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Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Moderne

»Ich fürchte mich vor der Menschen Wort«

Wilhelm Otto Peters: Nero im Circus.

Wil­helm Otto Peters: Nero im Cir­cus. Holz­stich, um 1900, kolo­riert, nach dem Gemäl­de von Wil­helm Otto Peters. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Com­mons. — Der Dau­men als Zei­chen des Mit­ge­fühls: Mit dem nach unten zei­gen­den Dau­men signa­li­siert Nero den Gla­dia­to­ren in der Are­na »kein Mit­ge­fühl« zu zei­gen — ganz im Gegen­satz zum nach oben gestreck­ten Dau­men, der »Mit­ge­fühl« signalisiert.

Bewußt­sein kommt nur zustan­de, wenn das, was bewußt wer­den soll, auf irgend­ei­ne Wei­se auch reprä­sen­tiert wer­den kann. Spie­gel­zel­len machen der­weil die eige­ne Selbst­wahr­neh­mung zum Medi­um, der Ande­re wird teil­wei­se gespie­gelt in der Wahr­neh­mung des eige­nen Kör­pers. Es scheint dann so, als wür­de der Beob­ach­ter zu dem, was eigent­lich nur beob­ach­tet wird. Dabei arbei­tet das System der Spie­gel­neu­ro­nen ganz offen­bar mit Pro­jek­tio­nen, die vom moto­ri­schen System aus­ge­hen, um dann über das Ner­ven­sy­stem gewis­se Wahr­neh­mun­gen zu simulieren.
Emo­tio­nen wer­den dabei auf Bewe­gungs­mu­ster ›gelegt‹. Das besagt dann auch der Begriff ›Map­ping‹, was eben bedeu­tet, daß etwas auf etwas ande­res gelegt wird. So wird das Radio­si­gnal des Sen­ders auf eine Radio­wel­le gleich­sam ›oben‹ zusätz­lich noch ›drauf‹ gege­ben. Rein tech­nisch wer­den sol­che Ver­fah­ren als Modu­la­ti­on beschrie­ben, und in die­sem Sin­ne läßt sich nach­voll­zie­hen, wie auch die Spie­gel­zel­len die eige­ne Wahr­neh­mung so modu­lie­ren, bis sie sich öff­net für die Wahr­neh­mung Anderer.
Es ist aller­dings bemer­kens­wert, daß wir oft nur etwas sehen müs­sen, um es zu ver­ste­hen, zu füh­len und zu mit­emp­fin­den. So wird dann die Empa­thie zur Erfah­rung am eige­nen Leib und wir kön­nen uns vor­stel­len, wie sich etwas anfühlt, auch wenn wir gar nicht selbst betrof­fen sind. Das alles ist für die Ima­gi­na­ti­on, für das Erzäh­len und nicht zuletzt auch für das Ler­nen von unge­heu­rer Bedeu­tung, denn wir kön­nen auf die­se Wei­se zu Erfah­run­gen kom­men, ohne sie selbst je erle­ben zu müssen.
Was in der Hirn­for­schung als Map­ping beschrie­ben wird, dem ent­spricht in der Kul­tur­wis­sen­schaft die Meta­pher , denn auch hier wird ein zumeist ganz kon­kre­ter Sinn ›über­tra­gen‹ und etwas ande­rem bei­gelegt. Durch die Wahl und den Ein­satz einer ange­mes­se­nen Meta­pho­rik wird das Ver­ste­hen und vor allem die Ver­stän­di­gung oft über­haupt erst ermög­licht. Und hier geht es ganz offen­bar dar­um, daß ein ›höhe­res‹ Bewußt­sein die Rou­ti­nen eines ande­ren Bewußt­seins jeweils mit ganz bestimm­ten Sinn­mu­stern belegt. So wer­den dann Bewe­gungs­mu­ster mit Emo­tio­nen ver­knüpft, die sich dann ihrer­seits wie­der­um als Bewegt­heit iden­ti­fi­zie­ren las­sen. Dann kön­nen wir uns nicht mehr nur vor­stel­len, wie wir uns bewe­gen. Wir kön­nen dar­über hin­aus auch Vor­stel­lun­gen dar­über haben, ›bewegt‹ zu wer­den — eben durch Empa­thie, durch Emotionen.
Die Fra­ge, was eigent­lich Bewußt­sein ist und wie es zustan­de gebracht wird, bekommt auf die­se Wei­se ihren ein­schlä­gi­gen Modell­cha­rak­ter. Bewußt­sein ist immer Bewußt­sein von etwas, daher muß erwar­tet wer­den, daß die­ses Etwas dann auch in Erschei­nung tritt und wahr–genommen wer­den kann. — Aber mit der Ein–Sicht ist das so eine Sache: Vie­les ist uns ver­bor­gen und dann ver­sa­gen auch noch die Wor­te, weil sie immer sofort alles fest­le­gen. Kein Wun­der also, daß das Reden gera­de dann beson­ders schwer fällt, wenn, was zu sagen wäre, höchst hei­kel erscheint, und wenn wir befürch­ten müs­sen, gar nicht ver­stan­den zu wer­den oder uns vor­schnell und falsch festzulegen.
Oft haben wir uns selbst und die Situa­ti­on noch gar nicht ver­stan­den. Dann feh­len die Wor­te, so daß es unmög­lich erscheint, über­haupt irgend­et­was zu sagen, und trotz­dem sol­len wir uns erklä­ren, beken­nen und fest­le­gen. Aber die unter­schied­lich­sten Moti­ve, Emo­tio­nen und Wert­vor­stel­lun­gen lie­gen im Hader mit­ein­an­der wie die glück­li­chen Göt­ter Athens. In ihrer Gesamt­heit ver­kör­pern sie die Eigen­tüm­lich­kei­ten der ver­schie­den­sten Per­spek­ti­ven und ste­hen dafür mit ihrem Cha­rak­ter ein.
Die Viel­falt die­ser Mög­lich­kei­ten, ein– und die­sel­be Sache auch ganz anders sehen zu kön­nen, macht gelin­gen­des Ver­ste­hen so schwie­rig. Daher ist es nicht ein­fach, sich selbst zu the­ma­ti­sie­ren und die Ver­hält­nis­se syste­ma­tisch zu erör­tern. Das kann nur gelin­gen, wenn die unter­schied­lich­sten Momen­te zur Spra­che gebracht wer­den, um sich über alle mög­li­chen Moti­ve und Emo­tio­nen zu ver­stän­di­gen. — Kul­tur und Zeit­geist spie­len dabei eine ganz gro­ße Rol­le, denn immer­zu herr­schen bestimm­te Vor­bil­der, Vor­stel­lun­gen oder Muster­gül­tig­kei­ten vor und nicht sel­ten sind Erwar­tun­gen oder auch Erwar­tungs­er­war­tun­gen wie bei­spiels­wei­se Idea­le und Wert­vor­stel­lun­gen im Spiel.
Erst was zur Spra­che gebracht, mit­ge­teilt und auch ver­stan­den wur­de, ist wirk­lich in der Welt. Alles ande­re ist und bleibt sche­men­haft im Nebel aller Mög­lich­kei­ten zurück. Solan­ge die rich­ti­gen Wor­te noch feh­len, besteht noch die Hoff­nung, daß sie gefun­den und zur Spra­che gebracht wer­den. Wo aber bereits die fal­schen Wor­te aus­ge­spro­chen wor­den sind, dort beherr­schen Irr­tü­mer die Sze­ne­rie wie ein böser Fluch, was oft nicht ein­mal bemerkt wird. — Dabei ist es gera­de­zu skan­da­lös, was Wor­te den Phä­no­me­nen antun kön­nen: Sie spie­ßen die Sachen wie Schmet­ter­lin­ge auf, kle­ben ihr Eti­kett dar­un­ter und behaup­ten, man habe damit wirk­lich alles im Griff. Tat­säch­lich ist jedoch das Leben ent­wi­chen, die See­le ist nicht mehr vor Ort und nur etwas Totes bleibt dann zurück.

Ich fürch­te mich so vor der Men­schen Wort.
Sie spre­chen alles so deut­lich aus:
Und die­ses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

In die­sem Gedicht aus dem Jah­re 1897 beschwört Rai­ner Maria Ril­ke eine Angst vor dem defi­ni­to­ri­schen Gebrauch der Wör­ter, wie ihn nur Poe­ten und Phä­no­me­no­lo­gen tei­len kön­nen. — Wor­te machen die Din­ge ver­füg­bar und ver­scheu­chen den Geist, der uns eigent­lich fas­zi­niert. Man glaubt, sich erklä­ren, sich ver­ständ­lich machen zu müs­sen und erreicht nicht sel­ten das Gegen­teil von alle­dem, so daß sich Ver­ste­hen in Ver­feh­len ver­wan­delt. — Daher soll­te die Empa­thie im Hin­ter­grund ste­hen, um zu erfüh­len, ob die Wor­te tat­säch­lich auch tun, was sie sol­len oder ob sie nur eigen­mäch­tig über alles her­fal­len, was ihnen nicht paßt.
Wäh­rend die erste Stro­phe noch über die Angst spricht, wird in der näch­sten die Ankla­ge eröff­net um dann in der drit­ten den Apell vor­zu­brin­gen, die Welt der Din­ge gegen die Ansprü­che des Benen­nens und Aus­spre­chens in Schutz zu neh­men. — Ohne­hin ist die Welt selt­sam falsch moti­viert durch Wahr­neh­mungs­mu­ster, die mit der Moder­ne auf­ge­kom­men sind und die seit­her den Zeit­geist und damit das Sehen, Füh­len und Den­ken auf selt­sa­me Wei­se ver­fäl­schen, so daß das das Leben­di­ge stumm und das Star­re leben­dig erscheint.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wis­sen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Gar­ten und Gut grenzt gra­de an Gott.

Ich will immer war­nen und weh­ren: Bleibt fern.
Die Din­ge sin­gen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Din­ge um.


Empathie

Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken. Österreichische Galerie Belvedere, Wien.

Hans Makart: Die fünf Sin­ne. Hören, Sehen, Rie­chen, Schmecken. Öster­rei­chi­sche Gale­rie Bel­ve­de­re, Wien.

Wer sich mit Äußer­lich­kei­ten zufrie­den gibt und glaubt, auf die­ser Grund­la­ge bereits umfas­sen­de Urtei­le abge­ben zu kön­nen, wird nur ange­paß­tes Den­kens zele­brie­ren. Da ist die­ser Hang, sich nie und nim­mer per­sön­lich auf die Sachen selbst ein­zu­las­sen. Es scheint, als wür­de man bereits ahnen, daß vie­le Gefah­ren damit ein­her­ge­hen, woll­te man dem Anspruch auf per­sön­li­che Urtei­le tat­säch­lich gerecht wer­den. Aber nichts der­glei­chen fin­det wirk­lich statt: Das Den­ken wird nicht auf­ge­schlos­sen, son­dern, noch ehe es über­haupt in Gang gekom­men ist, sofort wie­der still­ge­stellt und auf Üblich­kei­ten fixiert. Eige­nes Den­ken, Auf­merk­sam­keit, Empa­thie, — alles was mit hohem, höhe­rem oder höch­stem Anspruch daher­kommt, ist dann nur noch Attitüde.
Die Kunst, sich des eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen, kommt in der Regel nicht ein­mal im Ansatz zur Anwen­dung. In den herr­schen­den Dis­kur­sen geht es zumeist nur dar­um, sich gemein­schaft­lich zu erre­gen, sich an Feind­bil­dern zu ori­en­tie­ren, vor allem an jenen, die ganz gefähr­lich anders sind. Aber die eigent­li­chen Gefah­ren kom­men gar nicht von außen, son­dern von innen. Es sind Äng­ste im Spiel, die sich vor den unend­li­chen Wei­ten, vor den Unbe­re­chen­bar­kei­ten und Unge­wiß­hei­ten in der eige­nen Psy­che her­rüh­ren. Der Ungrund wird sehr wohl gespürt und geahnt, daß es gar kei­ne Gewiß­hei­ten sind, von denen wir getra­gen wer­den. — Wer sich wirk­lich auf das offe­ne Den­ken ein­läßt, wird sich selbst über­zeu­gen, über­ra­schen, ja sogar über­ho­len, wird immer weni­ger Par­tei­gän­ger, wird sich statt­des­sen auf die Äng­ste im eige­nen Inne­ren ein­las­sen müssen.

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Die Masken der Götter

Lawrence Alma--Tadema: Sappho and Alcaeus. - Quelle: Public domain via Wikimedia.

Law­rence Alma–Tadema: Sap­pho and Alcae­us. – Quel­le: Public domain via Wikimedia.

Göt­ter als Repräsentanten

Es scheint, als hät­ten sich in der Ent­wick­lungs­ge­schich­te von Theo­ge­ne­se und Psy­cho­ge­ne­se zunächst alle erdenk­li­chen Natur­gei­ster zusam­men­tun müs­sen, um Göt­ter ent­ste­hen zu lassen. 

Jeder Gott reprä­sen­tiert vie­le Zustän­dig­kei­ten, die allein anhand der Bei­na­men man­cher Göt­ter eine erstaun­li­che Ämter­häu­fung erah­nen lassen. 

Die Göt­ter, wie wir sie aus der Mytho­lo­gie ken­nen, sind kom­ple­xe Per­sön­lich­kei­ten mit einer Viel­falt an Iden­ti­tä­ten, in einem Zusam­men­spiel unter­schied­lich­ster Ide­al­vor­stel­lun­gen ver­schie­den­ster Her­kunft. Sie reprä­sen­tie­ren eben, wor­an vie­len Men­schen immer wie­der sehr gele­gen war.

Göt­ter ver­kör­pern mit ihrem Cha­rak­ter, wofür sie alle­go­risch ein­ste­hen. Nicht nur die Mythen, auch ihre Figu­ren gehen schließ­lich mit der Zeit. Ihre Deu­tung ist stets abhän­gig vom Zeit­geist, und doch ist da immer etwas, das die Zeit über­dau­ert. So läßt sich das Göt­ter­paar Zeus und Hera als Alle­go­rie auf das Selek­ti­ons­prin­zip einer jeden Markt­ge­sell­schaft deu­ten. — Wäh­rend Zeus immer nur ›zeugt‹ und ein Unter­neh­men nach dem ande­ren ›grün­det‹, trach­tet die Gat­tin und Schwe­ster Hera allen hoff­nungs­vol­len Errun­gen­schaf­ten stets nach dem Leben. 

Der­weil wür­de Her­mes zwei­fels­oh­ne heu­te das Inter­net ver­kör­pern, wäh­rend der grie­chi­sche Ares und sein römi­scher Kol­le­ge Mars den Krieg ein­mal von innen als trau­ma­ti­sie­ren­des Kno­chen­bre­chen, dann aber auch von außen als zyni­sches Geschäft zur Dar­stel­lung brin­gen. Und unlängst ist Roman Polań­ski mit mar­kan­ten Brü­chen im Spielfilm–Bühnenstück und Erotik–Drama Venus im Pelz, im ful­mi­nan­ten Wech­sel­spiel eines Macht­kamp­fes um Lie­be und Unter­wer­fung, die Epi­pha­nie einer Göt­tin gelun­gen. — Es sind näm­lich eini­ge Selt­sam­kei­ten, also ›Wun­der‹ zu ver­zeich­nen, die sich alle­samt ›erklä­ren‹ las­sen, wenn ange­nom­men wird, man habe es bei der Figur der Van­da tat­säch­lich mit einer Erschei­nung der Venus zu tun.

Göt­ter las­sen sich auch als System–Charaktere betrach­ten. Sie sind, wie sie sind und sie tun, was sie nun ein­mal tun müs­sen, ändern läßt sich da nichts. — Wenn wir also mit ihnen hadern, daß sie sind, wie sie sind, dann hadern wir eigent­lich mit uns, denn wir haben die Insti­tu­tio­nen so und nicht anders erschaf­fen. Auch sind wir nicht Geschöp­fe der Göt­ter, son­dern die Göt­ter sind Geschöp­fe von uns. 

Es wäre daher tun­lichst anzu­ra­ten, den Göt­tern ande­re, huma­ne­re, lie­bens­wür­di­ge­re Cha­rak­te­re zuzu­ge­ste­hen. Dann ver­lie­ren auf lan­ge Sicht viel­leicht auch man­che unse­rer Insti­tu­tio­nen ihren inhu­ma­nen Cha­rak­ter. Die olym­pi­schen Göt­ter set­zen sich aus vie­len vor­ma­li­gen Lokal­gott­hei­ten zusam­men, daher haben sie alle erdenk­li­chen Kom­pe­ten­zen, was aller­dings auch zu Über­schnei­dun­gen in der Zustän­dig­keit führt. Es kommt daher immer wie­der unter ihnen zu Kompetenz–Streitigkeiten, die sich aber einer wie Odys­seus sehr gut zunut­ze zu machen versteht.

Das ist das Neue am Neu­en Men­schen, den Göt­tern gegen­über­zu­tre­ten, wie zuvor bereits den Tie­ren in der Natur, als Trick­ster. Sisy­phos, der mit List und Tücke den tum­ben Tod über­li­stet und womög­lich noch in der ihm auf­er­leg­ten Stra­fe heim­lich Erfül­lung fin­det, wird nicht von unge­fähr mit­un­ter auch als Vater des Odys­seus gesehen. 

Mit der Figur des Trick­sters wird die Ambi­va­lenz gewahrt, denn der Schelm ist bei­des, das, was er vor­gibt zu sein und das, was er auch immer noch ist. Zumeist ist er schwach wie der Fuchs im Mär­chen, der sich not­ge­drun­gen immer wie­der eine List ein­fal­len läßt. — Ob in der Natur, Gei­stern und Tie­ren gegen­über oder aber in der Kul­tur gegen­über Göt­tern und Insti­tu­tio­nen, immer­zu kommt es auf Mime­sis an.

Wer Tie­re über­li­sten, Gei­ster rufen und dienst­bar machen will, muß gut beob­ach­ten, um sich ihnen in ange­mes­se­ner Gestalt nähern zu kön­nen. Wer mit Göt­tern zu Gericht geht, wird sich eini­ges ein­fal­len las­sen müs­sen, die eige­nen Schwä­chen in Stär­ken zu ver­wan­deln. — Göt­ter ent­la­sten, gera­de weil sie so über­mensch­lich ide­al sind. Daher ver­fü­gen sie über das, was dem Bösen nur hin­zu­ge­ge­ben wer­den müß­te, so daß es aus dem Man­gel­zu­stand herauskommt. 

Dann könn­te es end­lich zu dem wer­den, was es zu sein ver­hin­dert ist, durch Man­gel an Sein und Bewußt­sein. Dann könn­te Eifer­sucht zur Lie­be, Neid zur Aner­ken­nung, Sucht zur Erfül­lung und Ver­zweif­lung zur Zuver­sicht wer­den. Vor allem könn­ten dann auch die men­schen­ge­mach­ten Rache­göt­ter sich end­lich ver­wan­deln und den glück­li­chen Göt­tern des Epi­kur himm­li­sche Gesell­schaft lei­sten. — Erstaun­li­che gedank­li­che Figu­ren erge­ben sich und neue Mög­lich­kei­ten, Psy­cho­lo­gie zu betrei­ben, wenn wir Göt­ter zwar als Pro­jek­tio­nen betrach­ten, als sol­che aber ernst nehmen.

In Mythen und Mär­chen ist es immer wie­der der Trick­ster, dem das Unmög­li­che gelingt. Her­mes ist einer von ihnen, eben­so wie Pro­me­theus, der sei­ne Schütz­lin­ge erst auf die Idee mit dem Opfer­be­trug bringt. — Men­schen sind Trick­ster, sie wol­len sehen ohne gese­hen zu wer­den. Sie machen im Ver­bor­ge­nen ihre Beob­ach­tun­gen und rät­seln dann über das, was sie gese­hen haben. Sobald die Spra­che zur Ver­fü­gung steht, wird dar­über gere­det. Einst­wei­len ist es auch mög­lich, zu gesti­ku­lie­ren, zu spie­len und zu demon­strie­ren, was gese­hen wur­de und was es womög­lich bedeu­ten könnte. 

All­mäh­lich wer­den Ritua­le dar­aus, Tän­ze, Unter­wei­sun­gen und Ein­wei­sun­gen, um sich ver­traut zu machen mit dem, wor­auf es ankommt, wenn die Gestalt gewech­selt wird, wenn ein ande­rer Geist auf­kom­men soll, etwa der Geist des Büf­fels oder auch der des Mam­mut. — Men­schen wech­seln ihre Gestalt. Mas­ken sind dabei weit mehr als Ver­klei­dung und bei­lei­be kein Spiel. Ent­schei­dend ist Mime­sis, wenn es gilt, sich in ande­re Wesen hin­ein­zu­ver­set­zen, sich anzu­ver­wan­deln, um den frem­den Geist zu verstehen.

Der Trick­ster ist in der Lage, ein ande­rer zu wer­den, kaum anders als ein Tore­ro beim Trai­ning, wenn eine Schub­kar­re mit Hör­nern den leib­haf­ti­gen Kampf­stier ersetzt. Seit eh und je sind scha­ma­ni­sti­sche Ritua­le, Tän­ze und Zere­mo­nien dar­auf aus, sich von der eige­nen Natur abzu­set­zen und frem­de Gestalt anzu­neh­men, um sich über die Gren­zen der eige­nen Welt zu erheben. 

Die Tier­mas­ken der Scha­ma­nen sind dazu ange­tan, den Geist, auf den es jeweils ankommt, ange­mes­sen in Sze­ne zu set­zen, um ihn erle­ben, ver­ste­hen und viel­leicht auch beschwö­ren zu kön­nen. Alles, was vor­mals noch von Gei­stern ›drau­ßen‹ reprä­sen­tiert wur­de, wird im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se inter­na­li­siert. Was zuvor noch im Äuße­ren leib­haf­tig erfahr­bar schien, ver­stummt dort, nur um sich ›innen‹ wie­der ver­neh­men zu las­sen. — Nichts geht ver­lo­ren, alle Instan­zen, Kräf­te und Moti­ve tre­ten spä­ter im Inne­ren der Gesell­schaft und schluß­end­lich auch in der Psy­che eines jeden Ein­zel­nen wie­der auf. Und es wer­den immer mehr Stim­men, weil die Welt selbst immer viel­fäl­ti­ger wird.

Seit Anbe­ginn der Zivi­li­sa­ti­on wur­den umlie­gen­de Häupt­lings­tü­mer syste­ma­tisch annek­tiert und mit ihnen auch die ein­schlä­gi­gen Kul­te. Die ehe­ma­li­gen Clan­g­ei­ster wer­den dabei fusio­niert und gewin­nen immer mehr an Gestalt. All­mäh­lich ent­wickeln sie mensch­li­che Glied­ma­ßen und tra­gen vor­erst noch Tier­köp­fe, die sich jedoch immer wei­ter redu­zie­ren, zunächst zur Per­so­na, dann zur Mas­ke. Wenn sie ihre Mas­ken lüf­ten, so kommt dar­un­ter ein mensch­li­ches Gesicht zum Vor­schein. — Grie­chi­sche Göt­ter öff­nen schließ­lich das ›Visier‹. Wenn sie ihre Mas­ken auf die Stirn hoch­schie­ben, wir­ken sie wie Schau­spie­ler in der Umbau­pau­se. Sie sind ganz offen­bar längst zu Inter­pre­ten und Dar­stel­lern ihrer selbst geworden.

Es ist auf­fäl­lig, wie kon­se­quent in der grie­chi­schen Anti­ke die Mas­ken der Göt­ter gelüf­tet und auf die Stirn hoch­ge­scho­ben wer­den. Die Annah­me der Eben­bild­lich­keit ist inso­fern nicht von der Hand zu wei­sen: Nur sind nicht wir es, die gött­li­che Züge tra­gen, viel­mehr sind Göt­ter mensch­li­che Eben­bil­der. — Aller­dings sind Göt­ter kei­ne Men­schen, sie sind idea­le, glück­li­che und voll­kom­me­ne Wesen. Und als Schöp­fer aller die­ser Pro­jek­tio­nen soll­ten wir uns selbst in jedem Ein­zel­nen von ihnen wiedererkennen …

Die Göt­ter sind tot und leben doch in unse­ren Innen­wel­ten, in den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen immer wei­ter. Wir täten gut dar­an, ihnen in ihrer ver­wir­ren­den Viel­falt unse­re Refe­renz zu erwei­sen, denn das ist der Sinn von Ver­nunft. In ihrem Namen soll­te, was auch immer sie in ihrer Viel­falt ver­kör­pern, als Ide­al gese­hen und ange­mes­sen gewür­digt wer­den. Ihr Pan­the­on ist der Geist der Dis­kur­se, ihre Viel­heit ist die Viel­falt der Vernunft.


Ökologie im Diskurs

Ökologie im Diskurs.
Studien zu Grundfragen der Anthropologie, Ökologie
und zur Ethik der Wissenschaften

Drei mög­li­che Begrün­dungs­ebe­nen las­sen sich unter­schei­den, auf die sich Moti­ve für Natur­schutz zurück­füh­ren las­sen: natur­wis­sen­schaft­li­che–, ästhe­ti­sche– und ethi­sche Begrün­dun­gen. Die­se drei mög­li­chen Per­spek­ti­ven wer­den aller­dings, anders als zu erwar­ten wäre, weder gleich­be­rech­tigt noch gleich­ran­gig ange­nom­men; es läßt sich ein Hang zur erste­ren, der natur­wis­sen­schaft­li­chen Argu­men­ta­ti­on beob­ach­ten, wenn Moti­ve fur Natur­schutz begrün­det wer­den sol­len. Gleich­falls ist eine gewis­se Scheu vor ästhe­ti­schen oder ethi­schen Kri­te­ri­en zu beob­ach­ten; letz­te­re ver­küm­mern gera­de­zu, wenn ihnen aus Grün­den, die wir prü­fen wol­len, allen­falls noch der Sta­tus von Hilfs­ar­gu­men­ten ein­ge­räumt wird.

In der Tat sind die­se drei Begrün­dungs­ebe­nen nicht gleich­ran­gig. Die allein mit ästhe­ti­schen und ethi­schen Sät­zen for­mu­lier­ba­ren Kri­te­ri­en qua­li­ta­ti­ver Natur sind, sofern sie tat­säch­lich qua­li­ta­ti­ve Momen­te aus­for­mu­lie­re, immer schon dem natur­wis­sen­schaft­li­chen und quan­ti­fi­zie­ren­den Zugriff ent­zo­gen; sie sind nicht gleich­ran­gig, weil sie auf ver­schie­de­nen Erkennt­nis­ebe­nen ope­rie­ren, aber sie sind gleich­be­rech­tigt. — Begrün­dun­gen, war­um etwa ein Baum, eine Tier­art, eine bestimm­te Land­schaft oder z.B. die Wäl­der des Ama­zo­nas zu schüt­zen sei­en, las­sen sich bei­spiel­haft für alle drei Ebe­nen ange­ben: Weil der Baum z.B. Sau­er­stoff pro­du­zie­re oder weil Abhol­zen der Amazonas–Wälder das glo­ba­le Kli­ma gefähr­de, weil der Baum und sei­ne cha­rak­te­ri­sti­sche Land­schaft dem Men­schen Erleb­nis­se äuße­rer und inne­rer Erfah­rung ermög­li­che, die unwie­der­bring­lich ver­lo­ren wären, und schließ­lich, weil es dem Men­schen nicht erlaubt sei ohne Not zu töten, weil jedes Lebe­we­sen ein allein durch sei­ne Exi­stenz ver­brief­tes Recht auf art­ge­rech­tes Leben habe und weil im Fal­le der Zer­stö­rung der Ama­zo­nas­wäl­der den dort leben­den India­nern die Exi­stenz­grund­la­ge genom­men wäre.

Cha­rak­te­ri­stisch für die natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­te Begrün­dungs­ebe­ne sind Argu­men­te, die einen bestimm­ten Zweck als not­wen­dig vor­aus­set­zen (Vor­der­satz) und dann im Rah­men einer Wenn–dann–Folge die Gefähr­dung oder mög­li­che Zer­stö­rung eines als zweck­ra­tio­nal aner­kann­ten lebens­not­wen­di­gen Zusam­men­hangs begrün­den (Schluß­satz). Ein der­ar­ti­ges Argu­men­ta­ti­ons­mu­ster insi­stiert stets auf die zwin­gen­de Not­wen­dig­keit uner­wünsch­ter Fol­gen. Weit­aus schwie­ri­ger las­sen sich Begrün­dungs­zu­sam­men­hän­ge unter ästhe­ti­schen oder ethi­schen Gesichts­punk­ten gestal­ten, wenn erwar­tet wird, sie soll­ten eben­falls Schluß­fol­ge­run­gen ermög­li­chen, die zwin­gend not­wen­dig sind. Es kann aber von Sinn­zu­sam­men­hän­gen gera­de nicht ohne wei­te­res erwar­tet wer­den, daß sie zweck­ra­tio­na­le Schluß­sät­ze begrün­den, dazu sind sie nicht prä­de­sti­niert, denn sinn­haf­te und sinn­vol­le Argu­men­te wer­den mit­un­ter gera­de durch ein Rela­ti­vie­ren von Zwecken erst möglich.

An der Not­wen­dig­keit öko­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen in den Natur­wis­sen­schaf­ten scheint nie­mand mehr ernst­haft zwei­feln zu wol­len, es kommt nun­mehr dar­auf an, auch die Gei­stes­wis­sen­schaf­ten mit ein­zu­be­zie­hen. Was ange­sichts anthro­po­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen gelang, muß auch in der Öko­lo­gie gelin­gen; not­wen­dig ist der mul­ti­dis­zi­pli­nä­re Dis­kurs der Öko­lo­gie, wobei die Zahl der hier zu betei­li­gen­den Wis­sen­schaf­ten aller­dings bedeu­tend gro­ßer wäre. Dabei muß es den ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen zunächst im Rah­men ihrer jewei­li­gen Zustän­dig­keit selbst über­las­sen blei­ben, ihre je eige­nen Kri­te­ri­en zur Bestim­mung des Öko­lo­gi­schen zu ent­wickeln. Im Vor­feld der Dis­kur­se muß die Möglich­keit zur Selbst­be­stim­mung gewähr­lei­stet sein, Über­grif­fe oder vor­schnel­le Ver­bin­dun­gen sind abzu­leh­nen; eine Begren­zung des­sen was Öko­lo­gie ist, kann nur in Abhän­gig­keit von der jewei­li­gen Fra­ge­stel­lung, also von Fall zu Fall rat­sam sein, im Grun­de aber ist die­ser Dis­kurs als mul­ti­dis­zi­pli­nä­rer offe­ner denn je. Wenn zudem noch öko­lo­gi­sche Dis­zi­pli­nen den Men­schen mit ein­be­zie­hen sol­len, und sie wer­den nicht umhin kön­nen die­ses zu tun, so tre­ten neben die Kri­te­ri­en der phy­si­schen Natur zusätz­lich sol­che der psychischen–.

Zur psy­chi­schen Natur des Men­schen gehört die Mög­lich­keit ästhe­ti­scher Erfah­rung, eine Fähig­keit, die unter bestimm­ten Umstän­den auf­tritt, die unter den Erschwer­nis­sen ent­frem­de­ter Lebens­ver­hält­nis­se die per­so­na­le Inte­gra­ti­on durch das Erle­ben von Ganzheits–Erfahrungen gewähr­lei­sten kann. So wie das Indi­vi­du­um sei­ner­seits sei­ne Ent­ste­hung einem bestimm­ten histo­ri­schen und topo­gra­phi­schen Ort ver­dankt, so ist auch die Wahr­neh­mung des Natur­schö­nen ihrer­seits an Vor­aus­set­zun­gen gebun­den, die bedingt erfüllt sein müs­sen, bevor eine Land­schaft in Abse­hung vom Zweck als schön emp­fun­den wer­den kann…

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Energie und Ethik

Leitbilder im philosophischen Diskurs

Rio de Janei­ro, Ber­lin, Kio­to und Bue­nos Aires — wei­te­re Kon­fe­ren­zen der UNO wer­den hin­zu­kom­men in dem Bemü­hen um inter­na­tio­nal ver­bind­li­che Ver­ein­ba­run­gen zum Schutz der Erd­at­mo­sphä­re. Die Ver­bren­nung fos­si­ler Ener­gie­trä­ger wie Koh­le, Gas oder Öl im der­zei­ti­gen Umfang führt zu erhöh­ten Kon­zen­tra­tio­nen von Koh­len­di­oxid in der Atmo­sphä­re, wodurch aller Vor­aus­sicht nach das Kli­ma der Erde ent­schei­dend ver­än­dert wird. Als Fol­ge erwar­ten die mei­sten Exper­ten eine Tem­pe­ra­tur­er­hö­hung und damit die Aus­deh­nung von Trocken­ge­bie­ten, eine Erhö­hung des Mee­res­spie­gels sowie die Zunah­me von Wir­bel­stür­men, Über­schwem­mun­gen und extre­men Wet­ter­la­gen. Um die damit ein­her­ge­hen­den Fol­gen abzu­mil­dern, ver­sucht die inter­na­tio­na­le Staa­ten­ge­mein­schaft, Reduk­ti­ons­zie­le für CO2 fest­zu­le­gen. So hat sich bei­spiels­wei­se Deutsch­land ver­pflich­tet, 25% bei der CO2 –Emis­si­on bis zum Jah­re 2005 ein­zu­spa­ren. Aller­dings sind die­se Maß­nah­men nicht unum­strit­ten, denn die Simu­la­tio­nen der zukünf­ti­gen Kli­ma­ent­wick­lung geben immer noch hin­rei­chend Raum für Inter­pre­ta­ti­on und Spekulation.

Heinz--Ulrich Nennen, Georg Hörning (Hrsg.): Energie und Ethik. Leitbilder im philosophischen Diskurs. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1999.

Heinz–Ulrich Nen­nen, Georg Hör­ning (Hrsg.): Ener­gie und Ethik. Leit­bil­der im phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs. Cam­pus-Ver­lag, Frank­furt am Main 1999.

Auch natür­li­che Kli­ma­schwan­kun­gen sind erheb­lich. Eis­zei­ten, Zwi­schen­eis­zei­ten, Wär­me– und Käl­te­pe­ri­oden, mit­un­ter aus­ge­löst durch Meteo­ri­ten­ein­schlag, sind immer wie­der zu ver­zeich­nen gewe­sen. Die­sen Kata­stro­phen sind gan­ze Kul­tu­ren zum Opfer gefal­len, aller­dings sind sie ohne das Hin­zu­tun des Men­schen ein­ge­tre­ten. Die Mög­lich­keit einer anthro­po­ge­nen glo­ba­len Kli­ma­än­de­rung ist dage­gen ein abso­lu­tes Novum in der Erd­ge­schich­te. Mitt­ler­wei­le befas­sen sich Ver­si­che­rungs­un­ter­neh­men in wohl­ver­stan­de­nem Eigen­in­ter­es­se ver­stärkt mit Maß­nah­men zur Vorsorge.

Selbst wenn die Welt­kli­ma­mo­del­le auf abseh­ba­re Zeit kei­ne dezi­dier­ten Vor­her­sa­gen erlau­ben soll­ten, so wäre es auch aus ande­ren Grün­den sinn­voll, nach Wegen zu suchen, den Ein­satz fos­si­ler Ener­gie zu begren­zen. Im Gegen­teil, es wäre begrün­dungs­pflich­tig, den bis­he­ri­gen Ein­satz die­ser Ener­gien im gewohn­ten Umfang bei­zu­be­hal­ten, obwohl Alter­na­ti­ven zur Ver­fü­gung ste­hen. Kon­kret stellt sich damit die Fra­ge glo­ba­ler Umwelt­ver­än­de­run­gen als Her­aus­for­de­rung an das Gestal­tungs­ver­mö­gen vor Ort. Die Moti­ve sind viel­fäl­ti­ger Natur, sie rei­chen von der Sor­ge um den Ver­lust an Lebens­qua­li­tät bis hin zu wirt­schaft­li­chen, sozia­len und ent­wick­lungs­po­li­ti­schen Anliegen.

Das Problem

Es sind nicht ledig­lich Fra­gen der Tech­nik ange­spro­chen, wenn es um die Gestal­tung zukünf­ti­ger Ener­gie­sy­ste­me geht. Das wird beson­ders dort deut­lich, wo unter­schied­li­che Ver­ständ­nis­se von Ver­zicht auf­ein­an­der tref­fen. Allein die Dif­fe­ren­zie­rung, ob es sich um ein Ver­zich­ten müs­sen oder um ein Ver­zich­ten kön­nen han­delt, ist bezeich­nend für die Ebe­ne auf der sich der Energie–Diskurs bewegt. Wel­che Tech­nik, wel­ches Ver­hal­ten und wel­cher Zukunfts­ent­wurf sind maß­geb­lich für die Gestal­tung der künf­ti­gen Ener­gie­ver­sor­gung? Die­se Aspek­te von Tech­nik­fol­gen­be­wer­tung las­sen sich in Leit­bil­dern ver­dich­ten, mit denen sich auch Gene­ra­tio­nen von­ein­an­der abgrenzen.

Unter­schied­li­che Leit­bil­der mit­ein­an­der in den Dis­kurs zu brin­gen, war Auf­ga­be des hier doku­men­tier­ten Pro­zes­ses. Es galt zu beur­tei­len, wel­ches von vier exem­pla­ri­schen Sze­na­ri­en einer zukünf­ti­gen Ener­gie­ver­sor­gung und –nut­zung zu emp­feh­len sei. Dabei wer­den unmit­tel­bar Fra­gen der Ethik auf­ge­wor­fen, ins­be­son­de­re dort, wo Grund­rech­te zur Dis­po­si­ti­on ste­hen könn­ten. Die Wahl einer der mög­li­chen Stra­te­gien zur CO2 –Reduk­ti­on stellt eine Her­aus­for­de­rung an die demo­kra­ti­sche Kul­tur dar, weil sich mit die­sen Stra­te­gien unter­schied­li­che Lebens­sti­le verbinden.

Dis­kur­se zur Ener­gie­fra­ge sind Aus­druck tie­fer­ge­hen­der gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te: Ver­schie­de­ne Ent­wür­fe eines gelin­gen­den Lebens oder einer erfolg­rei­chen und erstre­bens­wer­ten Wirt­schafts­wei­se ste­hen zur Debat­te, gera­de weil nicht ledig­lich Tech­no­lo­gien der Strom­erzeu­gung oder Nut­zungs­tech­ni­ken, wie Kern­ener­gie und 3–Liter–Auto, im Vor­der­grund ste­hen. Gesamt­ge­sell­schaft­li­che Kon­flikt­lö­sun­gen las­sen sich immer weni­ger aus der tages­po­li­tisch moti­vier­ten Zusam­men­schau iso­lier­ter Per­spek­ti­ven ablei­ten. Statt­des­sen ist eine Gesamt­schau erfor­der­lich, im Wech­sel der Per­spek­ti­ven ver­schie­de­ne, auf kon­trä­ren Leit­bil­dern beru­hen­de Optio­nen zu Ener­gie­nach­fra­ge und –ver­sor­gung zu eröffnen.

Die Bewer­tung der Optio­nen erfor­dert einer­seits den phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs sowie ande­rer­seits ein geeig­ne­tes Ver­fah­ren der Bür­ger­be­tei­li­gung, wobei ent­schei­dend ist, daß es um mehr geht, als um den iso­lier­ten Aus­druck par­ti­ku­la­rer Fach­in­ter­es­sen, wirt­schaft­li­cher Fol­gen oder gesell­schaft­li­cher Kon­se­quen­zen, son­dern um den umfas­sen­den Pro­zeß der Abwä­gung vor dem Hin­ter­grund des gesam­ten Fra­ge­spek­trums. Dazu sind ein fun­dier­tes Auf­ar­bei­ten der Sach­la­ge, die Dar­stel­lung rea­li­sti­scher Hand­lungs­op­tio­nen ein­schließ­lich der mög­li­cher­wei­se damit ein­her­ge­hen­den Kon­se­quen­zen sowie eine Refle­xi­on der gesell­schaft­lich rele­van­ten Bewer­tungs­kri­te­ri­en aus der Sicht­wei­se von Betrof­fe­nen erforderlich.

Immer häu­fi­ger wer­den auch Ethi­ker um Rat gefragt, wenn es um Fra­gen der Zukunfts­ge­stal­tung geht. Oft­mals wird dabei unter­stellt, sei­tens der phi­lo­so­phi­schen Ethik lie­ßen sich unanzwei­fel­ba­re und ein­deu­ti­ge Ant­wor­ten, ›rich­ti­ge‹ und ›all­ge­mein­gül­ti­ge‹ Lösungs– und Bewer­tungs­stra­te­gien bei kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Sach­ver­hal­ten für die ver­ant­wort­li­che und ver­ant­wort­ba­re Ent­schei­dungs­vor­be­rei­tung geben. Die­ser Erwar­tung kann nicht ent­spro­chen wer­den: Ein sol­ches phi­lo­so­phi­sches ›Macht­wort‹ kann nicht die Auf­ga­be der phi­lo­so­phi­schen Ethik sein. Vor dem Hin­ter­grund einer ange­spann­ten Welt, in der fun­da­men­ta­li­sti­sche Strö­mun­gen mit der Wis­sen­schaft um das Mono­pol der Welt­deu­tung rin­gen, kön­nen weder Ethik noch Phi­lo­so­phie zu Garan­ten letzt­ver­bind­li­cher Hand­lungs­ma­xi­men und all­ge­mein­ver­bind­li­cher Gesichts­punk­te der Bewer­tung wer­den. Auf­ga­be der Phi­lo­so­phie kann es schon gar nicht sein, vor­schnell Par­tei zu ergrei­fen. Sie kann Anre­gun­gen geben und auch advo­ka­to­risch pro­vo­zie­ren­de Posi­tio­nen ver­tre­ten — in der Hoff­nung, neue Optio­nen und Per­spek­ti­ven zu eröffnen.

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Diskurs

Begriff und Realisierung

Dis­kurs ist italieni­schen Ursprungs, frü­hen Beleg­stel­len zufol­ge wer­den damit genau jene Gesprächs­ver­läu­fe bezeich­net, die von Zuhö­rern als aus­ge­spro­chen ener­vie­rend emp­fun­den wor­den sein dürf­ten. Im Unter­schied zur offe­nen Atmo­sphä­re eines Gesprächs erscheint der Dis­kurs in sei­ner ursprüng­li­chen Bedeu­tung zunächst als eine nicht leicht zu ertra­gen­de, mono­lo­gi­sie­ren­de weit aus­schwei­fen­de Rede­fol­ge, bei der die Wort­füh­rer selbst zwi­schen­zeit­lich offen­bar die Ori­en­tie­rung dar­über ver­lie­ren, was sie eigent­lich hat­ten sagen wol­len. Die Teil­neh­mer kom­men dann – wie es in einem zeit­ge­nös­si­schen Text heißt – nach lan­gem Her­um­ir­ren aus dem Wald her­aus als sol­che, die viel reden, aber nichts sagen.

Heinz–Ulrich Nen­nen (Hrsg.) 2000 Dis­kurs. Begriff und Rea­li­sie­rung. Würz­burg: Königs­hau­sen & Neu­mann Ver­lag. [ISBN: 9783826017544]

Wäre die Wort­be­deu­tung bei die­sem rein nega­ti­ven Bild geblie­ben, so wür­de uns der Begriff heu­te ver­mut­lich kaum noch etwas wesent­li­ches sagen. Aber im Ver­lauf der Begriffs­ge­schich­te läßt sich die Inte­gra­ti­on gegen­läu­fi­ger Moti­ve nach­wei­sen, und dabei geht es um das ent­ge­gen­ge­setz­te Moment der ursprüng­li­chen Fest­stel­lung, um Ori­en­tie­rung inmit­ten des Her­um­ir­rens. Das Ziel der­ar­ti­ger Exkur­se sei viel­mehr, so ein Rhe­to­rik-Buch aus dem 16. Jhrd. über Ange­le­gen­hei­ten des Gemein­we­sens so zu reden, wie es ihrem Cha­rak­ter ange­mes­sen ist.

Das Wort­feld Dis­kurs, Dis­kur­si­vi­tät, dis­kur­siv lei­tet sich ab von lat.: dis­cur­re­re, ‚aus­ein­an­der­lau­fen, Erör­te­rung, Ver­hand­lung‘, auch ‚hef­ti­ger Wort­wech­sel‘. Dis­kur­siv wird ein Den­ken genannt, das suk­zes­siv ver­fährt, dabei wird das Gan­ze zunächst in sei­nen Tei­len durch­lau­fen und in sei­ner Gesamt­heit erst all­mäh­lich erkenn­bar. Wesent­lich ist, daß es sich um ein metho­di­sches, syste­ma­ti­sches und ins­be­son­de­re um ein begriff­li­ches Vor­ge­hen handelt.

Begriff­lich, wie häu­fig in Defi­ni­tio­nen ange­führt, muß ein Dis­kurs von­stat­ten gehen, weil es dem mensch­li­chen Erkennt­nis­ver­mö­gen sei­ner Natur nach nicht gege­ben ist, durch unmit­tel­ba­re Anschau­ung zur unbe­ding­ten Erkennt­nis zu gelan­gen. Suk­zes­siv muß ein Dis­kurs ver­fah­ren, weil es eben nicht gelingt, alle ein­schlä­gi­gen Per­spek­ti­ven gleich­zei­tig ein­zu­neh­men. Im Umher­lau­fen las­sen sich zwar ver­schie­de­ne Moti­ve und Momen­te erfah­ren, deren Digni­tät wird aber erst nach und nach bewußt. Erst die inter­sub­jek­tiv nach­voll­zieh­ba­re Inte­gra­ti­on aller ent­schei­den­den Per­spek­ti­ven läßt ein hoch­gra­dig ange­mes­se­nes Beur­tei­lungs­ver­mö­gen in der anste­hen­den Sache erwar­ten, das womög­lich allen Sphä­ren, so wie es ihnen zukommt, glei­cher­ma­ßen gerecht zu wer­den verspricht.

Der Begriff und die mit ihm ver­bun­de­nen unter­schied­li­chen Theo­rien erfah­ren in der spä­ten Moder­ne eine umfas­sen­de Beach­tung auch außer­halb aka­de­mi­scher Krei­se. Zwei Rich­tun­gen las­sen sich dabei ein­an­der gegenübergestellen:

  • Eine deut­sche Schu­le der Dis­kurs­theo­rie, im wesent­li­chen als Ver­bin­dung aus der Kan­ti­schen Phi­lo­so­phie und Ele­men­ten der anglo-ame­ri­ka­ni­schen Sprech­akt­theo­rien, um im Rah­men einer Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns dis­kurs­ethi­sche Prin­zi­pi­en zu ermitteln.
  • Eine fran­zö­si­sche Schu­le der Dis­kurs­ana­ly­se, die im Anschluß an die Ratio­na­li­täts­kri­tik Nietz­sches und Heid­eg­gers mit Posi­tio­nen eines als post­mo­dern ver­stan­de­nen Neo­struk­tu­ra­lis­mus ver­bun­den ist und in Dis­kur­sen eher Phä­no­me­ne der Macht­aus­übung identifiziert.

Der­ar­tig ekla­tan­te Wider­sprü­che erfor­dern die ‚Arbeit am Begriff‘, nicht zuletzt auch in Hin­sicht auf die damit ein­her­ge­hen­den Anfor­de­run­gen an Pra­xis. Sol­che Pro­gram­ma­tik ist alle­mal inter­pre­ta­ti­ons­be­dürf­tig, denn Dis­kurs ist zum Ide­al, Dis­kur­si­vi­tät zu einem Qua­li­täts­kri­te­ri­um gewor­den, um die Digni­tät und das Legi­ti­ma­ti­ons­ver­mö­gen von Pro­zes­sen der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung zu über­prü­fen. Bei anste­hen­den Ent­schei­dun­gen in Fra­gen von gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Trag­wei­te, ins­be­son­de­re von Ver­fah­ren der Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung wird erwar­tet, daß sowohl dem Stand der Wis­sen­schaft als auch den Belan­gen der Öffent­lich­keit ent­spro­chen wird. Der Anspruch auf Dis­kur­si­vi­tät wird somit zum theo­rie­för­mi­gen Modell­fall einer gelin­gen­den Praxis.

Wäh­rend es für die Ratio­na­li­tät wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Vor­ge­hens unwe­sent­lich sein mag, wel­chen Zie­len eine Tech­nik letzt­lich dient, wird bei ethi­schen Erwä­gun­gen gera­de die­ser Aspekt zum The­ma. Ent­schei­dend ist, wie sich nun­mehr auf metho­do­lo­gi­sche Wei­se eine pro­blem­zen­trier­te Ethik errei­chen läßt, auch und gera­de für sol­che Situa­tio­nen, die bereits durch man­geln­de Gemein­sam­kei­ten in grund­le­gen­den Ori­en­tie­rungs­fra­gen gekenn­zeich­net sind. Unter säku­la­ren Bedin­gun­gen sind daher bereits die Aus­gangs­be­din­gun­gen gesell­schaft­li­cher Dis­kur­se umstrit­ten. Frag­lo­se Gewiß­hei­ten las­sen sich kaum noch kon­sta­tie­ren und sind dis­po­ni­bel gewor­den, wenn bereits im Vor­feld prak­ti­scher Dis­kur­se zunächst in Erfah­rung zu brin­gen ist, wo die wah­ren Zie­le lie­gen könnten:

Auch die in reprä­sen­ti­ven Demo­kra­tien obli­ga­te Dele­ga­ti­on ist bei der­art zukunfts­re­le­van­ten Ent­schei­dun­gen nicht mehr unan­ge­foch­ten; es wird daher ent­schei­dend, unter den Bedin­gun­gen der moder­nen Indu­strie­zi­vi­li­sa­ti­on Metho­den zu ent­wickeln, durch die es gelin­gen kann, die Ver­nünf­tig­keit eines Vor­schlags, einer For­de­rung oder einer Behaup­tung zu erwei­sen. Begrün­dun­gen stel­len ihrer­seits jedoch noch kei­ne Gemein­sam­kei­ten her, sie sind zunächst nur ein Ersatz für feh­len­de Gemein­sam­keit, ins­be­son­de­re dort, wo gemein­sa­me Leit­vor­stel­lun­gen nicht mehr oder noch nicht vor­lie­gen. Der Dis­kurs wird somit zum Inter­me­di­um, um die Erör­te­rung über Gel­tungs­an­sprü­che syste­ma­tisch auf­zu­neh­men, aber auch um gestör­te Inter­ak­ti­ons­ver­hält­nis­se wie­der herzustellen.

Dis­kur­si­vi­tät wird somit zum Sub­sti­tut für den Ver­lust der Funk­ti­on vor­ma­li­ger Wert­ethik; ent­schei­dend sind Anfor­de­run­gen an die Qua­li­tät der Ver­fah­ren, in denen die Legi­ti­mi­tät vor­ge­brach­ter Gel­tungs­an­sprü­che auf ihre tat­säch­li­che Digni­tät hin über­prüft wird, wobei die Gel­tungs­ge­sichts­punk­te selbst trans­pa­rent und somit all­ge­mein nach­voll­zieh­bar vor­ge­bracht wer­den müs­sen. – So plau­si­bel sich die not­wen­di­gen Anfor­de­run­gen sei­tens die­ser Theorie(n) als Anfor­de­rung an die Pra­xis ablei­ten las­sen, eben­so umstrit­ten sind die Pro­ble­me, die sich ein­stel­len, im Sin­ne die­ser For­de­rung Dis­kur­si­vi­tätprak­tisch wer­den zu las­sen. Im Rah­men die­ses Buches wur­de der Ver­such unter­nom­men, die­se in der Pra­xis auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen näher zu betrachten.

Die Bei­trä­ge die­ses Ban­des gehen auf zwei Work­shops zurück, die von der Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung in Baden-Würt­tem­berg ver­an­stal­tet wur­den mit dem Ziel, Mög­lich­kei­ten dis­kur­si­ver Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung aus­zu­lo­ten. Ein erster Work­shop fand unter dem The­ma Dis­kurs – Der Begriff im Kon­text der ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen im Sep­tem­ber ’96 statt, ein zwei­ter Work­shop folg­te im März ’97, um sich vor allem mit den Mög­lich­kei­ten einer dis­kur­si­ven Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung zu befassen.

Die Autoren die­ses Ban­des haben es sich zur Auf­ga­be gemacht, unter­schied­li­che Theo­rien des Dis­kur­ses syste­ma­tisch auf die damit ver­bun­de­nen Anfor­de­run­gen an eine sol­che Pra­xis zu unter­su­chen. Die Bei­trä­ge zei­gen, wie der Dis­kurs­be­griff in das Selbst­ver­ständ­nis unter­schied­li­cher theo­re­ti­scher Dis­zi­pli­nen eben­so wie in die Belan­ge prak­ti­scher Ver­fah­rens­wei­sen Ein­gang gefun­den hat. Das The­men­spek­trum der Abhand­lun­gen reicht von Ver­nunft, Ethik und Ästhe­tikbis hin zu Fra­gen der Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on, der Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, des Demo­kra­tie­ver­ständ­nis­ses und der All­tags­ver­nunft. Die theo­re­ti­sche Lei­stungs­fä­hig­keit des Dis­kurs­be­griffs soll­te dabei her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den, gleich­falls waren die Chan­cen und Gren­zen dis­kur­si­ver Ver­fah­ren in der gesell­schaft­lich-poli­ti­schen Pra­xis zu erörtern.

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Das Expertendilemma

Zur Rolle wissenschaftlicher Gutachter in der öffentlichen Meinungsbildung

Was ist im Spiel, wenn in der Poli­tik­be­ra­tung die Aus­sa­gen wis­sen­schaft­li­cher Exper­ten ein­an­der wider­spre­chen? Die­se Fra­ge bewegt Poli­ti­ker, die von der Wis­sen­schaft Rat erwar­ten, sie beschäf­tigt vie­le Wis­sen­schaft­ler selbst, die Öffent­lich­keit zumal. Aus­ein­an­der­set­zun­gen um diver­gie­ren­de Exper­ten­gut­ach­ten sind häu­fig von der Hypo­the­se geprägt, schwar­ze Scha­fe in der Wis­sen­schaft wür­den die Beför­de­rung eige­ner oder frem­der Inter­es­sen über die stren­ge Norm des aus­schließ­li­chen Rin­gens um Wahr­heit stel­len. Wo es um die Tech­nik­fol­gen­for­schung und –bewer­tung geht, stel­len sich häu­fig gera­de der­ar­ti­ge Pro­ble­me. Daher hat die Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung in Baden–Württemberg den Dis­kurs ‘Exper­ten­di­lem­ma’ angeregt.

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Heinz–Ulrich Nennen, Detlef Garbe (Hrsg.): Das Expertendilemma. Springer Verlag; Berlin, Heidelberg 1996.

Heinz–Ulrich Nen­nen, Det­lef Gar­be (Hrsg.): Das Exper­ten­di­lem­ma. Zur Rol­le wis­sen­schaft­li­cher Gut­ach­ter in der öffent­li­chen Mei­nungs­bil­dung. Sprin­ger Ver­lag; Ber­lin, Hei­del­berg 1996.

Der Begriff ‘Exper­ten­di­lem­ma’ bezeich­net eine Situa­ti­on, in der zu einem bestimm­ten Sach­ver­halt ver­schie­de­ne Gut­ach­ten ein­ge­holt wor­den sind, die zu diver­gie­ren­den, oft wider­sprüch­li­chen Aus­sa­gen kom­men. Vom ‘Exper­ten­di­lem­ma erster Art’ wird dann gespro­chen, wenn Wider­sprü­che wis­sen­schafts­in­tern auf­tre­ten. Das ‘Exper­ten­di­lem­ma der zwei­ten Art’ zeigt sich dage­gen an der Naht­stel­le zwi­schen Wis­sen­schaft und Öffent­lich­keit bzw. Wis­sen­schaft und Poli­tik. Zum einen wird die Exper­ti­se in der poli­ti­schen Pra­xis häu­fig als selek­ti­ves Instru­ment benutzt, um bereits getrof­fe­ne Ent­schei­dun­gen nach­träg­lich zu legi­ti­mie­ren, statt anste­hen­de Ent­schei­dun­gen dar­auf zu stüt­zen. Zum ande­ren, was gra­vie­ren­der ist, hat sich die Pra­xis her­aus­ge­bil­det, daß der Poli­ti­ker damit rech­nen kann, zu jeder Sach­fra­ge das gewünsch­te, als ‘wis­sen­schaft­lich’ bezeich­ne­te Gut­ach­ten zu bekom­men. — Die­se Pro­ble­ma­tik ist bis dato, sowohl auf theo­re­ti­scher wie prak­ti­scher Ebe­ne, weder für die Wissenschaft(en) selbst, noch für Poli­tik, Wirt­schaft oder in den Augen der Öffent­lich­keit adäquat beant­wor­tet. Ziel war es daher, zunächst die von Wis­sen­schaft, Poli­tik und Öffent­lich­keit wahr­ge­nom­me­nen Dilem­ma­ta offen­zu­le­gen, zu dis­ku­tie­ren und nach Lösungs­mög­lich­kei­ten zu suchen in der Fra­ge, ob die Anzwei­fel­bar­keit von Gut­ach­ten, wie viel­fach behaup­tet, glei­cher­ma­ßen zu einem Auto­ri­täts­ver­lust der Wis­sen­schaft füh­ren muß.

Unstrit­tig scheint zu sein, daß damit ein Kri­sen­phä­no­men ange­spro­chen ist, von dem die in der Debat­te um mög­li­che Ent­wick­lungs­zie­le und –wege begrif­fe­nen moder­nen Indu­strie­ge­sell­schaf­ten und damit ent­spre­chen­de Wei­ter­ent­wick­lun­gen selbst betrof­fen sind. Zu den abseh­ba­ren Ergeb­nis­sen die­ser Debat­te ist zu zäh­len, daß auf der einen Sei­te den Wis­sen­schaf­ten im Ver­hält­nis zur Öffent­lich­keit ein man­geln­des Ein­ge­hen auf spe­zi­fi­sche Pro­blem­stel­lun­gen atte­stiert wer­den muß. Eben­so läßt sich auf der ande­ren Sei­te, bei poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern eben­so wie in der Öffent­lich­keit, ein feh­len­der adäqua­ter Umgang mit dem Ein­ge­ständ­nis des Nicht–Genau–Wissens der Exper­ten fest­stel­len. Somit sind Wis­sen­schaft, Poli­tik und Öffent­lich­keit glei­cher­ma­ßen gefor­dert. Inso­fern ist das ‘Exper­ten­di­lem­ma’ weni­ger ein Dilem­ma der Exper­ten, denn nicht die­se, son­dern ihre Kli­en­ten, die Ent­schei­der, müs­sen aus der Fül­le alter­na­ti­ver Optio­nen wäh­len und sich entscheiden.

Die Mehr­deu­tig­keit der wis­sen­schaft­li­chen Exper­ti­se muß aber nicht not­wen­dig ein Pro­blem für die Ent­schei­der sein — im Gegen­teil. Sie könn­te auch als Mög­lich­keit begrif­fen wer­den, wei­te­re Kri­te­ri­en und Wert­ge­sichts­punk­te in die Ent­schei­dungs­fin­dung ein­flie­ßen zu las­sen. Damit gewinnt ins­be­son­de­re die Poli­tik Ent­schei­dungs– und Hand­lungs­spiel­räu­me wie­der zurück, und auch die Öffent­lich­keit selbst erscheint als nicht zu unter­schät­zen­der Fak­tor in den gesell­schaft­li­chen Dis­kur­sen bei der Bewer­tung der Optio­nen mög­li­cher Entwicklungen.

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Philosophische Praxis I

Per­sön­li­che Über­zeu­gun­gen set­zen sich zusam­men aus einer Viel­falt von Moti­ven aus den unter­schied­lich­sten Sek­to­ren, die wir aber häu­fig nur zum Teil selbst über­prüft haben. Vie­les davon ist nicht selbst erdacht, son­dern nur über­nom­men wor­den. Im Zwei­fels­fall, also immer dann, wenn man es wirk­lich genau wis­sen will, stellt sich die Fra­ge, wie sicher, wie ent­schei­dend, wie bela­stungs­fä­hig unse­re Vor­an­nah­men und Vor­stel­lun­gen wirk­lich sind. Das­sel­be gilt für Lebens­er­eig­nis­se, die zu ver­ste­hen natur­ge­mäß schwer fal­len muß.

ms-philosophischeambulanz-4Die Kunst der phi­lo­so­phi­schen Pra­xis besteht dar­in, ein jedes Gesamt­ur­teil zunächst wie­der auf­zu­lö­sen in die ein­zel­nen Bestand­tei­le, aus denen es zusam­men gesetzt ist. Viel­leicht ergibt sich schluß­end­lich daß, was gedacht wur­de, schon sehr ange­mes­sen gewe­sen sein muß, viel­leicht ergibt sich aber auch eine völ­lig neue Sicht der Din­ge. Es gilt, das eige­ne Urteils­ver­mö­gen noch­mals selbst zu beur­tei­len, denn Wis­sen allein genügt nicht. Es könn­te sich schließ­lich auch nur um gefühl­tes Über­zeugt­sein han­deln, also um etwas, das nur wie eine kon­se­quen­te Den­kungs­art erscheint. – Wenn etwas unbe­dingt gel­ten soll, dann muß es sich auch bewäh­ren kön­nen. Also soll­te es mög­lich sein, das eige­ne Wis­sen zu wis­sen, sich des eige­nen Bewußt­seins noch­mals bewußt zu wer­den und auch dem eige­ne Füh­len noch ein­mal nach­zu­füh­len. Alle­dem dient der Dia­log in der phi­lo­so­phi­schen Praxis.

Ent­schein­dend ist nicht das Ergeb­nis eines Gedan­ken­gangs. Viel wich­ti­ger ist es, auf wel­che Wei­se das eige­ne Den­ken zustan­de­kommt. Daher ist es so wich­tig, auch das, was noch so selbst­ver­ständ­lich erscheint, zur Dis­po­si­ti­on zu stel­len, denn wenn es etwas Bewähr­tes ist, denn was wirk­lich ver­läß­lich ist, wird sich auch in einer Bewäh­rungs­pro­be wie­der als ver­läß­lich erwei­sen. – Wir soll­ten also genau­er in Augen­schein neh­men, was wir wirk­lich wis­sen, was wir wis­sen müß­ten und was wir viel­leicht gar nicht wis­sen kön­nen. So wird die Qua­li­tät aber auch die Begrenzt­heit des eige­nen Urteils­ver­mö­gens genau­er bewußt.

Phi­lo­so­phie ist inso­fern stets eine Fra­ge nach den Gren­zen dess­sen, was sich sagen läßt. Die Fra­ge ist dabei immer, wie viel vom Gan­zen haben wir eigent­lich wirk­lich sicher im Blick? Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, ein fei­nes Gespür dafür zu ent­wickeln, wie weit ein­zel­ne Aus­sa­gen jeweils tra­gen, wann ein Wort sei­ne Bedeu­tung zu ver­lie­ren beginnt, wann irgend etwas an einer Aus­sa­gen nicht mehr zutref­fend sein kann…

Ich arbei­te daher sehr inten­siv mit Sym­bo­le und Alle­go­rien aus Mythen und Mär­chen, ins­be­son­de­re mit­hil­fe von Idea­len, wie sie die Göt­ter ver­kör­pern, weil sich dahin­ter man­ches ver­birgt, was unse­rem Den­ken in abstrak­ten Begrif­fen wie­der mehr Inhalt, mehr Leben, Geist und Gefühl ver­mit­teln kann. Phi­lo­so­phie ist daher weit mehr als nur trocke­ne Theo­rie und eis­kal­te Metho­de, son­dern sie hat auch eine Pra­xis, die sich ganz anders dar­stellt, die nicht nur sehr unter­halt­sam son­dern auch erhei­ternd sein kann. – Das Lachen ist schließ­lich ein immer wie­der­keh­ren­der Topos in der Philosophie.

Phi­lo­so­phie ist nicht nur rei­ne Theo­rie, sie hat auch eine Pra­xis. Es gilt, mit der Spra­che zum bis­her nicht Gesag­ten vor­zu­drin­gen. Daher geht es auch um Inspi­ra­ti­on, also dar­um, neue Ein­drücke eben­so wie Gefüh­le zur Spra­che zu brin­gen. Phi­lo­so­phie hat kei­nes­wegs nur mit Reden und Den­ken zu tun, es geht auch um Inspi­ra­ti­on, um neu­en Ein­drücken eben­so wie Gefüh­len mehr Raum zuzu­ge­ste­hen. Phi­lo­so­phie ist nicht nur Theo­rie son­dern auch Pra­xis, geleb­te Pra­xis. Sie setzt daher eine gei­sti­ge Mobi­li­tät vor­aus, die dar­auf aus ist, stän­dig den Stand­ort zu wech­seln, um dabei nicht sel­ten auch die eige­ne Posi­ti­on, also sich selbst zu riskieren.

Gesprä­che sind gene­rell mög­lich in Mün­ster und Karlsruhe.

Kon­takt:

Dr. H.-U. Nennen
heinz-ulrich.nennen@t‑online.de
www​.nen​nen​-online​.de

Prof. Dr. phil. Heinz-Ulrich Nennen
Karls­ru­her Insti­tut für Technologie
Uni­ver­si­tät Karlsruhe
Insti­tut für Philosophie
Franz-Schna­bel-Haus
Fritz-Haber-Weg 7
D‑76131 Karlsruhe
https://​www​.phi​lo​so​phie​.uni​-karls​ru​he​.de

Phi­lo­so­phi­sche Praxis
Nie­ber­ding­stra­ße 16
48155 Münster

Tel.: 0171 4996709


Philosophie in Echtzeit

Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse

Am 17. Juli 1999 hielt Peter Slo­ter­di­jk im ober­baye­ri­schen Schloß Elmau eine Rede mit dem Titel „Regeln für den Men­schen­park“ – eine in Inhalt und Form über­aus pro­vo­kan­te Aus­ein­an­der­set­zung mit Fra­gen der Gen­tech­nik im all­ge­mei­nen und des Klo­nens im beson­de­ren. In über 1000 Arti­keln und Rund­funk­bei­trä­gen sowie zahl­lo­sen Leser­brie­fen arti­ku­lier­te sich das Unbe­ha­gen an Slo­ter­di­jks unbe­que­men, schnell unter Faschis­mus­ver­dacht gestell­ten Überlegungen.

Gera­de die­ser Skan­dal hielt sich beträcht­lich lang in der öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit. Die Eska­la­ti­on der Debat­te begann, wie so vie­le zuvor, mit einem Faschismus–Vorwurf, ver­lief dann aber doch anders und ende­te eben nicht mit der Exkom­mu­ni­ka­ti­on. Der Hype um die Sloterdijk–Debatte erreich­te sei­nen Kul­mi­na­ti­ons­punkt mit dem Philosophen–Kongreß in Kon­stanz und ende­te, als die Frank­fur­ter Buch­mes­se eröff­net wurde.

Die Kara­wa­ne öffent­li­cher Auf­merk­sam­keit war längst wei­ter­ge­zo­gen, so daß kaum Jemand ein win­zi­ges aber ent­schei­den­des Detail noch hät­te zur Kennt­nis neh­men kön­nen. — Nur wer lan­ge genug vor Ort blieb, ein­fach mit dem Gefühl, das kön­ne noch nicht alles gewe­sen sein, soll­te belohnt wer­den durch die Infor­ma­ti­on über eine Bege­ben­heit, auf die nur die Wirk­lich­keit kommt. Das Fazit ist dann auch über­ra­schend mit­ten aus dem Leben gegriffen.

Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse. Königshaus & Neumann, Würzburg 2003. [ISBN: 978-3-8260-2642-3] 650 S. 49,80 EU.

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chro­nik einer Insze­nie­rung. Über Meta­phern­fol­gen-abschät­zung, die Kunst des Zuschau­ers und die Patho­lo­gie der Dis­kur­se. Königs­haus & Neu­mann, Würz­burg 2003. [ISBN: 978–3‑8260–2642‑3] 650 S. 49,80 EU

Die­ses merk­wür­di­ge Detail war zwar schon früh­zei­tig bekannt, aber nicht ganz. Die inkri­mi­nier­te Rede war schon zwei Jah­re zuvor im Thea­ter zu Basel auf einer Sonn­tags­ma­ti­nee zu Gehör gebracht und mit Geläch­ter gou­tiert wor­den. Die Iro­nie des gan­zen Arran­ge­ments, die Spitz­fin­dig­keit die­ser Kri­tik am Huma­nis­mus, das Gro­tes­ke an der The­se, der Huma­nis­mus habe ver­sagt, man müs­se nun­mehr unter Ein­satz der Gen­tech­nik an die Ver­bes­se­rung, vul­go, an die Züch­tung des Men­schen­ge­schlechts her­an­ge­hen, war unter dem Aus­druck gro­ßer Hei­ter­keit vom Publi­kum auf­ge­nom­men wor­den. Das alles hat­te der Red­ner selbst zu Pro­to­koll gege­ben in den vie­len Inter­views die­ser Tage und Wochen.

Was er jedoch offen­bar nicht ohne Hin­ter­sinn ganz bewußt zunächst nicht publik gemacht hat, war ein eben­so win­zi­ges wie ent­schei­den­des Detail. Dar­auf hat­te nie­mand kom­men kön­nen, der nicht dabei gewe­sen ist oder, der nicht nach­re­cher­chiert hat im Thea­ter zu Basel, was es mit die­ser Mati­née auf sich gehabt haben könn­te. — Slo­ter­di­jk hat­te höchst­selbst berich­tet von die­ser Ver­an­stal­tung, in der er also anwe­send gewe­sen sein muß. Was er aber nicht aus­ge­plau­dert, son­dern mut­maß­lich ganz bewußt ver­schwie­gen hat, war die nicht uner­heb­li­che Tat­sa­che, daß die­sel­be Menschenpark–Rede von Elmau zuvor im Thea­ter zu Basel von einem Schau­spie­ler vor­ge­tra­gen wor­den war. Es waren zwar die­sel­ben Wor­te, aber Red­ner, Publi­kum und auch die Kulis­sen waren wie aus­ge­wech­selt. Die Iro­nie, die Sati­re und die huma­ne Kri­tik am Huma­nis­mus kam gar nicht mehr oder ganz anders an. Noch dazu waren Bericht­erstat­ter vor Ort, die den Skan­dal such­ten und fan­den. Sie miß­ach­te­ten dann auch die Signa­le der Iro­nie, son­dern sahen und hör­ten, was sie gese­hen und gehört haben wollen.

Es wäre ein wünsch­ba­rer Neben­ef­fekt die­ser Stu­die, wür­de es künf­tig hin und wie­der eine der­ar­ti­ge Unter­su­chung in einem ähn­li­chen „Fall“ geben, nicht zuletzt, um die Qua­li­tät der Medi­en und ihrer Ver­tre­ter ein­mal mehr einer kri­ti­schen Prü­fung zu unter­zie­hen. Dabei las­sen sich gro­ße qua­li­ta­ti­ve Unter­schie­de fest­stel­len: Es gibt durch­aus posi­ti­ve Bei­spie­le auch in die­ser Debat­te, wo Bericht­erstat­ter und Kom­men­ta­to­ren mit gutem Gespür, gro­ßem Fein­ge­fühl und nicht zuletzt auch mit Sach­kennt­nis vor­ge­gan­gen sind. Vor­ent­schie­den­heit und beflis­sent­li­che Par­tei­lich­keit, gepaart mit Unver­ständ­nis, sind dage­gen häu­fig die ent­schei­den­den Fak­to­ren für defi­ni­tiv schlech­te, fal­sche, mög­li­cher­wei­se bewußt fal­sche Bericht­erstat­tung, mit der nie­man­dem und schon gar nicht der Öffent­lich­keit gedient sein kann.

Die vor­lie­gen­de Chro­nik der Slo­ter­di­jk-Debat­te ist zugleich ein phi­lo­so­phi­sches Expe­ri­ment, den Fall einer Skan­da­li­sie­rung ein­mal bewußt syste­ma­tisch zu rekon­stru­ie­ren, um zu beob­ach­ten, wie sich Infor­ma­ti­on und Des­in­for­ma­ti­on, Insze­nie­rung und Gegen­in­sze­nie­rung zuein­an­der ver­hal­ten, wie sich Öffent­lich­keit im Zeit­al­ter ihrer Medi­en­för­mig­keit kon­sti­tu­iert, wie sich dabei die All­tags­ver­nunft aus­nimmt und wie es um die Idea­li­tät idea­ler Dis­kur­se bestellt ist, — alles wie­der­um beob­ach­tet unter Anlei­tung eines Chro­ni­sten und bewer­tet aus den wech­seln­den Per­spek­ti­ven eines Zuschau­ers, von dem ange­nom­men wird, daß die­ser sich auf etwas Beson­de­res ver­steht: „Die Kunst des Zuschau­ers“, erst all­mäh­lich her­aus­zu­be­kom­men, was eigent­lich gespielt wird.

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit @ Goog­le Books

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit @ Königs­hau­sen & Neu­mann Verlag

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­pie in Echt­zeit. @ Amazon

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Dialog und Diskurs

Schwebendes Denken

Bezau­bern­de Bil­der bezeu­gen, wie innig die Phi­lo­so­phie allem zuge­tan ist, was Flü­gel verleiht. 

Bei Hegel beginnt die Eule der Miner­va ihren Flug erst in der Däm­me­rung. – Pla­ton schil­dert das Auf­stei­gen zur Erkennt­nis mit der Alle­go­rie vom See­len­wa­gen, bei dem es dar­um geht, am Tri­umph­zug der Göt­ter über das nächt­li­che Fir­ma­ment, quer über die Milch­stra­ße bis hin zum Reich der Ideen teil­neh­men zu kön­nen. Aber den aller­mei­sten Zeit­ge­nos­sen feh­le es dabei an “Federn”, auch beherr­schen sie nicht die Selbstführung… 

Die Gedan­ken sind frei, es kommt dar­auf an, sie schwe­ben, flie­gen und auf­stei­gen zu las­sen. Es kommt dar­auf an, daß sie stets offen blei­ben, sich inspi­rie­ren zu lassen.

Phi­lo­so­phi­scher Salon Karlsruhe

Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz Karlsruhe

Phi­lo­so­phi­scher Salon | B‑Si­de-Festi­val 2019 | Mün­ster

Philosophisches Café Münster

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Wenn her­kömm­li­che Ori­en­tie­run­gen unsi­cher wer­den, dann stel­len sich Fra­gen der Selbst­ori­en­tie­rung. Neue Ant­wor­ten las­sen sich jedoch erst fin­den, wenn zuvor genü­gend Abstand genom­men wird. Erst aus der Distanz läßt sich das Gan­ze umfas­send in den Blick neh­men. – Nur so kommt das Neue ins Den­ken und dazu ist Phi­lo­so­phie unver­zicht­bar. Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, sich durch eige­nes Den­ken zu ori­en­tie­ren, gera­de dann, wenn vie­les in der Schwe­be ist.

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Neben dem phi­lo­so­phi­schen Dia­log als inten­si­ver Form, sich in The­men von exi­sten­ti­el­ler Bedeu­tung ein­zu­füh­len, um sie zu erör­tern, bie­tet das Phi­lo­so­phi­sche Café die Mög­lich­keit, auch in grö­ße­ren Grup­pen tie­fer mit­ein­an­der ins Gespräch zu kom­men. – Es gilt, nicht ein­fach nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern alle erdenk­li­chen Posi­tio­nen vor­be­halt­los zu erör­tern. So wird die Sache selbst all­mäh­lich gemein­sam ent­wickelt und nicht sel­ten las­sen sich ihr ganz neue Sei­ten abge­win­nen. Man­ches erscheint dann in ande­rem Licht, so daß sich auch für die eige­ne Stel­lung­nah­me ganz neue Per­spek­ti­ven eröffnen.

Das Phi­lo­so­phi­sche Café ver­steht sich als Forum für eine Phi­lo­so­phie, die erst im gemein­sa­men Gespräch auf­kom­men kann. Das The­ma wird in der Regel nicht vor­ge­ge­ben, es ergibt sich zwang­los fast wie von selbst. Der Gang des Gesprächs ist offen und dabei ist es nicht so ent­schei­dend, wie sich ande­re Phi­lo­so­phen bereits dazu geäu­ßert haben. Gewiß ist es anre­gend zur Kennt­nis zu neh­men, was bereits gesagt wor­den ist, aber viel wich­ti­ger ist es, sich selbst beim gemein­sa­men Phi­lo­so­phie­ren zu erfahren.

Über­zeu­gun­gen sol­len nicht ein­fach nur ver­tre­ten, son­dern dar­ge­legt wer­den. Die Situa­ti­on ist hand­lungs­ent­la­stet, nichts muß beschlos­sen wer­den. Nie­mand muß sich über­zeu­gen las­sen, denn wir über­zeu­gen uns ohne­hin immer nur selbst. Ent­schei­dend ist, das eige­ne Den­ken an den Tag zu legen. Erst dann wird jene Frei­heit spür­bar, von der die Höhen­flü­ge der Phi­lo­so­phie getra­gen wer­den. – Phi­lo­so­phie hat eben auch ihre Pra­xis: Es ist die Freu­de dar­an, wie unter­schied­lich die Per­spek­ti­ven doch sein können.

Kaum eine davon ist ohne Berech­ti­gung, aber nur weni­ge davon spre­chen wirk­lich fürs Gan­ze. Es gibt vie­le aber nicht unend­lich vie­le Hinisch­ten, aus denen sich die­sel­be Sache betrach­ten läßt. Ent­schei­dend sind daher vor allem sol­che Hin­sich­ten, die in der Sache wei­ter brin­gen und hel­fen, bes­ser zu ver­ste­hen, wor­auf es ankom­men könnte.

Für den Gang sol­cher Unter­su­chun­gen präg­te Hegel das Bild vom Flug der Eule der Miner­va und bei Pla­ton fin­det sich die Alle­go­rie vom See­len­wa­gen. Die­se bezau­bern­den Bil­der bezeu­gen, wie innig die Phi­lo­so­phie allem zuge­tan ist, was Flü­gel ver­leiht, weni­ger um abzu­he­ben, son­dern um einen guten Über­blick und neue Ein­blicke zu erhal­ten. – Alles was Flü­gel ver­leiht, hat daher einen sym­bo­li­schen Bezug zur Phi­lo­so­phie, weil Federn zum Schrei­ben tau­gen, weil sie Gedan­ken beflü­geln und weil dann nur noch die not­wen­di­ge Seh‑, Erkennt­nis- und Urteils­kraft dazu gehört, um erken­nen zu kön­nen, was sich in der Däm­me­rung abzu­zeich­nen beginnt.

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Das ulti­ma­ti­ve Ziel sol­cher Rei­sen ist Pla­ton zufol­ge eine Expe­di­ti­on ins Reich der Ideen. Beim Aus­ritt zusam­men mit den Göt­tern über das nächt­li­che Fir­ma­ment alle 10.000 Jah­re kommt es dar­auf an, sehr schwe­re Him­mel­s­pas­sa­ge zu bestehen, mit einem all­zu mensch­li­chen Gespann aus einem guten und einem schlech­ten Pferd. Vie­le stür­zen dabei ab und fal­len unmit­tel­bar wie­der ins Sein ohne sich wie­der­erin­nern zu kön­nen. – Erst hin­ter die­ser schwie­ri­gen Him­mel­s­pas­sa­ge wür­de man zusam­men mit den Göt­tern die Ideen anschauen.

Es kommt dar­auf an, die Kunst des Schwe­bens zu beherr­schen. Dazu braucht es ‚Federn‘und die wach­sen nur denen die lie­ben, denn die Lie­be in ihrem hei­li­gen Wahn soll wie­der­um Ähn­lich­keit haben mit dem, wie denen zumu­te ist, die die Ideen erschau­en. Und Pla­ton zufol­ge ver­leiht gera­de die Phi­lo­so­phie sol­che Flü­gel, schließ­lich geht es ihr – nicht nur dem Namen nach, um die Lie­be zur Weisheit.

Sol­che Gesprä­che sind dazu ange­tan, die Sache selbst wie eine Feder durch den Atem aller, die mit­re­den und mit­den­ken, in der Schwe­be zu hal­ten, um beim gemein­sa­men Phi­lo­so­phie­ren wie im Flug ins Reich der Ideen unter­wegs zu sein.

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