Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Melancholie

Die Sehnsucht nach der Sehnsucht

Nur wer die Sehnsucht kennt

Goethe-Lotte-Werther

Goe­the Lot­te Wert­her. Stadt– und Indu­strie­mu­se­um, Wetz­lar 2014. — Quel­le: 3StepsCrew, Gie­ssen, Ger­ma­ny via Wiki­me­dia, Lizenz: CC-BY-SA‑2.0.

Mit sei­nem Wert­her trifft Goe­the das epo­cha­le Lebens­ge­fühl jun­ger Leu­te im Span­nungs­feld zwi­schen der neu­en Emp­find­sam­keit und einer über­kom­me­nen Moral, die eigent­lich alles Per­sön­li­che im Keim erstick­te. Dage­gen grün­de­te sich die sei­ner­zeit als Lese­sucht bezeich­ne­te Suche nach den Moti­ven einer neu­en Sehn­sucht auf Indi­vi­dua­li­tät und auch auf Nar­ziss­mus. So ent­stand der neue Zeit­geist mit einem Hang zum sen­ti­men­ta­li­schen Cha­rak­ter, der erst in der Roman­tik ganz zum Aus­druck kom­men und auch sei­ne Schat­ten­sei­ten ent­wickeln sollte.

Das neu her­an­brau­sen­de Zeit­al­ter der Emp­find­sam­keit war selbst­ver­ständ­lich höchst umstrit­ten, denn damit wur­de ein ganz bedeu­ten­der Schub in der Psy­cho­ge­ne­se aus­ge­löst. Anstel­le der stets so tugend­haft und alter­na­tiv­los hin­ge­stell­ten Füg­sam­keit, sich den Anfor­de­run­gen eines über­kom­me­nen Kon­ven­tio­na­lis­mus klag­los zu über­ant­wor­ten, wur­de nun der Aus­druck eines neu­en Indi­vi­dua­lis­mus mög­lich, der Welt­schmerz und Melan­cho­lie zum Aus­druck brach­te und dabei bis zum Nar­ziss­mus füh­ren konn­te. — Die Figur des Wert­her war dabei der Pro­to­typ eines neu­en Zeit­ge­nos­sen, der mit sei­ner unstill­ba­ren Sehn­sucht, sei­nem über­bor­den­dem Nar­ziss­mus und mit sei­ner Melan­cho­lie an der herr­schen­den Moral ein­fach scheitert.

Das war eine, wenn nicht die erste ›Jugend­be­we­gung‹. Wei­te­re Reak­tio­nen in Kunst und Lite­ra­tur lie­ßen nicht auf sich war­ten. Mas­si­ve Ver­än­de­run­gen im Selbst­ver­ständ­nis und im Selbst­ver­hält­nis gin­gen damit ein­her. Es kam zur Vor­bild­funk­ti­on, zur Iden­ti­fi­ka­ti­on, zur Nach­ah­mung der Haupt­fi­gur und schließ­lich zum Werther–Kult mit einer Rei­he von Sui­zi­den oder Sui­zid­ver­su­chen. — Das war nicht nur ein Bruch mit der Tra­di­ti­on der Fremd­be­stim­mung, son­dern eine Demon­stra­ti­on des Anspruchs auf Indi­vi­dua­li­tät jen­seits der her­kömm­li­chen Moral. Und so wur­de dann auch der Selbst­mord die­ses tra­gi­schen Hel­den nicht mehr als Sün­de tabui­siert, son­dern als ›Frey­tod‹ betrach­tet, als Aus­druck einer indi­vi­du­el­len Frei­heit, sich gegen gesell­schaft­li­che Zwän­ge zu behaup­ten, indem man sich dem Wei­ter­le­ben ›ent­zieht‹.

Im Wil­helm Mei­ster wird die­se träu­men­de Sehn­sucht wei­ter zum Aus­druck gebracht, aber auch eine Nai­vi­tät, die zustan­de kommt, wo Empa­thie ohne Theo­rie ein­fach nur auf eine neue Sehn­sucht zielt, von der nicht inhalt­lich gesagt wer­den kann, was denn nun die Sehn­sucht die­ser Sehn­sucht sein soll:

Er ver­fiel in eine träu­men­de Sehn­sucht, und wie ein­stim­mend mit
sei­nen Emp­fin­dun­gen war das Lied, das eben in die­ser Stun­de Mi-
gnon und der Harf­ner als ein unre­gel­mä­ßi­ges Duett mit dem herz-
lich­sten Aus­drucke sangen:

Nur wer die Sehn­sucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh’ ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwin­delt mir, es brennt
Mein Ein­ge­wei­de.
Nur wer die Sehn­sucht kennt,
Weiß, was ich leide!

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Wil­helm Mei­sters Lehrjahre.

In: Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 7. S. 240f.)

So träumt dann Wil­helm Mei­ster noch in träu­men­der Sehn­sucht, kommt aber aus dem Lei­den am Lei­den nicht her­aus. Es bleibt bei der Sehn­sucht nach dem, was der Sehn­sucht wert ist. Und so geht Goe­thes Faust weit dar­über hin­aus: Er greift wirk­lich nach den Ster­nen und macht dabei die­je­ni­gen Welt– und Selbst–Erfahrungen, die dazu ange­tan sind, für sich selbst bes­ser wahr­neh­men zu kön­nen, was denn gewollt wer­den sollte.

Faust ist rast­los, uner­füllt, umtrie­big und vol­ler Sehn­sucht nach einer Sehn­sucht, deren Beweg­grün­de ihm selbst aber unbe­kannt sind. Er täuscht sich dar­über, was und wo denn nun das Land sei­ner Träu­me liegt, was das Ziel aller Seh­süch­te sein soll. — Im Dia­log mit der Sor­ge, die sehr melan­cho­li­sche Züge trägt, erläu­tert er die zuneh­men­de Ruhe der Weis­heit, die mit der Erfah­ren­heit einhergeht:

FAUST.
Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genüg­te, ließ ich fahren,
Was mir ent­wisch­te, ließ ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und aber­mals gewünscht und so mit Macht
Mein Leben durch­ge­stürmt; erst groß und mächtig,
Nun aber geht es wei­se, geht bedächtig.
Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
Nach drü­ben ist die Aus­sicht uns verrannt;
Tor, wer dort­hin die Augen blin­zelnd richtet,
Sich über Wol­ken sei­nes­glei­chen dichtet!
Er ste­he fest und sehe hier sich um;
Dem Tüch­ti­gen ist die­se Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewig­keit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wand­le so den Erden­tag entlang;
Wenn Gei­ster spu­ken, geh’ er sei­nen Gang,
Im Wei­ter­schrei­ten find’ er Qual und Glück,
Er, unbe­frie­digt jeden Augenblick!
SORGE.
Wen ich ein­mal mir besitze,

Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ewi­ges Düst­re steigt herunter,
Son­ne geht nicht auf noch unter,
Bei voll­kom­men äußern Sinnen
Woh­nen Fin­ster­nis­se drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er ver­hun­gert in der Fülle; …

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Faust. Eine Tra­gö­die. In: Ham­bur­ger Ausgabe
Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 8. S. 344f.)

Faust muß in der Tat alles erst selbst in Erfah­rung brin­gen und braucht dafür einen Teu­fels­pakt mit dem genia­len Mephi­sto, der das all­um­fas­sen­de Pro­bie­ren und Stu­die­ren ihm erst mög­lich macht. — In der Faust­wet­te geht es schließ­lich um die Lösung der Fra­ge nach der Sehn­sucht der Sehnsucht:

FAUST.
Werd’ ich zum Augen­blicke sagen:
Ver­wei­le doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fes­seln schlagen,
Dann will ich gern zugrun­de gehn!
Dann mag die Toten­glocke schallen,
Dann bist du dei­nes Dien­stes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zei­ger fallen,
Es sei die Zeit für mich vor­bei! (Ebd. S. 57.)

Der­weil wirkt Mephi­sto stets so, als habe er das alles längst hin­ter sich und wüß­te um das Wesen des Men­schen, um Träu­me und Schäu­me. Die­ser Dämon spricht wie ein Nihi­list, der sich längst zum Zyni­ker gewan­delt hat, und in der Tat ist Mephi­sto bar jeder Sehn­sucht, so daß man sich fra­gen muß, woher er dann noch sei­ne Ener­gie nimmt.

Aus­zug aus: Heinz-Ulrich Nen­nen: Empa­thie. S. 148ff.


»Ich fürchte mich vor der Menschen Wort«

Wilhelm Otto Peters: Nero im Circus.

Wil­helm Otto Peters: Nero im Cir­cus. Holz­stich, um 1900, kolo­riert, nach dem Gemäl­de von Wil­helm Otto Peters. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Com­mons. — Der Dau­men als Zei­chen des Mit­ge­fühls: Mit dem nach unten zei­gen­den Dau­men signa­li­siert Nero den Gla­dia­to­ren in der Are­na »kein Mit­ge­fühl« zu zei­gen — ganz im Gegen­satz zum nach oben gestreck­ten Dau­men, der »Mit­ge­fühl« signalisiert.

Bewußt­sein kommt nur zustan­de, wenn das, was bewußt wer­den soll, auf irgend­ei­ne Wei­se auch reprä­sen­tiert wer­den kann. Spie­gel­zel­len machen der­weil die eige­ne Selbst­wahr­neh­mung zum Medi­um, der Ande­re wird teil­wei­se gespie­gelt in der Wahr­neh­mung des eige­nen Kör­pers. Es scheint dann so, als wür­de der Beob­ach­ter zu dem, was eigent­lich nur beob­ach­tet wird. Dabei arbei­tet das System der Spie­gel­neu­ro­nen ganz offen­bar mit Pro­jek­tio­nen, die vom moto­ri­schen System aus­ge­hen, um dann über das Ner­ven­sy­stem gewis­se Wahr­neh­mun­gen zu simulieren.
Emo­tio­nen wer­den dabei auf Bewe­gungs­mu­ster ›gelegt‹. Das besagt dann auch der Begriff ›Map­ping‹, was eben bedeu­tet, daß etwas auf etwas ande­res gelegt wird. So wird das Radio­si­gnal des Sen­ders auf eine Radio­wel­le gleich­sam ›oben‹ zusätz­lich noch ›drauf‹ gege­ben. Rein tech­nisch wer­den sol­che Ver­fah­ren als Modu­la­ti­on beschrie­ben, und in die­sem Sin­ne läßt sich nach­voll­zie­hen, wie auch die Spie­gel­zel­len die eige­ne Wahr­neh­mung so modu­lie­ren, bis sie sich öff­net für die Wahr­neh­mung Anderer.
Es ist aller­dings bemer­kens­wert, daß wir oft nur etwas sehen müs­sen, um es zu ver­ste­hen, zu füh­len und zu mit­emp­fin­den. So wird dann die Empa­thie zur Erfah­rung am eige­nen Leib und wir kön­nen uns vor­stel­len, wie sich etwas anfühlt, auch wenn wir gar nicht selbst betrof­fen sind. Das alles ist für die Ima­gi­na­ti­on, für das Erzäh­len und nicht zuletzt auch für das Ler­nen von unge­heu­rer Bedeu­tung, denn wir kön­nen auf die­se Wei­se zu Erfah­run­gen kom­men, ohne sie selbst je erle­ben zu müssen.
Was in der Hirn­for­schung als Map­ping beschrie­ben wird, dem ent­spricht in der Kul­tur­wis­sen­schaft die Meta­pher , denn auch hier wird ein zumeist ganz kon­kre­ter Sinn ›über­tra­gen‹ und etwas ande­rem bei­gelegt. Durch die Wahl und den Ein­satz einer ange­mes­se­nen Meta­pho­rik wird das Ver­ste­hen und vor allem die Ver­stän­di­gung oft über­haupt erst ermög­licht. Und hier geht es ganz offen­bar dar­um, daß ein ›höhe­res‹ Bewußt­sein die Rou­ti­nen eines ande­ren Bewußt­seins jeweils mit ganz bestimm­ten Sinn­mu­stern belegt. So wer­den dann Bewe­gungs­mu­ster mit Emo­tio­nen ver­knüpft, die sich dann ihrer­seits wie­der­um als Bewegt­heit iden­ti­fi­zie­ren las­sen. Dann kön­nen wir uns nicht mehr nur vor­stel­len, wie wir uns bewe­gen. Wir kön­nen dar­über hin­aus auch Vor­stel­lun­gen dar­über haben, ›bewegt‹ zu wer­den — eben durch Empa­thie, durch Emotionen.
Die Fra­ge, was eigent­lich Bewußt­sein ist und wie es zustan­de gebracht wird, bekommt auf die­se Wei­se ihren ein­schlä­gi­gen Modell­cha­rak­ter. Bewußt­sein ist immer Bewußt­sein von etwas, daher muß erwar­tet wer­den, daß die­ses Etwas dann auch in Erschei­nung tritt und wahr–genommen wer­den kann. — Aber mit der Ein–Sicht ist das so eine Sache: Vie­les ist uns ver­bor­gen und dann ver­sa­gen auch noch die Wor­te, weil sie immer sofort alles fest­le­gen. Kein Wun­der also, daß das Reden gera­de dann beson­ders schwer fällt, wenn, was zu sagen wäre, höchst hei­kel erscheint, und wenn wir befürch­ten müs­sen, gar nicht ver­stan­den zu wer­den oder uns vor­schnell und falsch festzulegen.
Oft haben wir uns selbst und die Situa­ti­on noch gar nicht ver­stan­den. Dann feh­len die Wor­te, so daß es unmög­lich erscheint, über­haupt irgend­et­was zu sagen, und trotz­dem sol­len wir uns erklä­ren, beken­nen und fest­le­gen. Aber die unter­schied­lich­sten Moti­ve, Emo­tio­nen und Wert­vor­stel­lun­gen lie­gen im Hader mit­ein­an­der wie die glück­li­chen Göt­ter Athens. In ihrer Gesamt­heit ver­kör­pern sie die Eigen­tüm­lich­kei­ten der ver­schie­den­sten Per­spek­ti­ven und ste­hen dafür mit ihrem Cha­rak­ter ein.
Die Viel­falt die­ser Mög­lich­kei­ten, ein– und die­sel­be Sache auch ganz anders sehen zu kön­nen, macht gelin­gen­des Ver­ste­hen so schwie­rig. Daher ist es nicht ein­fach, sich selbst zu the­ma­ti­sie­ren und die Ver­hält­nis­se syste­ma­tisch zu erör­tern. Das kann nur gelin­gen, wenn die unter­schied­lich­sten Momen­te zur Spra­che gebracht wer­den, um sich über alle mög­li­chen Moti­ve und Emo­tio­nen zu ver­stän­di­gen. — Kul­tur und Zeit­geist spie­len dabei eine ganz gro­ße Rol­le, denn immer­zu herr­schen bestimm­te Vor­bil­der, Vor­stel­lun­gen oder Muster­gül­tig­kei­ten vor und nicht sel­ten sind Erwar­tun­gen oder auch Erwar­tungs­er­war­tun­gen wie bei­spiels­wei­se Idea­le und Wert­vor­stel­lun­gen im Spiel.
Erst was zur Spra­che gebracht, mit­ge­teilt und auch ver­stan­den wur­de, ist wirk­lich in der Welt. Alles ande­re ist und bleibt sche­men­haft im Nebel aller Mög­lich­kei­ten zurück. Solan­ge die rich­ti­gen Wor­te noch feh­len, besteht noch die Hoff­nung, daß sie gefun­den und zur Spra­che gebracht wer­den. Wo aber bereits die fal­schen Wor­te aus­ge­spro­chen wor­den sind, dort beherr­schen Irr­tü­mer die Sze­ne­rie wie ein böser Fluch, was oft nicht ein­mal bemerkt wird. — Dabei ist es gera­de­zu skan­da­lös, was Wor­te den Phä­no­me­nen antun kön­nen: Sie spie­ßen die Sachen wie Schmet­ter­lin­ge auf, kle­ben ihr Eti­kett dar­un­ter und behaup­ten, man habe damit wirk­lich alles im Griff. Tat­säch­lich ist jedoch das Leben ent­wi­chen, die See­le ist nicht mehr vor Ort und nur etwas Totes bleibt dann zurück.

Ich fürch­te mich so vor der Men­schen Wort.
Sie spre­chen alles so deut­lich aus:
Und die­ses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

In die­sem Gedicht aus dem Jah­re 1897 beschwört Rai­ner Maria Ril­ke eine Angst vor dem defi­ni­to­ri­schen Gebrauch der Wör­ter, wie ihn nur Poe­ten und Phä­no­me­no­lo­gen tei­len kön­nen. — Wor­te machen die Din­ge ver­füg­bar und ver­scheu­chen den Geist, der uns eigent­lich fas­zi­niert. Man glaubt, sich erklä­ren, sich ver­ständ­lich machen zu müs­sen und erreicht nicht sel­ten das Gegen­teil von alle­dem, so daß sich Ver­ste­hen in Ver­feh­len ver­wan­delt. — Daher soll­te die Empa­thie im Hin­ter­grund ste­hen, um zu erfüh­len, ob die Wor­te tat­säch­lich auch tun, was sie sol­len oder ob sie nur eigen­mäch­tig über alles her­fal­len, was ihnen nicht paßt.
Wäh­rend die erste Stro­phe noch über die Angst spricht, wird in der näch­sten die Ankla­ge eröff­net um dann in der drit­ten den Apell vor­zu­brin­gen, die Welt der Din­ge gegen die Ansprü­che des Benen­nens und Aus­spre­chens in Schutz zu neh­men. — Ohne­hin ist die Welt selt­sam falsch moti­viert durch Wahr­neh­mungs­mu­ster, die mit der Moder­ne auf­ge­kom­men sind und die seit­her den Zeit­geist und damit das Sehen, Füh­len und Den­ken auf selt­sa­me Wei­se ver­fäl­schen, so daß das das Leben­di­ge stumm und das Star­re leben­dig erscheint.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wis­sen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Gar­ten und Gut grenzt gra­de an Gott.

Ich will immer war­nen und weh­ren: Bleibt fern.
Die Din­ge sin­gen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Din­ge um.


Empathie

Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken. Österreichische Galerie Belvedere, Wien.

Hans Makart: Die fünf Sin­ne. Hören, Sehen, Rie­chen, Schmecken. Öster­rei­chi­sche Gale­rie Bel­ve­de­re, Wien.

Wer sich mit Äußer­lich­kei­ten zufrie­den gibt und glaubt, auf die­ser Grund­la­ge bereits umfas­sen­de Urtei­le abge­ben zu kön­nen, wird nur ange­paß­tes Den­kens zele­brie­ren. Da ist die­ser Hang, sich nie und nim­mer per­sön­lich auf die Sachen selbst ein­zu­las­sen. Es scheint, als wür­de man bereits ahnen, daß vie­le Gefah­ren damit ein­her­ge­hen, woll­te man dem Anspruch auf per­sön­li­che Urtei­le tat­säch­lich gerecht wer­den. Aber nichts der­glei­chen fin­det wirk­lich statt: Das Den­ken wird nicht auf­ge­schlos­sen, son­dern, noch ehe es über­haupt in Gang gekom­men ist, sofort wie­der still­ge­stellt und auf Üblich­kei­ten fixiert. Eige­nes Den­ken, Auf­merk­sam­keit, Empa­thie, — alles was mit hohem, höhe­rem oder höch­stem Anspruch daher­kommt, ist dann nur noch Attitüde.
Die Kunst, sich des eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen, kommt in der Regel nicht ein­mal im Ansatz zur Anwen­dung. In den herr­schen­den Dis­kur­sen geht es zumeist nur dar­um, sich gemein­schaft­lich zu erre­gen, sich an Feind­bil­dern zu ori­en­tie­ren, vor allem an jenen, die ganz gefähr­lich anders sind. Aber die eigent­li­chen Gefah­ren kom­men gar nicht von außen, son­dern von innen. Es sind Äng­ste im Spiel, die sich vor den unend­li­chen Wei­ten, vor den Unbe­re­chen­bar­kei­ten und Unge­wiß­hei­ten in der eige­nen Psy­che her­rüh­ren. Der Ungrund wird sehr wohl gespürt und geahnt, daß es gar kei­ne Gewiß­hei­ten sind, von denen wir getra­gen wer­den. — Wer sich wirk­lich auf das offe­ne Den­ken ein­läßt, wird sich selbst über­zeu­gen, über­ra­schen, ja sogar über­ho­len, wird immer weni­ger Par­tei­gän­ger, wird sich statt­des­sen auf die Äng­ste im eige­nen Inne­ren ein­las­sen müssen.

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Das erschöpfte Selbst

Lucas Cra­nach der Älte­re: Melan­cho­lie. Natio­nal­ga­le­rie,
Kopenhagen.<fn>Public domain via Wiki­me­dia Commons.</fn>

Erläuterungen zur Psychogenese


Dialog und Diskurs

Schwebendes Denken

Bezau­bern­de Bil­der bezeu­gen, wie innig die Phi­lo­so­phie allem zuge­tan ist, was Flü­gel verleiht. 

Bei Hegel beginnt die Eule der Miner­va ihren Flug erst in der Däm­me­rung. – Pla­ton schil­dert das Auf­stei­gen zur Erkennt­nis mit der Alle­go­rie vom See­len­wa­gen, bei dem es dar­um geht, am Tri­umph­zug der Göt­ter über das nächt­li­che Fir­ma­ment, quer über die Milch­stra­ße bis hin zum Reich der Ideen teil­neh­men zu kön­nen. Aber den aller­mei­sten Zeit­ge­nos­sen feh­le es dabei an “Federn”, auch beherr­schen sie nicht die Selbstführung… 

Die Gedan­ken sind frei, es kommt dar­auf an, sie schwe­ben, flie­gen und auf­stei­gen zu las­sen. Es kommt dar­auf an, daß sie stets offen blei­ben, sich inspi­rie­ren zu lassen.

Phi­lo­so­phi­scher Salon Karlsruhe

Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz Karlsruhe

Phi­lo­so­phi­scher Salon | B‑Si­de-Festi­val 2019 | Mün­ster

Philosophisches Café Münster

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Wenn her­kömm­li­che Ori­en­tie­run­gen unsi­cher wer­den, dann stel­len sich Fra­gen der Selbst­ori­en­tie­rung. Neue Ant­wor­ten las­sen sich jedoch erst fin­den, wenn zuvor genü­gend Abstand genom­men wird. Erst aus der Distanz läßt sich das Gan­ze umfas­send in den Blick neh­men. – Nur so kommt das Neue ins Den­ken und dazu ist Phi­lo­so­phie unver­zicht­bar. Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, sich durch eige­nes Den­ken zu ori­en­tie­ren, gera­de dann, wenn vie­les in der Schwe­be ist.

Phil_Salon_OB-Plakat

Neben dem phi­lo­so­phi­schen Dia­log als inten­si­ver Form, sich in The­men von exi­sten­ti­el­ler Bedeu­tung ein­zu­füh­len, um sie zu erör­tern, bie­tet das Phi­lo­so­phi­sche Café die Mög­lich­keit, auch in grö­ße­ren Grup­pen tie­fer mit­ein­an­der ins Gespräch zu kom­men. – Es gilt, nicht ein­fach nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern alle erdenk­li­chen Posi­tio­nen vor­be­halt­los zu erör­tern. So wird die Sache selbst all­mäh­lich gemein­sam ent­wickelt und nicht sel­ten las­sen sich ihr ganz neue Sei­ten abge­win­nen. Man­ches erscheint dann in ande­rem Licht, so daß sich auch für die eige­ne Stel­lung­nah­me ganz neue Per­spek­ti­ven eröffnen.

Das Phi­lo­so­phi­sche Café ver­steht sich als Forum für eine Phi­lo­so­phie, die erst im gemein­sa­men Gespräch auf­kom­men kann. Das The­ma wird in der Regel nicht vor­ge­ge­ben, es ergibt sich zwang­los fast wie von selbst. Der Gang des Gesprächs ist offen und dabei ist es nicht so ent­schei­dend, wie sich ande­re Phi­lo­so­phen bereits dazu geäu­ßert haben. Gewiß ist es anre­gend zur Kennt­nis zu neh­men, was bereits gesagt wor­den ist, aber viel wich­ti­ger ist es, sich selbst beim gemein­sa­men Phi­lo­so­phie­ren zu erfahren.

Über­zeu­gun­gen sol­len nicht ein­fach nur ver­tre­ten, son­dern dar­ge­legt wer­den. Die Situa­ti­on ist hand­lungs­ent­la­stet, nichts muß beschlos­sen wer­den. Nie­mand muß sich über­zeu­gen las­sen, denn wir über­zeu­gen uns ohne­hin immer nur selbst. Ent­schei­dend ist, das eige­ne Den­ken an den Tag zu legen. Erst dann wird jene Frei­heit spür­bar, von der die Höhen­flü­ge der Phi­lo­so­phie getra­gen wer­den. – Phi­lo­so­phie hat eben auch ihre Pra­xis: Es ist die Freu­de dar­an, wie unter­schied­lich die Per­spek­ti­ven doch sein können.

Kaum eine davon ist ohne Berech­ti­gung, aber nur weni­ge davon spre­chen wirk­lich fürs Gan­ze. Es gibt vie­le aber nicht unend­lich vie­le Hinisch­ten, aus denen sich die­sel­be Sache betrach­ten läßt. Ent­schei­dend sind daher vor allem sol­che Hin­sich­ten, die in der Sache wei­ter brin­gen und hel­fen, bes­ser zu ver­ste­hen, wor­auf es ankom­men könnte.

Für den Gang sol­cher Unter­su­chun­gen präg­te Hegel das Bild vom Flug der Eule der Miner­va und bei Pla­ton fin­det sich die Alle­go­rie vom See­len­wa­gen. Die­se bezau­bern­den Bil­der bezeu­gen, wie innig die Phi­lo­so­phie allem zuge­tan ist, was Flü­gel ver­leiht, weni­ger um abzu­he­ben, son­dern um einen guten Über­blick und neue Ein­blicke zu erhal­ten. – Alles was Flü­gel ver­leiht, hat daher einen sym­bo­li­schen Bezug zur Phi­lo­so­phie, weil Federn zum Schrei­ben tau­gen, weil sie Gedan­ken beflü­geln und weil dann nur noch die not­wen­di­ge Seh‑, Erkennt­nis- und Urteils­kraft dazu gehört, um erken­nen zu kön­nen, was sich in der Däm­me­rung abzu­zeich­nen beginnt.

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Das ulti­ma­ti­ve Ziel sol­cher Rei­sen ist Pla­ton zufol­ge eine Expe­di­ti­on ins Reich der Ideen. Beim Aus­ritt zusam­men mit den Göt­tern über das nächt­li­che Fir­ma­ment alle 10.000 Jah­re kommt es dar­auf an, sehr schwe­re Him­mel­s­pas­sa­ge zu bestehen, mit einem all­zu mensch­li­chen Gespann aus einem guten und einem schlech­ten Pferd. Vie­le stür­zen dabei ab und fal­len unmit­tel­bar wie­der ins Sein ohne sich wie­der­erin­nern zu kön­nen. – Erst hin­ter die­ser schwie­ri­gen Him­mel­s­pas­sa­ge wür­de man zusam­men mit den Göt­tern die Ideen anschauen.

Es kommt dar­auf an, die Kunst des Schwe­bens zu beherr­schen. Dazu braucht es ‚Federn‘und die wach­sen nur denen die lie­ben, denn die Lie­be in ihrem hei­li­gen Wahn soll wie­der­um Ähn­lich­keit haben mit dem, wie denen zumu­te ist, die die Ideen erschau­en. Und Pla­ton zufol­ge ver­leiht gera­de die Phi­lo­so­phie sol­che Flü­gel, schließ­lich geht es ihr – nicht nur dem Namen nach, um die Lie­be zur Weisheit.

Sol­che Gesprä­che sind dazu ange­tan, die Sache selbst wie eine Feder durch den Atem aller, die mit­re­den und mit­den­ken, in der Schwe­be zu hal­ten, um beim gemein­sa­men Phi­lo­so­phie­ren wie im Flug ins Reich der Ideen unter­wegs zu sein.

Feder-big


Anthropologie der modernen Welt

Walter Crane: Die Rosse des Neptun. Neue Pinakothek München, Public Domain @ Wikimedia

Wal­ter Cra­ne: Die Ros­se des Nep­tun. Neue Pina­ko­thek Mün­chen, Public Domain @ Wiki­me­dia

Das multible Selbst

Die Göt­ter der Anti­ke sind wie die Stars unse­rer Tage, die Ster­ne von damals sind die Stern­chen von heu­te. Alle ihre ein­zel­nen Fähig­kei­ten, mit denen sie sich im Ver­lau­fe der Zeit ange­rei­chert haben, las­sen sich oft noch an den vie­len Bei­na­men erken­nen, es sind Spu­ren ver­ein­nahm­ter Häupt­lings­tü­mer, es sind die Gei­ster von Clans, Land­schaf­ten und Kul­tu­ren, die längst auf­ge­gan­gen sind im grö­ße­ren Gan­zen die­ser Göt­ter­ge­stal­ten. Gera­de Göt­ter ver­fü­gen über mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten, daher fällt es ihnen so leicht, in frem­der Gestalt auf­zu­tre­ten, um sich selbst dabei doch treu zu blei­ben. Daher beherr­schen sie das Spiel mit den Mas­ken. Beson­ders Zeus wech­selt ein ums ande­re Mal für Lie­bes­aben­teu­er äußerst spek­ta­ku­lär die eige­ne Gestalt: Er nähert sich sei­ner spä­te­ren Gat­tin Hera als durch­näß­ter, zit­tern­der Kuckuck, als Stier der Euro­pa, als Schwan der Leda, als gol­de­ner Regen der Danaë und um den Hera­kles zu zeu­gen, ver­wan­delt er sich in Amphi­try­on, den Gat­ten der Alkmene.

Göt­ter wie Zeus beherr­schen ein­fach die­ses bedeu­ten­de Kunst­stück, sich auch in frem­der Gestalt noch immer selbst treu zu blei­ben. Im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on wird nicht nur die Außen­welt, son­dern auch die Innen­welt immer wei­ter aus­dif­fe­ren­ziert. Mit der Zivi­li­sa­ti­on, Ratio­na­li­tät und Moder­ne geht daher stets auch ein Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se ein­her. Göt­ter haben uns dabei stets etwas vor­aus, sie ver­kör­pern die Idea­le, auf die es ankommt. Dem­entspre­chend läßt sich anhand der außer­or­dent­li­chen Fähig­kei­ten von Göt­ter die Zukunft der Psy­che able­sen. Das nun­mehr im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se anste­hen­de mul­ti­ple Selbst wird sei­ner­seits über die­se ent­schei­den­de gött­li­che Fähig­keit ver­fü­gen, sich anver­wan­deln zu können.

Die klas­si­schen Ein­wän­de dage­gen, das sei kei­ne Wahr­haf­tig­keit mehr, son­dern eben Insze­nie­rung, es sei kei­ne Authen­ti­zi­tät, son­dern nur Vor­spie­ge­lung im Spie­le, kön­nen nicht mehr ver­fan­gen. Wir haben nicht eine ein­zig wah­re Natur, das ein­zig ver­bind­li­che Selbst oder irgend­ei­ne fixier­te Iden­ti­tät in uns, die ehr­lich­keits­hal­ber nur zum Aus­druck gebracht wer­den muß, wäh­rend alles ande­re nur Lug und Trug sein wür­de. Die Fra­ge nach der Wahr­haf­tig­keit eines Got­tes, der eine Meta­mor­pho­se voll­zo­gen hat, ist unan­ge­bracht, es kommt dar­auf an, was sich in der Wahr­neh­mung ereig­net. Ent­schei­dend ist das Erle­ben, etwa einem Schau­spie­ler abneh­men zu kön­nen, was er vor­gibt zu sein.

Wir alle spie­len Thea­ter, was eben nicht bedeu­tet, daß es uns nicht ernst damit wäre. Das Mas­ken­spiel ist dabei mehr als nur eine aus­ge­zeich­ne­te Meta­pho­rik für das, was sich da eigent­lich ereig­net, es ist der Bruch mit der nai­ven Erwar­tung, daß wir immer die­sel­ben sind und es auch blei­ben. Wer eine Mas­ke auf­setzt, über­nimmt eine Rol­le, wird somit zu jemand Ande­ren, wech­selt also die Identität.

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