

Unter­schied­li­che Leit­bil­der mit­ein­an­der in den Dis­kurs zu brin­gen, war Auf­ga­be des hier doku­men­tier­ten Pro­zes­ses. Es galt zu beur­tei­len, wel­ches von vier exem­pla­ri­schen Sze­na­ri­en einer zukünf­ti­gen Ener­gie­ver­sor­gung und –nut­zung zu emp­feh­len sei. Dabei wer­den unmit­tel­bar Fra­gen der Ethik auf­ge­wor­fen, ins­be­son­de­re dort, wo Grund­rech­te zur Dis­po­si­ti­on ste­hen könn­ten. Die Wahl einer der mög­li­chen Stra­te­gien zur CO2 –Reduk­ti­on stellt eine Her­aus­for­de­rung an die demo­kra­ti­sche Kul­tur dar, weil sich mit die­sen Stra­te­gien unter­schied­li­che Lebens­sti­le verbinden.

Dis­kur­se zur Ener­gie­fra­ge sind Aus­druck tie­fer­ge­hen­der gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te: Ver­schie­de­ne Ent­wür­fe eines gelin­gen­den Lebens oder einer erfolg­rei­chen und erstre­bens­wer­ten Wirt­schafts­wei­se ste­hen zur Debat­te, gera­de weil nicht ledig­lich Tech­no­lo­gien der Strom­erzeu­gung oder Nut­zungs­tech­ni­ken, wie Kern­ener­gie und 3–Liter–Auto, im Vor­der­grund ste­hen. Gesamt­ge­sell­schaft­li­che Kon­flikt­lö­sun­gen las­sen sich immer weni­ger aus der tages­po­li­tisch moti­vier­ten Zusam­men­schau iso­lier­ter Per­spek­ti­ven ablei­ten. Statt­des­sen ist eine Gesamt­schau erfor­der­lich, im Wech­sel der Per­spek­ti­ven ver­schie­de­ne, auf kon­trä­ren Leit­bil­dern beru­hen­de Optio­nen zu Ener­gie­nach­fra­ge und –ver­sor­gung zu eröffnen.

Die Bewer­tung der Optio­nen erfor­dert einer­seits den phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs sowie ande­rer­seits ein geeig­ne­tes Ver­fah­ren der Bür­ger­be­tei­li­gung, wobei ent­schei­dend ist, daß es um mehr geht, als um den iso­lier­ten Aus­druck par­ti­ku­la­rer Fach­in­ter­es­sen, wirt­schaft­li­cher Fol­gen oder gesell­schaft­li­cher Kon­se­quen­zen, son­dern um den umfas­sen­den Pro­zeß der Abwä­gung vor dem Hin­ter­grund des gesam­ten Fra­ge­spek­trums. Dazu sind ein fun­dier­tes Auf­ar­bei­ten der Sach­la­ge, die Dar­stel­lung rea­li­sti­scher Hand­lungs­op­tio­nen ein­schließ­lich der mög­li­cher­wei­se damit ein­her­ge­hen­den Kon­se­quen­zen sowie eine Refle­xi­on der gesell­schaft­lich rele­van­ten Bewer­tungs­kri­te­ri­en aus der Sicht­wei­se von Betrof­fe­nen erforderlich.

Immer häu­fi­ger wer­den auch Ethi­ker um Rat gefragt, wenn es um Fra­gen der Zukunfts­ge­stal­tung geht. Oft­mals wird dabei unter­stellt, sei­tens der phi­lo­so­phi­schen Ethik lie­ßen sich unanzwei­fel­ba­re und ein­deu­ti­ge Ant­wor­ten, ›rich­ti­ge‹ und ›all­ge­mein­gül­ti­ge‹ Lösungs– und Bewer­tungs­stra­te­gien bei kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Sach­ver­hal­ten für die ver­ant­wort­li­che und ver­ant­wort­ba­re Ent­schei­dungs­vor­be­rei­tung geben. Die­ser Erwar­tung kann nicht ent­spro­chen wer­den: Ein sol­ches phi­lo­so­phi­sches ›Macht­wort‹ kann nicht die Auf­ga­be der phi­lo­so­phi­schen Ethik sein. Vor dem Hin­ter­grund einer ange­spann­ten Welt, in der fun­da­men­ta­li­sti­sche Strö­mun­gen mit der Wis­sen­schaft um das Mono­pol der Welt­deu­tung rin­gen, kön­nen weder Ethik noch Phi­lo­so­phie zu Garan­ten letzt­ver­bind­li­cher Hand­lungs­ma­xi­men und all­ge­mein­ver­bind­li­cher Gesichts­punk­te der Bewer­tung wer­den. Auf­ga­be der Phi­lo­so­phie kann es schon gar nicht sein, vor­schnell Par­tei zu ergrei­fen. Sie kann Anre­gun­gen geben und auch advo­ka­to­risch pro­vo­zie­ren­de Posi­tio­nen vertreten—in der Hoff­nung, neue Optio­nen und Per­spek­ti­ven zu eröffnen.

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Das Expertendilemma

Zur Rolle wissenschaftlicher Gutachter in der öffentlichen Meinungsbildung

Was ist im Spiel, wenn in der Poli­tik­be­ra­tung die Aus­sa­gen wis­sen­schaft­li­cher Exper­ten ein­an­der wider­spre­chen? Die­se Fra­ge bewegt Poli­ti­ker, die von der Wis­sen­schaft Rat erwar­ten, sie beschäf­tigt vie­le Wis­sen­schaft­ler selbst, die Öffent­lich­keit zumal. Aus­ein­an­der­set­zun­gen um diver­gie­ren­de Exper­ten­gut­ach­ten sind häu­fig von der Hypo­the­se geprägt, schwar­ze Scha­fe in der Wis­sen­schaft wür­den die Beför­de­rung eige­ner oder frem­der Inter­es­sen über die stren­ge Norm des aus­schließ­li­chen Rin­gens um Wahr­heit stel­len. Wo es um die Tech­nik­fol­gen­for­schung und –bewer­tung geht, stel­len sich häu­fig gera­de der­ar­ti­ge Pro­ble­me. Daher hat die Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung in Baden–Württemberg den Dis­kurs ‚Exper­ten­di­lem­ma‘ angeregt.

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Heinz–Ulrich Nennen, Detlef Garbe (Hrsg.): Das Expertendilemma. Springer Verlag; Berlin, Heidelberg 1996.

Heinz–Ulrich Nen­nen, Det­lef Gar­be (Hrsg.): Das Exper­ten­di­lem­ma. Zur Rol­le wis­sen­schaft­li­cher Gut­ach­ter in der öffent­li­chen Mei­nungs­bil­dung. Sprin­ger Ver­lag; Ber­lin, Hei­del­berg 1996.

Der Begriff ‚Exper­ten­di­lem­ma‘ bezeich­net eine Situa­ti­on, in der zu einem bestimm­ten Sach­ver­halt ver­schie­de­ne Gut­ach­ten ein­ge­holt wor­den sind, die zu diver­gie­ren­den, oft wider­sprüch­li­chen Aus­sa­gen kom­men. Vom ‚Exper­ten­di­lem­ma erster Art‘ wird dann gespro­chen, wenn Wider­sprü­che wis­sen­schafts­in­tern auf­tre­ten. Das ‚Exper­ten­di­lem­ma der zwei­ten Art‘ zeigt sich dage­gen an der Naht­stel­le zwi­schen Wis­sen­schaft und Öffent­lich­keit bzw. Wis­sen­schaft und Poli­tik. Zum einen wird die Exper­ti­se in der poli­ti­schen Pra­xis häu­fig als selek­ti­ves Instru­ment benutzt, um bereits getrof­fe­ne Ent­schei­dun­gen nach­träg­lich zu legi­ti­mie­ren, statt anste­hen­de Ent­schei­dun­gen dar­auf zu stüt­zen. Zum ande­ren, was gra­vie­ren­der ist, hat sich die Pra­xis her­aus­ge­bil­det, daß der Poli­ti­ker damit rech­nen kann, zu jeder Sach­fra­ge das gewünsch­te, als ‚wis­sen­schaft­lich‘ bezeich­ne­te Gut­ach­ten zu bekommen.—Diese Pro­ble­ma­tik ist bis dato, sowohl auf theo­re­ti­scher wie prak­ti­scher Ebe­ne, weder für die Wissenschaft(en) selbst, noch für Poli­tik, Wirt­schaft oder in den Augen der Öffent­lich­keit adäquat beant­wor­tet. Ziel war es daher, zunächst die von Wis­sen­schaft, Poli­tik und Öffent­lich­keit wahr­ge­nom­me­nen Dilem­ma­ta offen­zu­le­gen, zu dis­ku­tie­ren und nach Lösungs­mög­lich­kei­ten zu suchen in der Fra­ge, ob die Anzwei­fel­bar­keit von Gut­ach­ten, wie viel­fach behaup­tet, glei­cher­ma­ßen zu einem Auto­ri­täts­ver­lust der Wis­sen­schaft füh­ren muß.

Unstrit­tig scheint zu sein, daß damit ein Kri­sen­phä­no­men ange­spro­chen ist, von dem die in der Debat­te um mög­li­che Ent­wick­lungs­zie­le und –wege begrif­fe­nen moder­nen Indu­strie­ge­sell­schaf­ten und damit ent­spre­chen­de Wei­ter­ent­wick­lun­gen selbst betrof­fen sind. Zu den abseh­ba­ren Ergeb­nis­sen die­ser Debat­te ist zu zäh­len, daß auf der einen Sei­te den Wis­sen­schaf­ten im Ver­hält­nis zur Öffent­lich­keit ein man­geln­des Ein­ge­hen auf spe­zi­fi­sche Pro­blem­stel­lun­gen atte­stiert wer­den muß. Eben­so läßt sich auf der ande­ren Sei­te, bei poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern eben­so wie in der Öffent­lich­keit, ein feh­len­der adäqua­ter Umgang mit dem Ein­ge­ständ­nis des Nicht–Genau–Wissens der Exper­ten fest­stel­len. Somit sind Wis­sen­schaft, Poli­tik und Öffent­lich­keit glei­cher­ma­ßen gefor­dert. Inso­fern ist das ‚Exper­ten­di­lem­ma‘ weni­ger ein Dilem­ma der Exper­ten, denn nicht die­se, son­dern ihre Kli­en­ten, die Ent­schei­der, müs­sen aus der Fül­le alter­na­ti­ver Optio­nen wäh­len und sich entscheiden.

Die Mehr­deu­tig­keit der wis­sen­schaft­li­chen Exper­ti­se muß aber nicht not­wen­dig ein Pro­blem für die Ent­schei­der sein—im Gegen­teil. Sie könn­te auch als Mög­lich­keit begrif­fen wer­den, wei­te­re Kri­te­ri­en und Wert­ge­sichts­punk­te in die Ent­schei­dungs­fin­dung ein­flie­ßen zu las­sen. Damit gewinnt ins­be­son­de­re die Poli­tik Ent­schei­dungs– und Hand­lungs­spiel­räu­me wie­der zurück, und auch die Öffent­lich­keit selbst erscheint als nicht zu unter­schät­zen­der Fak­tor in den gesell­schaft­li­chen Dis­kur­sen bei der Bewer­tung der Optio­nen mög­li­cher Entwicklungen.

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