Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Moral

Man will den Esel strafen, schlägt aber den Sack

Über Sexismus und Sprachkritik

Es ist erklä­rungs­be­dürf­tig, was die­ser, zuge­ge­ben nicht ganz tier­lie­be Spruch besa­gen soll. Deut­lich wird, was gemeint ist, anhand der aktu­el­len Debat­ten über Sexismus.
Tat­säch­lich läßt sich ein nicht unwe­sent­li­cher Teil des Sexis­mus anthro­po­lo­gisch auf ani­ma­li­sche Antei­le zurück­füh­ren, die wir noch immer in uns tra­gen. Men­schen sind her­aus­ge­fal­len aus ihrer vor­ma­li­gen Tier-Natur im Para­dies, es ist unser Schick­sal, nie wie­der “ganz” zu wer­den. – Ril­ke sagt über den Menschen,

“und die fin­di­gen Tie­re mer­ken es schon,
daß wir nicht sehr ver­läß­lich zu Haus sind
in der gedeu­te­ten Welt.” (Rai­ner Maria Ril­ke: Dui­ne­ser Elegien.)


Das ist der Preis dafür, Mensch gewor­den zu sein: Daher die vie­len Wider­sprü­che in und zwi­schen uns. Und davon ist der zwi­schen „Kör­per haben“ und „Leib sein“ nur einer von vie­len. – Wir beob­ach­ten uns, oft nicht gera­de freund­lich gestimmt. Auch sind wir nicht ent­we­der das eine oder das ande­re, son­dern mal das eine, mal das ande­re und das zumeist nicht wirk­lich voll und ganz.

Lucas Cra­nach der Älte­re: Para­dies (Aus­schnitt) (1530).

An der Spra­che nun andau­ernd neue Exem­pel wegen Sexis­mus vor­zu­neh­men, ist auch kei­ne Lösung im Umgang mit alle­dem. Genau das besagt offen­bar die­ser Spruch: Der „Esel“ ist also der Sexis­mus, den man­che bestra­fen möch­ten, aber nicht kön­nen. Daher wird die Spra­che, also der „Sack“ geschlagen.
Vie­le die­ser Hypo­the­sen über Spre­chen und Spra­che haben den Tief­gang von Ver­schwö­rungs­theo­rien. Sie geben sich viel zu schnell mit mög­lichst ein­fa­chen Erzäh­lun­gen vom angeb­lich Bösen hin­ter den Kulis­sen zufrieden.
Nichts gegen mehr sprach­li­che Sen­si­bi­li­tät und mehr Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen. Nur das kann hel­fen. Aber das geht nicht auf dem Umweg über Sprech­ver­bo­te, son­dern nur auf dem Umweg über noch mehr, noch bes­se­re Wor­te, noch mehr Neben­sät­ze und nur durch tie­fe­re Dia­lo­ge, in denen die Empa­thie immer mehr zur Ein­füh­lung kom­men kann.
Durch neu errich­te­te Tabus wer­den aus Wider­sprü­chen nur noch grö­ße­re Pro­ble­me, weil auch die­se Aspek­te des Mensch­li­chen ein Recht dar­auf haben, Gehör, Aus­druck und Ver­ständ­nis zu fin­den. – Über die ange­mes­se­ne Form läßt sich aller­dings treff­lich strei­ten. Es war schon immer eine Fra­ge der Kul­tur, zu „kul­ti­vie­ren“, was, wie zum Aus­druck gebracht wer­den kann und auch soll.
Aller­dings hat der all­täg­li­che Sexis­mus auch bio­lo­gi­sche Grund­la­gen, die noch aus dem Tier­reich stam­men. Das kann jede Frau am eige­nen Leib erfah­ren. Spä­te­stens dann, wenn ab einem gewis­sen Alter die begehr­li­chen Blicke sel­te­ner werden.
Und mir als Mann ent­lockt es ein Schmun­zeln über mei­ne eige­ne Tier­na­tur, wenn ich sehe, wie mein Blick „fremd­ge­steu­ert“ wird. Allein vom Klackern höhe­rer Absät­ze geht ein unwi­der­steh­li­cher Reiz aus. Dabei ist den Trä­ge­rIn­nen der rich­ti­ge Klacker­ton offen­bar von Bedeu­tung. Wären die Pumps stumm, blie­ben sie in den Rega­len. – Aber ich muß ja nun nicht die Steue­rung aus der Hand geben. Natür­lich kann Mann sich über die eige­ne Tier­na­tur hinwegsetzen.
Auf “Sexu­el­le Bil­dung” kommt es an, der Weg dort­hin ist aber anspruchs­vol­ler als gedacht. Vor allem geht es dar­um, mög­lichst vie­le sol­cher Wider­sprü­che in ange­mes­se­ne Wor­te zu klei­den. – Wir kön­nen Wei­ne degu­stie­ren und win­den Wor­te zu Gir­lan­den des ereig­nis­rei­chen Geschmacks­ge­sche­hens, aber über Orgas­men reden, über Ero­tik und über die Span­nung die­ser Wider­sprü­che, das kön­nen wir nicht.
Nicht weni­ger, son­dern sehr viel mehr neue Wor­te sind die Lösung. Nicht neue Tabus, nicht die Ein­schrän­kung, son­dern erst die Erwei­te­rung des Aus­drucks­ver­mö­gens ist “Bil­dung”. – Der Baum der Erkennt­nis hat noch vie­le Früch­te, die alle­samt ver­ko­stet wer­den soll­ten. Das “Ver­bo­te­ne” an die­sen Früch­ten besteht aller­dings dar­in, daß es immer auch ein Wag­nis ist, sich zu öff­nen, um sich zu erklä­ren und ein­an­der zu verstehen.
Wich­tig ist jedoch nicht nur Reden, ent­schei­dend ist erst das Ver­ste­hen. – Nur, wo min­de­stens zwei Men­schen bei­sam­men sind und ein­an­der ver­ste­hen, nicht all­ge­mein, son­dern ganz kon­kret in einer ganz bestimm­ten, höchst heik­len Ange­le­gen­heit, dort ist auch der Geist unter ihnen, der die Sicher­heit ver­schaf­fen kann, sich auf­ge­ho­ben zu füh­len, für Momen­te des Glücks.

EPG II b (online und Block)

Ober­se­mi­nar

EPG II b (Online)

Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

SS 2022 | Beginn: 30. Juni 2022 | Ende: 14. August 2022 | Online und Block
Ab 30. Juni 2022: 5 Semi­na­re online | don­ners­tags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
3 Work­shops im Block: 12., 13., 14. August 2022 | 14–19 Uhr | Raum: 30.91–110

Zum Kommentar als PDF

Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

Stichworte für Themen

#„ADHS“ #Auf­merk­sam­keit #Bewer­tung in der Schu­le #Cyber­mob­bing #Digi­ta­li­sie­rung #Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Eltern­ge­sprä­che #Erzie­hung und Bil­dung #Gen­der­di­ver­si­ty #Hel­den­rei­se und Per­sön­lich­keit in der Schu­le #Inklu­si­on #Interesse–Lernen–Leistung #Inter­kul­tu­rel­le Inklu­si­on #Isla­mis­mus #Kon­flik­te mit dem Islam in der Schu­le #Kon­flikt­in­ter­ven­ti­on durch Lehr­per­so­nen #Leh­re­rIn sein #Leh­rer­ge­sund­heit #Medi­en­ein­satz #Medi­en­kom­pe­tenz #Mit­be­stim­mung in der Schu­le #Mob­bing #Online-Unter­richt #Poli­ti­cal Cor­rect­ness #Pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis #Pro­jekt­un­ter­richt #Puber­tät #Refe­ren­da­ri­at #Respekt #Schu­le und Uni­ver­si­tät #Schul­fahr­ten #Schul­ver­wei­ge­rung #Sexua­li­tät und Schu­le #Stra­fen und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Zivi­ler Ungehorsam

Studienleistung

Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.


EPG II a (online)

Ober­se­mi­nar

EPG II a

Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

SS 2022 | frei­tags | 14:00–15:30 Uhr | online 

Beginn: 22. April 2022 | Ende: 29. Juli 2022

Zum Kommentar als PDF

Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

Stichworte für Themen

#„ADHS“ #Auf­merk­sam­keit #Bewer­tung in der Schu­le #Cyber­mob­bing #Digi­ta­li­sie­rung #Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Eltern­ge­sprä­che #Erzie­hung und Bil­dung #Gen­der­di­ver­si­ty #Hel­den­rei­se und Per­sön­lich­keit in der Schu­le #Inklu­si­on #Interesse–Lernen–Leistung #Inter­kul­tu­rel­le Inklu­si­on #Isla­mis­mus #Kon­flik­te mit dem Islam in der Schu­le #Kon­flikt­in­ter­ven­ti­on durch Lehr­per­so­nen #Leh­re­rIn sein #Leh­rer­ge­sund­heit #Medi­en­ein­satz #Medi­en­kom­pe­tenz #Mit­be­stim­mung in der Schu­le #Mob­bing #Online-Unter­richt #Poli­ti­cal Cor­rect­ness #Pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis #Pro­jekt­un­ter­richt #Puber­tät #Refe­ren­da­ri­at #Respekt #Schu­le und Uni­ver­si­tät #Schul­fahr­ten #Schul­ver­wei­ge­rung #Sexua­li­tät und Schu­le #Stra­fen und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Zivi­ler Ungehorsam

Studienleistung

Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.


Schuld: Eine mächtige Kategorie

Johann Hein­rich Füss­li: Lady Mac­beth, schlaf­wan­delnd, (um 1783). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Gewissensbisse, die zum Wahnsinn führen

Der Dich­ter und Maler Johann Hein­rich Füss­li war der­art fas­zi­niert von den Wer­ken des Wil­liam Shake­speare, so daß er sich schon in jun­gen Jah­ren an Über­set­zun­gen ver­such­te. — Als Maler schuf er einen gan­zen Bilder–Zyklus mit berühm­ten Sze­nen, in denen die phan­ta­sti­sche Stim­mung ein­ge­fan­gen ist.

So insze­nier­te er auch die dra­ma­ti­sche Sze­ne: Lady Mac­beth V,1 von Wil­liam Shake­speare. Die tra­gi­sche Hel­din wird von Alp­träu­men geplagt und fin­det ein­fach kei­ne Ruhe mehr. Sie träumt mit offe­nen Augen und beginnt zu schlaf­wan­deln. — Und es scheint, als woll­te sie sämt­li­che Pla­ge­gei­ster ver­trei­ben, die Zeu­gen ihrer Unta­ten, von denen sie ver­folgt und um den Schlaf gebracht wird.

Die Sze­ne­rie führt das schlech­te Gewis­sen der Lady Mac­beth vor Augen. — Ihr Mann war zunächst dem König treu­er­ge­ben. Aber drei Hexen pro­phe­zei­en ihm, selbst zum König zu wer­den. Um dem ver­hei­ße­nen Schick­sal nun auf­zu­hel­fen, schrecken Mac­beth und sei­ne Lady selbst vor einem heim­tücki­schen Königs­mord nicht zurück.

Bei­de sind von blin­dem Ehr­geiz getrie­ben und ver­lie­ren im Ver­lauf der Ereig­nis­se auf­grund ihrer Ver­bre­chen zuerst ihre Mensch­lich­keit, dann ihr Glück und schließ­lich auch noch den Ver­stand, von ihrem See­len­heil ganz zu schwei­gen. — Dabei wirkt die Frau skru­pel­lo­ser als der Mann. Ähn­lich wie auch die Medea, setzt eine sehr viel ent­schie­de­ne­re Frau wirk­lich alles aufs Spiel, wäh­rend der Mann eher zag­haft erscheint. Dahin­ter dürf­te die Pro­ble­ma­tik ste­hen, daß Frau­en lan­ge Zeit nicht direkt auf­stei­gen konn­ten, nur über ihre Rol­le als Ehe­frau und Mutter.

Es kommt im fünf­ten Akt zu der im Bild von Füss­li dar­ge­stell­ten Sze­ne. Wäh­rend sich Mac­beth auf Burg Dun­si­na­ne mehr und mehr zum ver­bit­ter­ten, unglück­li­chen Tyran­nen wan­delt, wird Lady Mac­beth immer hef­ti­ger von Gewis­sens­bis­sen geplagt, denn die Schuld am Mord von King Dun­can ist unge­sühnt. — Alp­träu­me kom­men auf, sie beginnt im Schlaf zu wan­deln und die Phan­ta­sie nimmt Über­hand, bis sie schließ­lich den Ver­stand ver­liert und sich das Leben nimmt.

Das Gefühl, sich womög­lich gleich am gan­zen Kos­mos ver­sün­digt zu haben, durch eine Fre­vel­tat, dürf­te sehr früh auf­ge­kom­men sein. Es gibt vie­le Bei­spie­le dafür, daß durch ein Sakri­leg eine ›hei­li­ge Ord­nung‹ gestört wird, was nicht so blei­ben kann. — Bei­spie­le sind Sisy­phos, ein Trick­ster, der nicht ster­ben will und den Tod immer wie­der hin­ters Licht führt, oder Ixi­on, der erst­mals einen Mord an einem Ver­wand­ten beging.

Es gibt eine Klas­se von Mythen, die sich als Urzeit­my­then klas­si­fi­zie­ren las­sen. Väter ver­schlin­gen ihre Kin­der, die Welt bleibt im Cha­os, sie gewinnt gar kei­ne Gestalt. Tita­nen herr­schen, wobei der Ein­druck ent­steht, als wären sie die Ver­kör­pe­rung jener Gei­ster, mit denen die Scha­ma­nen der Vor­zeit noch umge­hen konn­ten. — Die klas­si­schen Mythen sind inso­fern auch ein Spie­gel der Zivi­li­sa­ti­on, weil sie die angeb­lich bar­ba­ri­schen Zei­ten zuvor als abso­lut bru­tal in Sze­ne setzen.

Erynnien, Furien, Rachegötter und Plagegeister

Fran­cis­co de Goya: Saturn ver­schlingt sei­nen Sohn (1820f). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Das sind auch Ammen­mär­chen der Zivi­li­sa­ti­on, die Rede ist dann von fin­ste­ren Zei­ten. Zugleich set­zen sich Mythen damit als Auf­klä­rung in Sze­ne, schließ­lich kün­den sie von der Über­win­dung die­ser Schreck­lich­kei­ten. Nicht nur der tech­ni­sche, zivi­li­sa­to­ri­sche Fort­schritt spielt bei alle­dem eine beträcht­li­che Rol­le, son­dern auch die Psy­cho­ge­ne­se. — Ver­mut­lich kommt Indi­vi­dua­lis­mus erst all­mäh­lich auf, eben­so wie das Bedürf­nis, sich selbst zu beobachten.

Die klas­si­schen Mythen insze­nie­ren nicht nur das Sakri­leg, sie errich­ten zugleich auch die Tabus dage­gen, indem man die Ereig­nis­se in eine viel frü­he­re Urzeit abschiebt und zugleich demon­striert, wie ent­setz­lich die Fol­gen mög­li­cher Tabu­brü­che tat­säch­lich sind.

Wenn etwas Unge­heu­er­li­ches gesche­hen ist, dann tre­ten bald schon Unge­heu­er auf den Plan. Als wür­de die Welt selbst dar­um rin­gen, in den Zustand der ›vor­ma­li­gen Har­mo­nie‹ wie­der zurück­zu­keh­ren. — Aber irgend­wie muß das Ver­ge­hen gesühnt wer­den. Es muß erst wie­der aus der Welt geschafft wer­den durch Buße, weil erst dann die ›hei­li­ge Ord­nung‹ wie­der her­ge­stellt wer­den kann.

Zugleich sind die Göt­ter selbst im Pro­zeß der Theo­ge­ne­se. Eine Göt­ter­dy­na­stie folgt auf die näch­ste. — Inter­es­sant sind die Reflek­tio­nen dar­über. So hat Kro­nos durch fort­ge­setz­te Kinds­tö­tung der Gaia vor­ent­hal­ten, was Müt­ter wol­len, die Kin­der auf­wach­sen sehen.

Der Mythos schil­dert in die­ser Vor­stu­fe einen Zustand, in dem nicht wirk­lich Ent­wick­lung statt­ha­ben konn­te. — Erst in der Ära von Zeus wird die Welt auf die Mensch­heit zen­triert. Dann tre­ten die glück­li­chen Göt­ter Athens sogar frei­wil­lig zurück, um im Zuge des Prometheus–Projektes der Mensch­heit die Welt zu überlassen.

Die Entstehung des Gewissens

Fran­çois Chiff­lart: Das Gewis­sen. 1877, Mai­sons de Vic­tor Hugo, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Es ist ver­mut­lich der aus Ägyp­ten durch den Tem­pel­prie­ster Moses beim Aus­zug der Juden mit auf den Exodus genom­me­ne mono­the­isti­sche Gott, der bereits bei den Ägyp­tern mit einem all­se­hen­den Auge sym­bo­li­siert wur­de. Auch die Idee vom Jen­seits­ge­richt stammt aus Ägyp­ten, was zur bemer­kens­wer­ten Tra­di­ti­on der Ägyp­ti­schen Toten­bü­cher geführt hat, das Leben als Vor­be­rei­tung auf den Tod zu betrachten.

Mit der Bedro­hung durch das Jüng­ste Gericht des Lebens kommt eine Psy­cho­ge­ne­se in Gang, die eine syste­ma­ti­sche Selbst­be­ob­ach­tung erfor­der­lich macht. — Wenn ein all­ge­gen­wär­ti­ger und all­wis­sen­der Gott ohne­hin alles ›sieht‹, so daß man ihm nichts ver­ber­gen kann, dann scheint es ange­ra­ten zu sein, sich ein Gewis­sen zuzu­le­gen, um sich genau zu beob­ach­ten und ggf. zu kontrollieren.

Dem­entspre­chend ist Kain auf der Flucht vor dem ›all­se­hen­den Auge‹, weil er ›ver­ges­sen‹ hat, sich bei­zei­ten ein Gewis­sen zu ›machen‹. — Das ist aber nur eine, noch dazu weni­ger anspruchs­vol­le Deu­tung des ver­meint­li­chen Bru­der­mords. Aus Grün­den der Eth­no­lo­gie kön­nen Acker­bau­ern und Hir­ten kei­ne ›Brü­der‹ sein. Offen­bar hat sich der hier ver­ehr­te Gott, der das Opfer des Bau­ern ›ablehnt‹, noch nicht damit arran­giert, daß die Tier­op­fer sel­te­ner und die Opfer von Getrei­de und Früch­ten zuneh­men werden.

Kain auf der Flucht

Erst mit der Urba­ni­sie­rung erhält der Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on sei­ne ent­schei­den­de Dyna­mik. Der alles ent­schei­den­de Impuls geht mit die­ser Got­tes­idee ein­her, mit der ganz all­mäh­lich auf­kom­men­den Vor­stel­lung eines Got­tes, der alles ›sieht‹. — Dem­entspre­chend illu­striert Fer­nand Cor­mon die Flucht des Kain unmit­tel­bar nach der Tat. Das Werk ist durch Vic­tor Hugo inspi­riert und schil­dert die Sze­ne auf gro­tes­ke Weise.

Der Plot selbst ist zutiefst para­dox: Kain ist Bau­er. Er lebt von den Früch­ten der Erde, fürch­tet sich jedoch schreck­lich vor dem neu­en tran­szen­den­ten Gott, der im Him­mel über den Wol­ken schwebt und der alles ›sieht‹. — Er ver­liert im Opfer­wett­streit, erschlägt sei­nen Kon­tra­hen­ten, ist aber von die­sem mis­sio­na­ri­schen Hir­ten offen­bar längst bekehrt wor­den, denn er fürch­tet sich fort­an wie wahn­sin­nig vor die­sem Gott. Dar­auf beginnt er eine hals­bre­che­ri­sche Flucht, um sich dem all­se­hen­den, all­wis­sen­den, all­ge­gen­wär­ti­gen Auge die­ses Got­tes doch noch zu entziehen.

Fer­nand Cor­mon: Kain. 1880, Musèe d’Orsay, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.


“I’m not convinced.”

Die Vorwahl für das Land mit der Lizenz zum Lügen: 001

Am 5. Febru­ar 2003 warf US-Außen­mi­ni­ster Colin Powell dem Irak den Besitz von Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen vor und begrün­de­te damit die US-Inter­ven­ti­on im Irak. Spä­ter ent­schul­dig­te sich Powell für die in der Rede ver­brei­te­ten Lügen.

Die „Bewei­se“ für die Exi­stenz von Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen, die Powell an die­sem Tag vor­ge­legt hat­te und die als Begrün­dung für die spä­te­re Inter­ven­ti­on her­hal­ten muß­ten, bestan­den aus Mate­ri­al, daß vom ame­ri­ka­ni­schen Geheim­dienst mani­pu­liert wor­den war.

Powell sag­te: „Dies sind nicht Behaup­tun­gen. Wir geben ihnen Fak­ten und Schluss­fol­ge­run­gen auf der Basis soli­der geheim­dienst­li­cher Erkennt­nis­se.“ Zu den „Fak­ten und Schluss­fol­ge­run­gen“ gehört, dass der Irak wei­ter­hin über bio­lo­gi­sche und che­mi­sche Waf­fen ver­fügt. „Hier wird getäuscht, hier wird ver­steckt und verborgen.“

Durch Lug und Trug war ein Krieg begrün­det wor­den. Der demo­kra­ti­sche US-Sena­tor Hen­ry Wax­man unter­such­te ein Jahr nach Beginn des Irak­krie­ges alle Äuße­run­gen der Bush-Regie­rung und regi­strier­te bei 125 Auf­trit­ten 237 Irre­füh­run­gen. Aus­schmückun­gen, Unter­las­sun­gen, Ver­drän­gun­gen und Über­trei­bun­gen waren die Regel, nicht die Ausnahme. 

(Mal­te Leh­ming: Als mich ein Lüg­ner über­zeug­te. In: Der Tages­spie­gel. 14.06.2019.) 

“I’m not convinced.” (Joschka Fischer)

Auf der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz im Febru­ar 2003 kam es zu einem Wort­laut, der seit­her wie in Stein gemei­ßelt stets in Erin­ne­rung gehal­ten wer­den sollte. 

You have to make the case, 

and to make the case in a democracy 

you have to be con­vin­ced yourself, 

and excu­se me I am not convinced.

Um in einer Demo­kra­tie eine Ent­schei­dung zu tref­fen, müs­se man erst mal selbst davon über­zeugt sein. “Ent­schul­di­gung, aber ich bin nicht über­zeugt und ich kann mich nicht vor die Öffent­lich­keit stel­len und sagen, laßt uns in den Krieg zie­hen, wenn ich nicht dar­an glaube.“

Public Relations ist nur ein anderes Wort für Propaganda

Das erste Opfer des Krie­ges ist die Wahr­heit, heißt es. Nun, die Wahr­heit ist das zwei­te Opfer des Krie­ges, weil die Neu­tra­li­tät schon vor­her ver­lo­ren geht.“

(Caro­lin Emcke: Von den Krie­gen. Brie­fe an Freun­de. 1. Auf­la­ge. Fischer, Frank­furt am Main 2004. S. 287.) 

Es ist daher sehr zu emp­feh­len, genau dar­auf zu ach­ten, wel­che Medi­en bei Hetz­kam­pa­gnen mit­ma­chen. Die­se kön­nen nicht die Medi­en des Ver­trau­ens sein, weil sie selbst den Beweis gegen ihre Ver­trau­ens­wür­dig­keit antreten. 

Es kann ein­fach nicht mehr akzep­ta­bel sein, daß Lügen immer wie­der ver­ges­sen wer­den, ver­zie­hen auch?

„Wenn wir den Mecha­nis­mus und die Moti­ve des Grup­pen­den­kens ver­ste­hen, wird es mög­lich sein, die Mas­sen, ohne deren Wis­sen, nach unse­rem Wil­len zu kon­trol­lie­ren und zu steuern.“ 

(Edward Ber­nays, Mei­ster der Mani­pu­la­ti­on, Papst der Pro­pa­gan­da, Erfin­der der Public Relations)

Die Lizenz zur Lüge kann und darf kei­nem Land die­ser Welt zuge­stan­den werden.

Auf die Dis­kur­se kommt es an, auf die Wahr­heit, auf alle Wahrheiten. 

Alles, wirk­lich alles an Men­schen- und Lebens­er­fah­rung, alle erdenk­li­chen Nar­ra­ti­ve raten drin­gend davon ab, durch fort­ge­setz­tes Lügen am Ende jede Ver­trau­ens­wür­dig­keit zu verlieren.

Alle auf das Recht ande­rer Men­schen bezo­ge­ne Handlungen,
deren Maxi­me sich nicht mit der Publi­zi­tät verträgt,
sind unrecht.

(Imma­nu­el Kant: Zum ewi­gen Frie­den. Ein phi­lo­so­phi­scher Ent­wurf. In: Wer­ke, Bd. VI. S. 245.)

Nur ein Beispiel: Die Brutkastenlüge

Die beson­ders drei­ste Baby-Lüge für den Ersten Irak­krieg stammt von einer PR-Agentur:


Theodor Lessing und die Grenzen der Kritik

Pierre Mig­nard: Clio (1689). Die Muse der Geschichts­schrei­bunng mit Grif­fel, Buch und Trom­pe­te. Kei­ne der Musen dürf­te es schwie­ri­ger haben, denn was sie sieht, ist der­art him­mel­schrei­end, so daß man den Ein­druck bekommt, als woll­te sie bedau­ern, als hät­te sie ihren Blick zum Him­mel gerich­tet, weil sie um Ver­ge­bung bit­ten möchte.

Über den Dreiklang der Zivilisation: Zivilisierung, Kolonisierung, Vernichtung.

Von Ger­hard Haupt­mann wird berich­tet, er habe zeit­le­bens an Schlaf­lo­sig­keit gelit­ten und die Wän­de um sein Bett in sei­nem Haus auf Hid­den­see näch­tens mit Inschrif­ten ver­se­hen. Es ver­steht sich, daß nur eini­ge weni­ge die­ser nur zum Teil les­ba­ren Sen­ten­zen erhal­ten sind, eine davon lau­tet wie folgt:
Kri­tik wer­tet mei­stens nur nega­ti­ve Lei­stung, nicht positive.
(Inschrift lt. Foto­gra­phie, Ger­hart-Haupt­mann-Haus, Hid­den­see 2003.)
Es ist schon bezeich­nend, bei die­ser Bemer­kung, die kei­nes­wegs auf ihn gezielt war, doch unmit­tel­bar an Theo­dor Les­sing den­ken zu müs­sen, denn als einer der uner­bitt­lich­sten unter den zeit­ge­nös­si­schen Kri­ti­kern dürf­te Les­sing zwei­fels­frei gel­ten. Selbst wenn all­zu vie­le sei­ner Ankla­gen berech­tigt sind, selbst wenn ihm mit­un­ter zu Recht Visio­nä­res unter­stellt wird, sei­ne Angrif­fe sind äußerst ver­let­zend, so ver­let­zend, daß man sich in der Tat fra­gen muß, war­um eigentlich?
Der stets ange­spann­te Ton bei Les­sing könn­te aller­dings auch Aus­druck einer Hilf­lo­sig­keit sein, die sei­ner­zeit vie­le sei­ner Zeit­ge­nos­sen emp­fun­den haben dürf­ten, ein Unge­nü­gen am eige­nen Sprach- und Aus­drucks­ver­mö­gen ange­sichts des auf­kom­men­den Ungei­stes. Man moch­te noch so sehr am eige­nen Aus­drucks­ver­mö­gen arbei­ten, all­zu Vie­les schien bereits aus­ge­macht, als wäre ein jeder Arti­ku­la­ti­ons­ver­such zum Schei­tern ver­ur­teilt und müß­te sich noto­risch als nicht hin­rei­chend erwei­sen. Den Weni­gen unter den Zeit­ge­nos­sen, die sich nicht beir­ren lie­ßen, die kei­nes­falls und zu kei­nem Zeit­punkt mit ein­stim­men soll­ten, die neue Ton­la­ge zu tref­fen, dürf­te der­weil das eige­ne Schei­tern im Aus­druck um so hef­ti­ger bewußt gewor­den sein.
Was sich im Nach­hin­ein auch als Vor­zei­chen auf­kom­men­der Ver­zweif­lung deu­ten läßt, wird inmit­ten gewähl­ter Aus­drucks­wei­sen ganz beson­ders offen­kun­dig: So ver­wen­det Ernst Bloch zu jener Zeit durch­aus bewußt Moti­ve aus der Fäkal­spra­che, was er anson­sten nie tut. Gera­de die Wahl der Kraft­aus­drücke aber ist untrüg­li­cher Aus­druck einer Hilf­lo­sig­keit, die sich dar­in zeigt, daß die Gren­zen der Spra­che hin­läng­lich erreicht, wenn nicht bereits über­schrit­ten wur­den; schlim­mer noch, daß so etwas wie Sprach­ab­bau, Sprach­rück­gang, Ent­dif­fe­ren­zie­rung, Ver­lust von Wor­ten und Aus­drucks­mög­lich­kei­ten um sich grei­fen in jener Zeit: Zuerst wan­dern Wor­te aus, dann fol­gen Menschen.
Mit sei­ner Geschichts­phi­lo­so­phie kri­ti­siert Theo­dor Les­sing Geschichts­schrei­bung per se als Mythen–Bildung auf eine gleich­wohl sach­lich berech­tig­te wie dis­kur­siv äußerst pre­kä­re, weil kaum anschluß­fä­hi­ge Art und Wei­se. Das eigent­lich Pro­vo­zie­ren­de dabei ist der syste­ma­ti­sche Ver­zicht auf jed­we­de Ent­la­stung, unver­blümt soll Wahr­heit aus­ge­spro­chen wer­den, so das Selbst­ver­ständ­nis Les­sings, aber es sind Wahr­hei­ten, die nicht frei machen.
Bemer­kens­wert ist der noto­risch ein­ge­hal­te­ne Sicher­heits­ab­stand, den Zeit­ge­nos­sen stets ein­hal­ten, wenn von und über Theo­dor Les­sing die Rede ist. “Im Jahr 1919,” notiert Egon Frie­dell in sei­ner zwei­bän­di­gen Kul­tur­ge­schich­te der Neu­zeit, “erschien ein sehr merk­wür­di­ges Buch von Theo­dor Les­sing: ‘Geschich­te als Sinn­ge­bung des Sinn­lo­sen’, ein luzi­fe­risch küh­ner Ver­such, ergrei­fend in sei­ner blei­chen Nacht­schön­heit und eis­kla­ren Logi­zi­tät, viel­leicht der erste, die Fra­ge, was denn eigent­lich Geschich­te sei, zu Ende zu den­ken; mit jener Schär­fe, aber auch Zwei­schnei­dig­keit voll­zo­gen, die sol­chem ehr­furchts­lo­sen, sich zum Selbst­zweck set­zen­den Begin­nen anhaf­tet, ..” (Egon Frie­dell: Kul­tur­ge­schich­te der Neu­zeit. 2. Bde, Nörd­lin­gen 1976. Bd. 2. S. 949.)
Dann ruft Egon Frie­dell in sei­ner Rol­le als Mode­ra­tor der Kul­tur­ge­schich­te sich selbst mit auf den Plan, “ein Werk, von dem das Wort jenes ande­ren Les­sing gilt: ‘groß und abscheu­lich’, voll von gif­ti­gen Tief­ga­sen und nur in der Hand eines vor­sich­ti­gen Abschrei­bers, wie ich es bin, ohne ern­ste Gefah­ren.” (Ebd.)
Das Pro­blem mit Les­sing ist, daß man ihm nicht wird ver­wei­gern kön­nen, sich berech­tig­ter­wei­se zu echauf­fie­ren über vie­le aktu­el­le aber auch zeit­über­grei­fen­de Atti­tü­den sei­ner Zeit. Les­sing ist ein Abrech­ner, sein Stil ist der eines uner­bitt­li­chen Anklä­gers. Den­noch ver­steht er sich doch auch als Päd­ago­ge, so daß man fast erschreckt anfra­gen möch­te, was macht sei­ne Rede denn häu­fig so giftig?
Der­weil sagt er sei­ner Zeit, was nicht ein­mal die unse­re unum­wun­den bereit wäre, zu akzep­tie­ren. Die Theo­rie sei­ner Geschichts­phi­lo­so­phie ist ein aus­ge­mach­ter Kon­struk­ti­vis­mus, sein Kul­tur­re­la­ti­vis­mus und sei­ne Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik ist ein post­mo­der­ni­sti­scher Kon­struk­ti­vis­mus. Sinn in der Geschich­te, so lie­ße sich die Bot­schaft schließ­lich zusam­men­zie­hen, gibt es über­haupt kei­nen, außer dem, den wir ihr bei­geben. Die Leser­schaft wird mit der­ar­ti­gen Nega­tiv­aus­künf­ten durch­weg allein gelassen.
Kei­nes­wegs, so kon­sta­tiert Les­sing bereits in den Vor­be­mer­kun­gen, wer­de durch Geschich­te ein ver­bor­ge­ner Sinn, ein Kau­sal­zu­sam­men­hang oder eine Ent­wick­lung offen­bar, son­dern viel­mehr sei Geschichts­schrei­bung erst die Stif­tung die­ses Sinns. (Theo­dor Les­sing: Geschich­te als Sinn­ge­bung des Sinn­lo­sen. [Erst­ausg., Mün­chen 1919] Mün­chen 1983. Vgl. S. 15.) Sobald wir Wis­sen­schaft nicht mehr bloß beschrei­bend, son­dern erklä­rend betrach­te­ten, sei­en wir unwei­ger­lich auf Sinn­ge­bung ange­wie­sen. (Ebd. Vgl. S. 36.)
Daher wer­de sich die Geschichts­schrei­bung nie­mals in den Rang einer beschrei­ben­den Wis­sen­schaft erhe­ben, sie kön­ne nicht phä­no­me­no­lo­gisch arbei­ten, viel­mehr müs­se sie immer­zu Wirk­lich­keit für ande­re Wirk­lich­kei­ten unter­stel­len. (Ebd. vgl. S. 36f.) Es sei eine gro­ße Erdich­tung des Men­schen, so zu ver­fah­ren, als sei Kau­sa­li­tät das Nor­ma­le, als lie­ße sich Natur­kau­sa­li­tät über­tra­gen auf die Men­schen­ge­schich­te. (Ebd. vgl. S. 37f.) Moti­va­ti­on sei nicht die Hand­lung als sol­che, son­dern das Bild, wel­ches die Hand­lung ins Bewußt­sein wirft. (Ebd. vgl. S. 42.)
Dann setzt Les­sing mit sei­ner gleich­wohl nicht unbe­rech­tig­ten Sua­da ein, und es ist bemer­kens­wert, daß man sich des Ein­drucks nicht erweh­ren kann, hier läge womög­lich gar nicht der Text einer Geschichts­phi­lo­so­phie vor, viel­mehr die Rede eines Agi­ta­tors, viel­leicht in einem Büh­nen­stück, in einem poli­ti­schen Stück selbst­ver­ständ­lich. Es scheint, als müs­se man den Text akkla­mie­ren, viel­leicht sogar her­aus­brül­len, auf jeden Fall aber soll­te man ihn beim Vor­trag inszenieren:
“Wo denn eigent­lich lie­gen die Moti­ve der Geschich­te? Wer hat sie? Wer trägt sie empor? Ich mei­ne jene Moti­ve, von denen der Histo­ri­ker faselt, indem er etwa schreibt: ‘Der Han­dels­neid Eng­lands ver­schul­de­te den Krieg von 1914.’ ‘In edlem Zor­ne erhob sich das gesam­te Deutsch­land.’ ‘Der Ruf der Rache durch­zit­ter­te ganz Frank­reich.’ ‘Ganz Ita­li­en war von Begei­ste­rung durch­glüht’ usw.” (Ebd. S. 43.)
“Nun aber wird Geschich­te bekannt­lich von Über­le­ben­den geschrie­ben. Die Toten sind stumm. Und für den, der zuletzt übrig bleibt, ist eben alles, was vor ihm dage­we­sen ist, immer sinn­voll gewe­sen, inso­fern er es auf sei­ne Exi­stenz­form bezieht und bezie­hen muß, d.h. sich selbst und sein Sinn­sy­stem eben nur aus der gesam­ten Vor­ge­schich­te sei­ner Art begrei­fen kann. Immer schrei­ben Sie­ger die Geschich­te von Besieg­ten, Lebend­ge­blie­be­ne die von Toten.” (Ebd. S. 63.)
“Jedes Blatt Geschich­te, von der frü­he­sten Ahnen­zeit bis zur Gegen­wart, pre­digt immer und immer wie­der neu, daß histo­risch-poli­ti­sche Idea­le Umschrei­bun­gen für prak­ti­sche Absich­ten sind und nie etwas and­res sein kön­nen, wenn auch frei­lich jedes Volk das ande­re tot­zu­schla­gen oder zu begau­nern sucht in der hei­lig­sten und rein­sten Über­zeu­gung, die Kul­tur, den Welt­frie­den, die Sitt­lich­keit, das Recht und ich weiß nicht was alles zu ver­wirk­li­chen.” (S. 67.)
Der Anlaß zur for­cier­ten Phil­ip­pi­ka ist eine Beob­ach­tung, die sich in der Tat immer wie­der von Neu­em machen läßt, daß es ganz offen­bar in Geschichts­schrei­bung und Geschichts­be­wußt­sein nur ein ganz bestimm­tes maß­geb­li­ches Prin­zip zu geben scheint, wonach bemes­sen wird, ob und wie eine Hand­lung Ein­gang fin­det in die Anna­len der Geschich­te: Es ist ein­zig und allein ihr ‘Erfolg’. In die­sem Sin­ne schrei­ben dann eben stets die Sie­ger die Geschich­te der Besieg­ten, die­se aber sind stumm.
Es scheint, als legi­ti­miert der ‘Erfolg’ schluß­end­lich auch noch jed­we­de Per­fi­die und recht­fer­tigt post even­tum mit der Zeit auch vor der Geschich­te, denn all­mäh­lich ver­brei­tet sich all­ge­mein der Ein­druck, auch der ver­we­gen­ste und offen­kun­dig­ste Rechts­bruch sei schluß­end­lich doch legi­ti­miert, denn wer Erfolg hat, hat Recht und wird daher zumeist auch geläu­tert in die Anna­len der Geschich­te ein­ge­hen, – eine wahr­haft ernüch­tern­de Beob­ach­tung, die Theo­dor Les­sing hier zur Ankla­ge bringt.
In die­sem Sin­ne, so Les­sing, sei der histo­ri­sche Erfolg immer das Erste, der Wert­hal­tungs­aspekt aber das Zwei­te. Erfol­ge zie­hen dem­nach das Wirk­sam­wer­den dem­entspre­chen­der Wer­te erst nach sich, nicht umge­kehrt ver­bür­gen Wer­te den Erfolg. Les­sing, ohne­hin ein erklär­ter Geg­ner des Ent­wick­lungs­den­kens im Sin­ne von Dar­win und Spen­cer, kon­sta­tiert dem­zu­fol­ge, daß sich nicht das Wert­vol­le in der Geschich­te durch­setzt, son­dern daß sich eben als wert­voll durch­setzt, was sich durch­setzt, weil es sich durch­setzt. Zu Beginn sei­ner Unter­su­chun­gen kün­digt Les­sing an, was sich zei­gen werde:
“daß Ein­heit der Geschich­te nir­gend­wo besteht, wenn nicht in dem Akte der Ver­ein­heit­li­chung; – Wert der Geschich­te nir­gend­wo, wenn nicht im Akte der Wert­hal­tung. Sinn von Geschich­te ist allein jener Sinn, den ich mir selbst gebe, und geschicht­li­che Ent­wick­lung ist die Ent­wick­lung von Mir aus und zu Mir hin.” (Ebd. S. 19.) Kei­nes­wegs wer­de in der Geschich­te ein ver­bor­ge­ner Sinn, ein Kau­sal­zu­sam­men­hang, eine Ent­wick­lung offen­bar, son­dern Geschich­te sei Geschichts­schrei­bung, eben {\it Stif­tung die­ses Sin­nes, die Set­zung die­ses Kau­sal­zu­sam­men­hangs, die Erfin­dung die­ser Ent­wick­lung.” (Ebd. S. 15.)
Aller­dings: Nicht erst die Geschichts­dar­stel­lung, son­dern bereits die Bericht­erstat­tung hebt Ereig­nis­se her­vor, setzt sie in Rela­ti­on zu ande­ren Ereig­nis­sen und ver­schafft ihnen damit erst ihre Geschich­te, indem sie die Sto­ry zum Stoff lie­fert, die Geschich­ten hin­ter der Geschich­te. Die rei­nen Daten besa­gen fast gar nichts, es kommt dar­auf an, was man dar­aus macht. Inso­fern wird eine jede phi­lo­so­phi­sche Befas­sung mit Geschichts­schrei­bung die­ses not­wen­dig Zusätz­li­che betrach­ten, in sei­ner Not­wen­dig­keit und in sei­ner Zusätz­lich­keit zugleich.
Soll­te die Beob­ach­tung zutref­fen, die zuletzt in der Schlüs­sel­schrift von Theo­dor Les­sing über Geschich­te, Geschichts­schrei­bung und Sinn­ge­bung doch nur ange­deu­tet ist, so muß ein sol­cher Befund in der Tat ver­stö­ren. Ange­sichts des­sen, was Les­sing hier so vehe­ment vor Augen führt, scheint auch der letz­te ver­zwei­fel­te Aus­weg ver­schlos­sen, sich doch noch von die­sem Skan­da­lon zu distan­zie­ren, daß etwas Ent­schei­den­des an unse­rer Geschichts–Orientierung sehr wahr­schein­lich gene­rell nicht stimmt. Zugleich dürf­te es aller­dings eben­so schwer fal­len, Bewei­se für die­se Theo­rie anzu­tre­ten, denn Geschich­te ist immer schon geschrie­ben. Die Fra­ge, wie anders sie denn hät­te geschrie­ben wor­den sein müs­sen, lie­ße sich dage­gen kaum the­ma­ti­sie­ren. – Man wird aller­dings man­ches von dem, was Les­sing noch hat­te for­dern müs­sen, der heu­ti­gen Geschichts­schrei­bung inzwi­schen zugu­te hal­ten, wie etwa die Sozi­al­ge­schich­te oder auch die ‘Geschich­te von unten’.


Amok und Nihilismus

Über transzendentale Obdachlosigkeit

Ich habe Amok nie ver­stan­den. Bei Charles Bukow­ski, durch den man eben­so hin­durch muß, wie durch Niklas Luh­mann, geschieht das so neben­her. Irgend­wer hat mal so rich­tig schlech­te Lau­ne, legt sich dann irgend­wo auf die Lau­er, nimmt sich ein Gewehr, wird Hecken­schüt­ze und bal­lert irgend­wel­che Leu­te ab, die ein­fach nur das Unglück haben, gera­de in die­sem Augen­blick vor Ort zu sein.

Nun, mir geht es ums Ver­ste­hen, nicht unbe­dingt um Ver­ständ­nis. Das ist ein him­mel­wei­ter Unterschied.

Man legt sich dann irgend­wel­che Erklä­run­gen zurecht, so etwas die bei Schul­mas­sa­kern, daß da jemand mit nar­ziss­ti­scher Stö­rung zutiefst ver­letzt wor­den sein muß, der dar­auf “Rache” aus­übt. Das ist auch dürf­tig, weil es nicht die tie­fe­ren Grün­de erklärt. Wir alle sind schon mal so rich­tig mies ver­letzt wor­den und waren ernst­zu­neh­mend sau­er, haben aber in der Regel nicht ein­mal dar­an gedacht, auf die­se Wei­se damit umzu­ge­hen, um die Sache wie­der “aus der Welt zu schaffen”.

Edvard Munch: Melan­cho­lie (1894f).

Ein­mal habe ich, um bes­ser zu emp­fin­den, in mei­ner Vor­le­sung einen Amok­lauf aus der Per­spek­ti­ve des­je­ni­gen Schü­lers ver­sucht zu beschrei­ben, der nun mit sei­ner Waf­fe durch den Flur läuft, wäh­rend die ihm per­sön­lich bekann­ten und doch viel­leicht auch ehe­dem freund­schaft­lich ver­bun­den Mit­schü­ler vor ihm fliehen. 

Dar­auf bin ich auf die Idee gekom­men, daß es eine Exit–Strategie geben muß. Es kam mir näm­lich so vor, als wür­de man­cher Täter sich womög­lich den Flüch­ten­den anschlie­ßen, gewis­ser­ma­ßen auf der Flucht vor sich selbst und dem eige­nen Horror.

Aber bei dem Anschlag in Hei­del­berg waren es Stu­den­ten, die zumeist per­sön­lich ein­an­der gar nicht bekannt sein dürf­ten. Hier ent­fällt also ein zen­tra­les Argu­ment, per­sön­li­che Rache auf­grund per­sön­li­cher Demü­ti­gun­gen sei der Grund und der Anlaß. — Also, wie kommt einer dazu, Leu­te zu “bestra­fen”, die so rein gar nichts mit irgend­et­was zu tun haben? Was ist dann deren “Schuld”?

Mir tut es leid für alle die, die da in die­sem Hör­saal waren, für die Ver­letz­ten und noch mehr für die Toten, ihre Ange­hö­ri­gen, Freun­de und Freun­des­freun­de. Sie alle haben mein Mitgefühl.

Den­noch will man immer etwas über die Moti­ve hören, als ob es doch irgend­wel­che zurei­chen­de Grün­de gäbe. Fast schon ent­la­stend wirkt da, wenn die­se Moti­ve reli­giö­ser oder poli­ti­schen Natur sind. Dadurch wird die Absur­di­tät nicht gerin­ger, aber irgend­wie hat die Ratio dann etwas, an dem sie sich hal­ten kann.

Eines ging mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich von dem Amok­läu­fer an der Uni in Hei­del­berg hör­te. Er soll per Whats­app kurz zuvor mit­ge­teilt und ange­kün­digt haben, nach­dem er sich die Waf­fen zuvor im Aus­land beschafft hat­te, „daß Leu­te jetzt bestraft wer­den müs­sen“. Die­ses “Motiv” hat wei­ter gear­bei­tet in mir. Irgend­wie scheint das ein Schlüs­sel zu sein für ein tie­fe­res Ver­ste­hen ohne Verständnis.

Dabei ist mir auf­ge­fal­len, daß die­se For­mel vom “Bestra­fen” häu­fig ver­wen­det wird, nicht nur von reli­gi­ös moti­vier­ten Amok­tä­tern, son­dern auch von sol­chen, die eigent­lich nicht reli­gi­ös moti­viert sein dürf­ten, weil ihnen dazu jeder Back­round fehlt. Dann bin ich heu­te beim Ver­fas­sen eines Tex­tes auf den Zeit­geist der Moder­ne zu spre­chen gekom­men und dar­auf, daß mit der Ent­zau­be­rung der Welt, mit dem Ver­lust eines Glau­bens und einer tran­szen­den­ta­len Obdach­lo­sig­keit die­se grund­ver­zwei­fel­ten Leu­te zunächst in Russ­land auf­kom­men, wie sie Dosto­jew­ski so ein­dring­lich zur Dar­stel­lung bringt.

Das hilft nun den Opfern und allen Betrof­fe­nen nicht wirk­lich, weil ihnen das die gesuch­te und nicht zu fin­den­de Erklä­rung nicht geben kann. Und den­noch, es hat mit dem “Bestra­fen” eine eige­ne Bewandt­nis. Stra­fe, Süh­ne und Buße sind näm­lich als Moti­ve zutiefst reli­gi­ös in einem tie­fen­psy­cho­lo­gi­schen Sin­ne. Das bedeu­tet, man muß nicht unbe­dingt auf irgend­ei­ne Wei­se gläu­big sein, die­se Arche­ty­pen sind ein­fach vor­han­den im kol­lek­ti­ven Unbewußten.

Edvard Munch: Der Schrei.

Also, in der Moder­ne, wo nicht ein­mal mehr die Idee vom gro­ßen Gan­zen noch mög­lich scheint, dort zer­springt die Welt in tau­send Stücke und alle die­se Frag­men­te erschei­nen nur noch pro­fan. Dar­auf wird dann die unse­li­ge Pro­fa­ni­tät selbst zum Skan­dal und zum ver­zwei­fel­ten Anlaß für Selbst­ver­let­zung, sei es am eige­nen Leib oder auch am ›Kör­per‹ der Gemein­schaft. — Der Grund scheint zu sein, daß die See­le der Akteu­re in der von ihnen ver­ach­te­ten Welt seit gerau­mer Wei­le kei­ne Nah­rung mehr fin­det, zumal der Blick für See­len­nah­rung ent­we­der gar nicht ent­wickelt oder ein­ge­trübt ist.

Auf die­se Wei­se läßt sich nach­voll­zie­hen, war­um es unter psy­cho­lo­gisch pre­kä­ren Umstän­den in den völ­lig ent­zau­ber­ten und pro­fa­ni­sier­ten Frag­men­ten moder­ne Wel­ten immer wie­der zu die­sen äußerst spek­ta­ku­lä­ren und demon­stra­ti­ven Ter­ror­ak­ten kommt, und woher die vie­len reli­giö­sen Moti­ve vor allem doch bei eigent­lich reli­gi­ös gar nicht moti­vier­ten Tätern rühren.

Es läßt sich spe­ku­lie­ren, ob das Unvor­stell­ba­re nicht doch vor­stell­bar wird, wenn wir ernst neh­men, was vie­le die­ser Täter als Motiv bekun­den, sie woll­ten ›stra­fen‹. Als wür­de da ein gei­stig voll­kom­men ent­wur­zel­tes Pro­phe­ten­tum exer­ziert. Tat­säch­lich läßt sich aber anneh­men, daß die Ver­let­zun­gen in der Tat eine Art ›Buße‹ sein sol­len, nur, in einem Kon­ti­nu­um, das selbst völ­lig ver­irrt ist.

Das hat Fjo­dor Michai­lo­witsch Dosto­jew­ski in der gan­zen see­li­schen Dra­ma­tik vor Augen geführt. Er war ein Seis­mo­graph der Kon­flik­te, in die der Mensch mit dem Anbruch der Moder­ne geriet. In sei­nen Wer­ken spie­gel­te er die irr­lich­tern­de mensch­li­che See­le, ihre Sehn­süch­te, Regun­gen und Träu­me, dann aber auch die Zwän­ge und Befrei­ungs­ver­su­che bis hin zum Verbrechen.

Seit die Welt nur noch in Frag­men­ten erscheint, die alle­samt nur noch pro­fa­ner Natur sein kön­nen, kon­zen­triert man sich ersatz­hal­ber auf Äußer­lich­kei­ten, spricht allen­falls von ›Wer­ten‹ und ver­liert jede Vor­stel­lung von Geist und Ver­nunft in ihrem Bezug zum Schö­nen, Erha­be­nen und daher auch zum Gött­li­chen. — Fol­ge­rich­tig führt Fried­rich Nietz­sche die­ser Befund zu einer ver­hee­ren­den Dia­gno­se: Nihilismus.

Der jun­ge Nietz­sche selbst ver­warf bereits in jun­gen Jah­ren die­se Welt­sicht der Halt­lo­sig­keit und wand­te sich der Phi­lo­so­phie von Arthur Scho­pen­hau­er zu, die nicht nur die Ver­zweif­lung auf eine sehr kon­struk­ti­ve Wei­se deu­tet, son­dern die auch eine Phi­lo­so­phie des Mit­leids ent­wickelt und dabei bedeu­ten­de Gemein­sam­kei­ten mit fern­öst­li­chem Den­ken ent­wickelt. — Es gäbe also schon phi­lo­so­phi­sche Alter­na­ti­ven, die vor allem eige­nes Han­deln wie­der mög­lich machen und nicht nur die akti­ve Welt­ver­nei­nung und noch dazu die völ­lig unbe­rech­tig­te “Bestra­fung” zufäl­lig anwe­sen­der Men­schen, die dann zu Opfern wer­den. Kein Gott, kein Geist und nicht ein­mal ein Ungeist wird ein sol­ches Opfer akzeptieren.

Das ist kei­ne Erklä­rung, die Trost spen­den kann, es ist aller­dings eine beun­ru­hi­gen­de Ein­sicht in die see­li­sche Käl­te unse­rer Welt, die man­che ein­fach nicht ertra­gen, schon gar nicht dann, wenn sie sich Hil­fe nicht ein­mal mehr vor­stel­len kön­nen son­dern mei­nen, sie könn­ten durch sol­che Taten irgend­et­was bewir­ken, was alten Wun­den heilt. – Statt­des­sen wer­den neue aufgerissen.


Der Staat als Pate

Sind Sie mit einer freiwilligen Impfpflicht einverstanden?

Über ein Angebot, das niemand ablehnen soll

Gleich nach dem Stu­di­um hat­te ich einen Lehr­auf­trag an der Fach­hoch­schu­le für öffent­li­che Ver­wal­tung in Dort­mund: „Ethik für Poli­zei-Beam­te“. Das ist Pflicht­pro­gramm vor dem Hin­ter­grund der Gleich­schal­tung in Nazideutschland.
Ich habe dort viel erfah­ren über das Innen­le­ben der Poli­zei. Einer­seits wach­sam in der Kon­trol­le mit Argus­au­gen, ande­rer­seits der per­ma­nen­te Wunsch, Gren­zen zu über­tre­ten, wohl weil der stän­di­ge Druck zu groß ist. Also, man benahm sich pro­vo­kant, woll­te den star­ken Macho–Mann geben und kei­ne Schwä­che zei­gen. Daß kei­ne Papier­flie­ger auf­stie­gen, war alles. Dort waren kei­ne Frau­en dar­un­ter, die Luft war also ziem­lich würzig.
Damals spür­te ich, wie es intern zugeht bei denen, die weni­ge Jah­re zuvor in der RAF-Raster­fahn­dung mich immer raus­ge­wun­ken haben, mit mei­nen lan­gen Haa­ren, dem klapp­ri­gem R4 mit Achs­scha­den und Hip­pie­be­ma­lung, um mich zu kon­trol­lie­ren mit Maschi­nen­ge­wehr im Rücken. Das ist eine selt­sa­me Form der Prominenz.
Aber wie und wer sind die, die eine sol­che Per­for­mance auf Befehl lie­fern, wenn “der” Staat, also die, die sich für “den” Staat hal­ten und das Sagen haben, mei­nen, “der” Staat müs­se mal zei­gen, wo der Frosch die Locken hat und der Bartel den Most holt.

Der Pate (Ori­gi­nal­ti­tel: The God­fa­ther) ist ein US-ame­ri­ka­ni­scher Mafia­film aus dem Jahr 1972 von Fran­cis Ford Cop­po­la, basie­rend auf dem gleich­na­mi­gen Roman von Mario Puzo, der gemein­sam mit Cop­po­la auch das Dreh­buch ver­fass­te. Der Film mit Mar­lon Bran­do und Al Paci­no in den Haupt­rol­len war für elf Oscars nomi­niert, von denen er drei gewann. Der Pate zählt zu den künst­le­risch bedeu­tend­sten Wer­ken der Filmgeschichte.

Intern herrscht eine unge­heu­er­li­che Dis­zi­pli­nie­rungs­kul­tur. Sobald in den Semi­na­ren einer „aus­scher­te“ und irgend­ein Ver­ständ­nis für Min­der­hei­ten zum Aus­druck brach­te, fiel die Grup­pe augen­blick­lich über ihn her: Ach, so einer bist Du also?!
Empa­thie und alles “Wei­che”, gewis­ser­ma­ßen Unmänn­li­che war ein Aus­druck von Schwä­che. Es ging zu wie im Schwa­ben­land, wo vie­le in der schwä­bi­schen Frei­kir­che sozia­li­siert wur­den und sich einen ähn­li­chen Schliff ein­ge­fan­gen haben. So wur­den die­se über­aus wach­sa­me Mit­men­schen dres­siert, eif­rig in höhe­rem Auf­trag augen­blick­lich dabei zu stö­ren, falls einer sich mal ver­ges­sen haben und irgend­wie ver­träumt und selbst­ver­ges­sen in Glücks­mo­men­ten schwel­gen soll­te. Wenn man von die­sen Mit­men­schen erwischt wird beim Mensch­sein, dann füh­ren sie einen augen­blick­lich zurück auf den rich­ti­gen Weg des Unwohl­seins im Sein.
Eine älte­re Dame im mün­ster­län­di­schen Wall­fahrts­ort Telg­te erklär­te mir mal: “Der Herr­gott hat uns ja auch nicht erschaf­fen, damit wir es uns hier unten gut gehen las­sen!” — Das ist phi­lo­so­phisch gar nicht so leicht zu kon­tern, denn man müß­te dann mit dem Ter­mi­nus “Herr­gott” eini­ger­ma­ßen ver­siert umge­hen kön­nen. Heu­te wür­de ich es mir zutrau­en, aber damals war ich höf­lich sprachlos.
Ähn­li­ches muß ich den poli­zei­li­chen Anwär­tern auf den höhe­ren Dienst auch zuge­ste­hen, daß sie mich ent­waff­net haben mit dem Bekennt­nis: „Immer müs­sen wir dort­hin, wo alle ande­ren weg­lau­fen”. — Ja, das ist der Job, und für nicht weni­ge ist genau das sogar Beru­fung. Sie haben mei­nen Respekt, wirklich.
Tat­säch­lich sind Poli­zei­be­am­te bei ihrer Berufs­wahl ähn­lich moti­viert wie Leh­rer. Es sind Idea­le im Spiel, aber Poli­zi­sten bekom­men es rich­tig dicke auf die Müt­ze, wäh­rend es für Leh­rer bei wei­tem nicht so bela­stend ist, weil man vie­les per­sön­lich gestal­ten kann. Aber genau das möch­te man von der Poli­zei gera­de nicht, daß sie per­sön­lich was gestaltet.
Vor die­sem Hin­ter­grund ist es auch amü­sant für mich, in eine Ver­kehrs-Kon­trol­le zu gera­ten, weil ich noch immer wie ein Leh­rer emp­fin­de. Und wenn dann ein Beam­ter mich fragt: „Sind Sie mit einem frei­wil­li­gen Atem­test zur Alko­hol­kon­trol­le ein­ver­stan­den?“, dann bekommt er von mir einen sokra­ti­schen Dia­log, das bin ich ihm und mir schuldig.
Was denn dar­an frei­wil­lig sei, will ich wis­sen. Der Beam­te wie­der­holt, ich hät­te doch die Wahl!? Was denn wäre, wür­de ich mich nicht ein­ver­stan­den erklä­ren, fra­ge ich zurück. Dann müß­te ich mit auf die Wache, wo mir auch mit kör­per­li­cher Gewalt das Blut für einen Alko­hol­test abge­nom­men wür­de. Was denn dar­an frei­wil­lig sei, fra­ge ich zurück. Er wie­der­holt nur, ver­steht nicht oder will nicht verstehen.
Ich sage ihm, das sei kei­ne Frei­wil­lig­keit. Ich wür­de ihm das jetzt mal vor Augen füh­ren und zwar am Bei­spiel sei­ner dane­ben­ste­hen­den Kol­le­gin. Wenn ich sei­ne Kol­le­gin als Frau fra­gen wür­de, ob sie mit einer frei­wil­li­gen kör­per­li­chen Nähe ein­ver­stan­den wäre, weil ich anson­sten ande­re Mit­tel ein­set­zen wür­de, was das wohl wäre: Nöti­gung durch Andro­hung von Gewalt min­de­stens, wenn nicht mehr. – Er habe jetzt kei­ne Zeit, sagt der Beam­te und geht.
Lau­ter­bach hat für die Nahe­le­gung einer „frei­wil­li­gen Impf­licht” eine ähn­li­che rhe­to­ri­sche Figur gewählt, die selbst­ver­ständ­lich von Sokra­tes in den höch­sten Tönen als der Weis­heit letz­ter Schluß gelobt wür­de. Das geht immer so, wenn er wie­der mal schwer beein­druckt ist. Wehe dem, wer so einen Bock gescho­ßen hat, denn man wird dann vor aller Augen rhe­to­risch geteert und gefedert.
Es beginnt damit, auf eine viel zu lau­te, unmög­li­che, ja uner­träg­li­che Wei­se über den grü­nen Klee gelobt zu wer­den. — Die­se Gegen­fi­gur wird als Hyper­bel bezeich­net, das ist die Keim­zel­le ver­nich­ten­der Iro­nie im Gewan­de des Lob­ge­sangs, der nur eine Rich­tung kennt, nach oben, höher und höher des Lobes voll – und dann im Sturz­flug run­ter, direkt auf den Boden der Tatsachen.
Auch in der Musik funk­tio­niert das her­vor­ra­gend. Jimi Hen­drix prä­sen­tier­te auf dem Festi­val in Wood­stock von 1969 eine ver­zerrt dröh­nen­de, mit mar­tia­li­schen Bom­ber– und Maschi­nen­ge­wehr­sal­ven durch­setz­te, als­bald welt­be­kann­te Inter­pre­ta­ti­on der US-Natio­nal­hym­ne “The Star-Span­gled Ban­ner”. Er hob sie hoch und höher, um sie fal­len zu las­sen wie einen Bom­ber, der im Sturz­flug zum Angriff über­geht. Ver­blüf­fend deut­lich sind Flie­ger­an­grif­fe und Geschoß­ein­schlä­ge zu hören, Vietnam.
Die frei­wil­li­ge Impf­pflicht als der Weis­heit letz­te Schluß von Lau­ter­bach wür­de Sokra­tes gewiß hoch über alles heben, um die­se absur­de The­se dann umso tie­fer abstür­zen zu las­sen. Natür­lich ist es lächer­lich, weil Lau­ter­bach gar nicht ver­steht, was der Unter­schied zwi­schen Kör­per und Leib ist, eben­so­we­nig wie der Poli­zist, der nun ein­mal im stäh­ler­nen Gehäu­se der Hörig­keit sei­ner Dienst­pflich­ten lebt.
Die­ser Zwang zum frei­wil­li­gen Selbst­zwang hat nicht nur etwas von einer Ver­ge­wal­ti­gung, es ist eine. Und der Täter ist der Staat. Und der Staat ist ein Schlä­ger, einer, der hun­dert­mal schon ver­si­chert hat, er wol­le sich bes­sern und hät­te schon man­che The­ra­pie­sit­zung absol­viert, sich nicht wie­der in der Gewalt zu ver­grei­fen an der Gesell­schaft. Aber dann ist er doch bei der näch­sten Gele­gen­heit wie­der rück­fäl­lig geworden.
Das alles läßt sich demon­strie­ren, ich habe dar­über Bücher geschrie­ben. Aber es berei­tet auch Freu­de, sich dar­über lustig zu machen, über so etwas Ehren­wer­tes wie die ehren­wer­te Gesell­schaft, die der Staat letzt­end­lich ist.
Das läßt nicht von unge­fähr an einen zeit­lo­sen US-ame­ri­ka­ni­schen Mafia­film aus dem Jahr 1972 von Fran­cis Ford Cop­po­la den­ken, mit Mar­lon Bran­do, über­wäl­ti­gend in der Rol­le des Vito Cor­leo­ne, als der Pate (Ori­gi­nal­ti­tel: The God­fa­ther). — Aber ja doch, Mafia. Das Pro­blem ist, daß der Staat von Hau­se aus selbst nichts ande­res als “Mafia” ist, höchst ehren­wert ver­steht sich, nur daß es eben nicht bei­des zugleich geben kann.
Wenn Staat, dann nur in Ket­ten wie ein Unge­heu­er. Das bedeu­tet Gewal­ten­tei­lung, Balan­ce of Power und ist so gemeint, daß die eine Gewalt der ande­ren bit­te­schön nicht ein­mal die Wurst auf dem Brot gön­nen soll­te. Da möch­te man nun wirk­lich nicht von Bun­des­ver­fas­sungs­rich­tern hören, die zum Din­ner ins Kanz­ler­amt fah­ren, um sich dort, ja was eigent­lich, wohl zu füh­len oder geehrt oder geach­tet? Da lobe ich mir die Polizisten.
Unüber­trof­fen der Spruch des Paten: Man mache ihnen ein Ange­bot, das sie nicht ableh­nen können.
Das läßt mich wie­der an mei­ne freund­lich gemein­te, hypo­the­ti­sche Avan­ce der Poli­zi­stin gegen­über den­ken, mir gefäl­lig zu sein. 
Wie lau­tet der Spruch? — Du willst es doch auch!
Frei­wil­lig? Aus eige­nem Antrieb?
Weil sie sel­ber es will?
Es gibt einen Unter­schied zwi­schen “Kör­per haben und Leib sein”, sagt Hel­muth Plessner.
Und ich sage, daß ich der Sou­ve­rän bin in die­sem inti­men Raum zwi­schen mei­nem Leib und mei­ner See­le, alles ande­re ist Vergewaltigung.

Schweigen der Lämmer

Schafe sind nie schuld, oder?

Eine chi­ne­si­sche Ver­wün­schung lau­tet: Mögest Du in inter­es­san­ten Zei­ten leben! — Was heißt „inter­es­sant“, wohl unru­hig, unsi­cher, bedroht, vol­ler Zwei­fel, ver­äng­stigt, viel­leicht sogar panisch.

Seit Men­schen­ge­den­ken wird dar­auf mit Opfer­kul­ten reagiert. Man ver­langt sich was ab und opfert das Teu­er­ste den Göt­tern. — Nichts dage­gen, ich hal­te viel davon, den rich­ti­gen Göt­tern die rich­ti­gen Opfer zum rich­ti­gen Zeit­punkt zu bie­ten, in der Erwar­tung, daß man durch eine sol­che Medi­ta­ti­on auf gött­li­che Kom­pe­ten­zen kommt, wenn man denn die rich­ti­ge Wahl trifft. — Sor­ry, ich sehe das Imp­fen von Kin­dern in die­sem Sin­ne, das alles wirkt auf mich, als wären es Kindsopfer.

Der Hin­ter­grund dürf­te der sein, daß vie­le Kin­der es sich selbst wünsch­ten und die eige­nen Eltern bedrängt haben, ein­fach nur, um end­lich wie­der „nor­mal“ zu sein mit dem Recht dar­auf, die eige­ne Kind­heit leben zu dür­fen. — Das hat mich von Anfang an befrem­det von die­ser Poli­tik, die­sem Staat und die­ser Gesell­schaft. Unge­heu­er zor­nig gemacht hat mich die Drei­stig­keit, über Kin­der und Jugend­li­che her­zu­fal­len, ihnen die Unbe­schwert­heit zu neh­men, ihnen Begeg­nun­gen, Fei­ern, Selbst­er­fah­run­gen zu ver­ei­teln. Gera­de die Aus­gangs­sper­re war spe­zi­ell gegen jun­ge Leu­te gerich­tet. — Und der Ober­prie­ster, der die­se Kinds­op­fer von Anfang an wider bes­se­res Wis­sen gefor­dert hat, war der all­seits geschätz­te Viro­lo­ge Dro­sten, der gewiß kei­ne Ahnung hat von Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie. Darf sich so einer bei so etwas irren? Nein! 

Ähn­lich hat man aber auch die Erwach­se­nen mit faden­schei­ni­gen Aus­sich­ten erpreßt, mit allen erdenk­li­chen Ver­spre­chun­gen, die dann nicht gehal­ten. son­dern gebro­chen wur­den. Stän­dig neue Zie­le wur­den gesetzt, so daß als­bald der Ein­druck ent­ste­hen muß­te, ein fau­ler Zau­ber soll­te auf­recht­erhal­ten wer­den, aber nicht irgend etwas Ratio­na­les. Der Schein von Ratio­na­li­tät wur­de erzeugt und zur Ein­schüch­te­rung gegen Anders­den­ken­den ein­ge­setzt. Ach und es war so oft aus unbe­ru­fe­nen Mün­dern von Ratio­na­li­tät und Wis­sen­schaft­lich­keit die Rede, man hat alle­dem einen Bären­dienst erwiesen.

Was nun?

Jetzt ist eine Situa­ti­on ent­stan­den, in der Omi­kron zeigt, wie falsch die Hybris war, zu glau­ben, man könn­te in der Liga mit­spie­len, in die­sem Jahr­mil­lio­nen wäh­ren­den Kampf zwi­schen den Wir­ten und den Viren, in dem so etwas wie per­ma­nen­tes Wett­rü­sten vor sich geht, aber auch Kon­struk­ti­ves. Man den­ke doch nur an die Mito­chon­dri­en, die höhe­res Leben erst mög­lich machen. Es sind vie­le Schnip­sel davon im Gene­ti­schen Code, alles poten­ti­el­le Inno­va­tio­nen, die über Viren „her­ein­ge­kom­men“ sind.

Was kön­nen „wir“, nicht viel! Was wis­sen wir, so gut wie nichts! – Von Anfang an war klar, daß da die Evo­lu­ti­on ihre Spie­le spielt. Es wäre klug gewe­sen und nicht ein­fach nur „ratio­nal“, son­dern viel­leicht sogar ver­nünf­tig, das zu tun, was die Mos­ko­wi­ter getan haben, als Napo­le­on mit sei­nen Inva­si­ons­trup­pen kam. Man hat Mos­kau ver­las­sen und den Feind „aus­ge­hun­gert“.

Von den 400 Mil­li­ar­den, die der Wahn geko­stet hat, hät­te man die Kli­ni­ken und Alters­hei­me auf­rü­sten kön­nen in siche­re Bur­gen mit Kon­takt– und Berüh­rungs­mög­lich­keit. Tech­nik kann so gut wie alles, man muß nur das Zau­ber­wort sagen: Koste es was es wol­le! — War­um wur­den die Kli­ni­ken nie wirk­lich opti­miert? War­um hat man das Per­so­nal so allein gelas­sen. War­um hat man nicht gesagt, es gibt das Dop­pel­te und Ver­hält­nis­se, in denen die Moti­va­ti­on nicht kor­rum­piert wird? Wer sich jetzt zur Aus­bil­dung ein­schreibt, der bekommt erst ein­mal den roten Tep­pich und ja, die auto­ri­tä­ren und jetzt auch noch kapi­ta­li­sti­schen Ver­hält­nis­se im Gesund­heits­we­sen sind ein­fach kon­tra­pro­duk­tiv und haben nur dann etwas Mensch­li­ches, wenn sich Mit­ar­bei­ter bis zum Burn­out übernehmen.

Aber der Staat hat sich wie üblich an der Gesell­schaft ver­grif­fen, weil er ein Schlä­ger ist und nie ver­trau­ens­wür­dig war. Nicht von unge­fähr stellt ihn die Mytho­lo­gie der Ägyp­ter als Mon­strum dar, der Pha­rao hat einen Löwen­kör­per und die schreck­li­chen Augen einer Sphinx. Als sol­che ist er eis­kalt, unbe­re­chen­bar und unbe­zwing­bar. — Das ist auch noch unser Staats­ver­ständ­nis, daher wur­de die Gewal­ten­tei­lung erfunden.

Aber die Balan­ce of Power hat ver­sagt wie die Not­strom­ag­gre­ga­te in Fuku­shi­ma, als dort die Wel­le kam. — Die Gewal­ten­tei­lung hat ver­sagt. Die Ober­sten Rich­ter haben sich nicht getraut, der Poli­tik „rote Lini­en“ zu wei­sen. Man hat die Köp­fe zusam­men­ge­steckt beim Din­ner im Kanz­ler­amt, ein Ding der Unmöglichkeit!

Die Mensch­heit ist je fort­schritt­li­cher umso mehr auf den Zufall ange­wie­sen, daß, aus­ge­rech­net dann, wenn es dar­auf ankommt, kei­ne Duck­mäu­ser und exzel­len­te Unfä­hig­kei­ten an den ent­schei­den­den Stel­len sit­zen. Da lobe ich mir die anti­ke grie­chi­sche Demo­kra­tie. Die Ämter wur­den ver­lost, jeder muß­te ran und zwar sofort. – Wer zum Rich­ter ernannt wur­de, muß­te sofort und unver­züg­lich in den Pro­zeß, durf­te nicht erst mit ande­ren spre­chen, konn­te also gar nicht mani­pu­liert werden.

Was nach Omi­kron kommt? Das konn­te man schon bei Del­ta sehen, es ist nicht im Inter­es­se eines Virus, sei­nen Wirt umzu­brin­gen. Wenn er das tut, ist er jung und noch ziem­lich dumm. – War­um wis­sen das unse­re auch so wis­sen­schaft­li­chen Fach­wis­sen­schaft­ler nicht und wenn, war­um sagen sie es nicht? Man muß nur Dar­win lesen. — Statt­des­sen wur­de stets die Dra­ma­queen gege­ben. Dabei merk­te man förm­lich bei den State­ments, das sich fast alle schnell auf die Zun­ge bis­sen, wenn irgend­was gar nicht so schlecht aus­sah. Wie in der Wer­bung hat man die Mutan­ten ver­kauft, jetzt noch schnel­ler, noch töd­li­cher, noch heimtückischer.

Die Angst­ma­che­r­ein der letz­ten viel zu lan­gen Mona­te war nicht nur unver­ant­wort­lich, sie hat vor allem zur Demon­ta­ge der Demo­kra­tie und zum Nie­der­gang der poli­ti­schen Kul­tur geführt. Die Leu­te reden ja gar nicht mehr mit­ein­an­der, man prüft den Ande­ren erst, ob da bestimm­te Trig­ger sind und dann wird gecan­celt. Gesprä­che fin­den nur noch unter Gleich­ge­schal­te­ten statt. Oder man schweigt. Tat­säch­lich, die Mehr­heit schweigt, seit Mona­ten. Und es ist in der Tat har­te Arbeit, in die­ses Schwei­gen hineinzurufen.

Das ist aber nun mal mein Job. Mir ist es gleich, was man mir nach­sagt. Und die vie­len gut­ge­mein­ten Auf­for­de­run­gen, mal nicht ganz so laut zu sein beim Rein­ru­fen, sind falsch. — Es ist mei­ner Repu­ta­ti­on als Phi­lo­so­phen nicht abträg­lich, ich bin es ihr viel­mehr schul­dig, genau das zu tun, was ich immer schon getan habe, wider­spre­chen, auch dann, wenn fast alle auf Tauch­sta­ti­on gehen. So habe ich mich schon vor­zei­ten mit mei­ner gan­zen Kol­le­gen­schaft ange­legt, als ich über den Dis­kurs der Sloterdijk–Debatte ca. 700 Sei­ten geschrie­ben habe mit minu­tiö­sen Ana­ly­sen dar­über, daß es auch unter Phi­lo­so­phen ange­paß­tes Den­ken und eben auch Nicht­den­ken gibt. Das Buch hat ein Namens­ver­zeich­nis, man kann sich also sofort nach­schla­gen. – Gern den­ke ich noch heu­te an die weni­gen, die ein­fach exzel­len­te Noten ver­dient hat­ten, eben weil sie das rich­ti­ge Gespür mit Ver­nunft zusam­men­brin­gen konnten.

Umkehr
Es ist unge­heu­er viel geop­fert wor­den und es hat so gut wie nichts davon gehol­fen. Ja, ja, es hät­te, soll­te, wür­de, müß­te alles noch viel schlim­mer gekom­men sein, wenn nicht? Nein!Corona ist stark, weil die Gesell­schaft so schwach ist, weil der Staat ihr nicht bei­steht, son­dern sich dar­in gefällt, die Gesell­schaft zap­peln zu las­sen und den gro­ßen Zam­pa­no zu geben. — Aber jetzt ist es eine inter­es­san­te Zwi­schen­pha­se wie bei einer Minu­ten­pau­se in der Musik. Danach kommt was. Alles weiß, daß es jetzt kip­pen muß. Alle erdenk­li­chen Vor­zei­chen sind bereits zu erken­nen und wer­den ein­deu­ti­ger. — Und als sie ihr Schei­tern bemerk­ten, ver­dop­pel­ten sie ihre Anstren­gun­gen. Ja, aber auch das geht nicht ewig so weiter.
Jetzt fehlt eigent­lich ein Skan­dal oder einer, der das Zeug hat, hin­rei­chend auf­ge­bauscht zu wer­den. Wie wäre es mit fal­schen Zah­len, wie Söder sie sich gelei­stet hat? Aber es müß­te schon noch ein wenig mehr sein. Alles war­tet doch jetzt auf die Lösung des Rät­sels der Erfolg­lo­sig­keit aller Anstren­gun­gen. Es scheint ja inzwi­schen schon fast so, als wären die Unge­impf­ten siche­rer, ja doch wohl auch des­we­gen, weil sie sich nicht auf einen „Schutz“ ver­las­sen kön­nen und weil sie ja nun aus erzie­he­ri­schen Grün­den lei­der über­all drau­ßen blei­ben müs­sen. Ich las­se mich nicht erzie­hen, ich bin selbst Erzie­hungs­wis­sen­schaft­ler für Erwach­se­nen­bil­dung und hat­te das als Neben­fach in Münster.

Wäh­rend die Impf­pflicht eher nur noch von den unte­ren Char­gen ver­folgt wird und sich alle erdenk­li­chen Zuträ­ger, Bei­trä­ger, Mit­läu­fer, Berufs­be­trof­fe­ne, Gläu­bi­ge, Scharf– und Angst­ma­cher so lang­sam unsi­cher umdre­hen, wer noch alles bei ihnen steht, lich­ten sich die Rei­hen. Es wen­det sich das Wet­ter, das gesell­schaft­li­che Kli­ma kippt. Nur wer möch­te sich denn jetzt mal ein­fach so ein­ge­ste­hen, daß der Club der Kai­ser schon seit Mona­ten nackt ist?

Der­weil will noch nie­mand wirk­lich genau­er hin­se­hen, weil man schon viel zu viel und viel zu lan­ge aufs fal­sche Pferd gesetzt hat. Das sagen auch die Mör­der in den all­abend­li­chen Mord­or­gi­en der Kri­mis im Fern­se­hen immer­zu, man habe jetzt schon so viel auf dem Gewis­sen, da käme es auf etwas mehr auch nicht mehr an. Wenn die­ser Spruch fällt, ist jemand wirk­lich von allen guten Gei­stern verlassen.

Was die Rationalitäten nicht auf den Schirm bekommen

In der theo­lo­gi­schen Spra­che gibt es man­che Begrif­fe, die in Ver­ges­sen­heit gera­ten sind, weil wir ja unse­re wis­sen­schaft­lich-wis­sen­schaft­li­chen Ratio­na­li­tä­ten haben. Ich fra­ge dann immer gern nach den Bedeu­tun­gen, um ganz schnell eine plötz­lich auf­kom­men­de Beschei­den­heit zu pro­vo­zie­ren, zur Not auch zu erzwin­gen. Ein Man­gel an Demut ist das Pro­blem. Auch der Begriff der „Sün­de“ ist von Inter­es­se. Was mag es bedeu­ten, wenn gesagt wird, man habe sich an etwas ver­sün­digt? — Was die Kin­der, die jun­gen Leu­te, die Alten, Demen­ten und Ster­ben­den betrifft, sehe ich das so. Da ist eine rie­si­ge Schuld ent­stan­den und wer trägt sie wie­der ab?
Sobald das spür­bar wird, daß man sich auf­grund von Stur­heit, Selbst­herr­lich­keit und Maß­lo­sig­keit schon seit gerau­mer Zeit auf einem Holz­weg befun­den hat, kommt es zu einem Impuls, für den es in der Theo­lo­gie einen wei­te­ren Begriff gibt. Die­ser Begriff heißt „Umkehr“. Heid­eg­ger hat es mal mit „Keh­re“ ver­sucht, aber das ist und bleibt düster. Auch „Wen­de“ ist so eine Phra­se, aber auch das bleibt eine nur äußer­li­che Sache, als wür­de man sich mal ein­fach so umdre­hen. — Wor­te, die den Tie­fen unse­rer Psy­che gerecht wer­den sol­len, müs­sen selbst Tief­gang haben, sonst brau­chen sie gar nicht erst anzutreten.
Nein, „Umkehr“, wenn man denn dem Begriff sei­ne theo­lo­gi­sche Bedeu­tung auch zuge­steht, das bedeu­tet „Ein­ge­ständ­nis der Schuld“, „Zuge­ben, sich ver­sün­digt zu haben“ und schließ­lich „Buße“. Dann erst kann es wei­ter­ge­hen. Dann kann die Kathar­sis, also die „Rei­ni­gung“, die „Ent­süh­nung“, die „Ver­ge­bung“ und die „Frei­spre­chung von der Schuld“ über­haupt von­stat­ten gehen. — Und da sind wir jetzt, noch kurz vor der Ein­sicht in die Schuld.

Théo­do­re Géri­cault: Das Floß der Medu­sa (1819). Nun, die Kata­stro­phe um das Floß der Medu­sa ent­stand, weil ein unfä­hi­ger aber hoch­wohl­ge­bo­re­ner Kapi­tän auch noch resi­stent war gegen guten Rat. – Die Unglück­li­chen wur­den aus­ge­setzt und sehen am Hori­zont das ret­ten­de Schiff, aber von links kommt eine haus­ho­he Welle.

Man wird sich nicht mehr lan­ge stell­ver­tre­tend an den Unge­impf­ten ver­grei­fen kön­nen, um in ihnen die „Sün­den­böcke“ zu sehen, die ein­fach für alles ver­ant­wort­lich sind.
Bar jeder Ver­nunft sind sie nun mona­te­lang als die wahr­haft „Bösen“ ver­kauft wor­den, nur, weil sie den angeb­lich ganz klei­nen Piks mit dem ganz tie­fen Ver­trau­en in einen Wis­sen­schafts­glau­ben, der selbst wis­sen­schafts­feind­lich ist, nicht mit­ma­chen moch­ten, aus vie­ler­lei Grün­den. — Ja, selig sol­len die sein, die nicht (selbst ein–)sehen und doch glau­ben. Das hät­ten die „Hir­ten“ gerne.
Aber wenn jetzt die Unge­impf­ten als Ket­zer, Ungläu­bi­ge, Teu­fels­men­schen, Unhol­dIn­nen und Staats­fein­de nicht mehr zur Ver­fü­gung ste­hen, was dann? Die dis­kur­si­ve For­ma­ti­on muß dann die­ser Tage kol­la­bie­ren. Wer soll das denn jetzt alles gewe­sen sein? Also wer­den Ablen­kun­gen vor­ge­nom­men. Herr Wie­ler vom RKI könn­te abge­setzt wer­den, da hät­te man schon mal ein Bau­er­op­fer, irgend­wie. Boris John­son, der offen­bar jeden Frei­tag in der Dow­ning Street nicht unbe­rau­schen­de Feste gege­ben hat, wird jetzt abge­sägt. Und Söder hat schon vor Wochen Krei­de gefres­sen, denn sei­ne Fähig­keit, sich äußer­lich zu wan­deln, haben etwas von einem Cha­me­le­on. — Poli­tik macht es erfor­der­lich immer mal die Far­ben zu wech­seln, aber nur äußer­lich, also „glaub­wür­dig“.
Eines muß man dem Söder Mar­kus neid­voll zuge­ste­hen. Ich hät­te es ihm von Her­zen gewünscht, daß er für sei­ne nar­ziß­ti­schen Big–Man–Allüren abge­straft wür­de, daß man ihm als Scharf­ma­cher vor­hal­ten wür­de, was er alles mit ange­rich­tet hat in der Coro­na-Kri­se, was so unge­heu­er schief gelau­fen ist. Ach ja und Frau Mer­kel, die nie vom Ende her­ge­dacht hat, wenn über­haupt. Herr Spahn kann sich glück­lich schät­zen, daß er „weg“ ist. — Man­ches Mal habe ich gedacht, was ist das nur für ein Job, per­ma­nent Erklä­run­gen, Beteue­run­gen und Ver­spre­chen abzu­ge­ben, wie etwa zum hun­dert­sten Mal, daß es kei­ne Impf­licht gäbe. Und dann läßt sich das alles nicht hal­ten, weil man vor ande­rem Hin­ter­grund wie­der die Far­be wech­seln muß.
Ja, die Ren­te ist sicher, eben­so sicher wie das Grund­ge­setz. Auch die Daten in der Luca-App sind sicher vor staat­li­chem Zugriff. — Viel von dem Ver­trau­en, das Staat, Poli­tik und Medi­en noch hat­ten, ist weg.

Nichts ist heilig

Wie hieß es noch in einer die­ser unver­schäm­ten Wer­ke­kam­pa­gnen zum geistig–moralischen Down­gra­de: „Ich bin doch nicht blöd!“ Aber ja doch, gera­den mit die­ser Ein­stel­lung, was könn­te blö­der sein als die­ser Spruch. — Da war dann die Poli­zei in Mainz auch echt nicht blöd und auch die vom Gesund­heits­amt. Man hat auf dem Wege der „Amts­hil­fe“ eine Infek­ti­on ein­fach mal so gefaked, weil man es kann und dann sind die lie­ben Kol­le­gen an die Daten her­an­ge­kom­men. — Geht doch!
Nicht mal Ehr­lich­keit, Lau­ter­keit, Prin­zi­pi­en­treue, Ver­läß­lich­keit geht. Man hät­te sich viel, sehr viel zusätz­li­ches Ver­trau­en ver­die­nen kön­nen. Aber nun? — Jetzt kommt das Scher­ben­ge­richt. Und der Söder Mar­kus hat schon vor Wochen das Södern ganz sein las­sen. Da ist dann FDP-Kubicki, der viel zu still war, als er hät­te laut wer­den müs­sen, auch erst dann über ihn her­ge­fal­len, als sich die Ände­rung im poli­ti­schen Kli­ma längst abzu­zeich­nen begann.
Ja, hin­ter­her sind immer alle über­aus klug. Aber wer erhebt denn von Anfang an Pro­test? Wer hat denn den Mut, aus der Rei­he zu tan­zen? Man­che haben es ja am Anfang getan, sie wur­den aber auf der Stel­le exkom­mu­ni­ziert. Es soll­te nur einen Gott und nur einen Hohe­prie­ster geben und der ver­lang­te den Lock­down, um den Chi­ne­sen mal zu zei­gen, daß wir so etwas auch kön­nen. Eine Gesell­schaft, die so dumm ist, hat in der Tat auch kei­ne bes­se­re Poli­tik ver­dient. — Und was mich am aller­mei­sten stört, auch in der anste­hen­den Buße wird gelo­gen und betro­gen wer­den. Aller­dings wird es dann auch kei­ne „Ver­ge­bung“ geben.
Um das zu ver­ste­hen, muß nie­mand gläu­big sein, es geht auch mit Tie­fen­psy­cho­lo­gie. Wer so viel falsch gemacht hat, wie Poli­tik, Staat und Gesell­schaft die letz­ten Mona­te, hat vie­le Lei­chen im Kel­ler. Täter wer­den es am Anfang glatt ableh­nen, die Ver­ant­wor­tung oder gar Schuld anzu­er­ken­nen. Leug­nung, dann Ver­drän­gung und schließ­lich Rela­ti­vie­rung sind typi­sche Sta­tio­nen im Pro­zeß einer jeden Läuterung.
Das Pro­blem von Tätern ist nur, daß sie stän­dig auf der Hut sein und per­ma­nent dar­auf ach­ten müs­sen, daß nie­mand was merkt. Aber spä­te­stens seit der Syste­mi­schen The­ra­pie kann man auch ohne huma­ni­sti­sche Bil­dung wis­sen, daß es gar kei­ne Geheim­nis­se geben kann, weil wir alle erdenk­li­chen psy­cho­ak­ti­ven Anten­nen besit­zen. Wir haben den Neo­kor­tex ent­wickelt, weil das Sozi­al­ver­hal­ten anson­sten viel zu viel Kopf­schmer­zen berei­tet. Ja, es gibt Din­ge, die sich unse­re Ratio­na­li­tä­ten nicht ein­mal träu­men können.
Ich fra­ge mich aber, wie das gehen soll, die­ses Scher­ben­ge­richt? Wie sol­len wir denn ein­an­der alles­mög­li­che ver­zei­hen? Die neu­ge­schaf­fe­nen Trau­ma­ta, die Ver­let­zun­gen der Wür­de, die Miß­hand­lun­gen der Frei­heit, die­ser unüber­seh­ba­re Ver­trau­ens­ver­lust, das alles läßt sich doch gar nicht wie­der hei­len. Natür­lich wer­den die Mon­tags­de­mon­stra­tio­nen grö­ßer, man wird immer weni­ger herz­haft dar­über her­zie­hen kön­nen. Der­weil ver­sucht man es noch immer mit Dämo­ni­sie­rung und Exkom­mu­ni­ka­ti­on. Wenn jetzt noch mehr Gut­bür­ger­li­che „da“ ein­fach hin­ge­hen? Was soll man denn tun, wenn man was tun möch­te gegen den Ver­fall der Kultur?
Haupt­sa­che, es kommt jetzt nicht auch noch zur Insze­nie­rung von Gewalt.
Ich den­ke, der Main­stream soll­te jetzt auch mal Far­be beken­nen und dazu ste­hen, daß man sich hat Angst machen und ein­schüch­tern las­sen, daß man sich benom­men hat, wie ein arti­ges Kind, daß man sich die Wür­de nicht nur hat neh­men las­sen, son­dern daß man sie frei­wil­lig abge­lie­fert hat. So viel Haus­ar­rest, wofür eigentlich?
Aber wie gewin­nen wir die ver­lo­re­ne Nähe wie­der? Gera­ten wir nicht alle inzwi­schen in Atem­not, wenn uns jemand „zu nahe“ kommt?
Oh wie ist das alles krank, psy­chisch krank!
Wie­der ein­mal hat sich die Gesell­schaft von fal­schen Hir­ten auf Irr­we­ge füh­ren und miß­han­deln las­sen. Wer trägt die Verantwortung?
Scha­fe sind nie schuld, oder?

Ironie in Zeiten Coronas

Wie es ist, Hypochonder zu sein

Ein viel­be­ach­te­ter Auf­satz von Tho­mas Nagel geht der Fra­ge nach, wie es wohl sein wür­de, eine Fle­der­maus zu sein.

Schnell stößt der Autor auf Gren­zen, näm­lich jene, die Lud­wig Witt­gen­stein kon­sta­tiert hat: „Die Gren­zen mei­ner Spra­che, sind die Gren­zen mei­ner Welt“.

Ich war nie son­der­lich ange­tan vom Hype um die­sen Auf­satz von Nagel, denn ich kann­te längst die berüh­ren­den Expe­di­tio­nen in die Wahr­neh­mungs­wel­ten der Tie­re von Jacob von Uex­küll, etwa über die Stu­ben­flie­ge oder, ganz beson­ders „ein­fühl­sam“ über die Zecke. Da hat man näm­lich den Ein­druck, zum besag­ten Tier zu wer­den, weil die Sin­ne redu­ziert wer­den auf das, was noch bleibt: Bei der Zecke ist es ein Geruchs­sinn für But­ter­säu­re, um Säu­ge­tie­re wahr­zu­neh­men und dann noch ein Wär­me­sinn, um dort­hin zu krab­beln, wo war­mes fri­sches Blut fließt.

Auch Nagel kommt auf jene Pro­ble­ma­tik, die hin­ter alle­dem steht, was der Anthro­po­lo­gie Hel­muth Pless­ner ein­mal auf die For­mel gebracht hat vom „Unter­schied zwi­schen Kör­per-Haben und Leib-Sein“. Da gibt es in der Tat eini­ge Dif­fe­ren­zen, da geht eini­ges nicht auf und das liegt nicht an der Phi­lo­so­phie, son­dern es ist selbst phä­no­me­nal, daß und was da nicht auf­geht. — So wird die­ser Tage viel Wert gelegt auf „Acht­sam­keit“, auch als eine Form der Selbst­auf­merk­sam­keit. Aber auch da zeigt sich die­ses Pro­blem, daß wir genau dort, wo es ums Ver­ste­hen die­ser Dif­fe­ren­zen geht, ein­fach nicht nahe genug herankommen.

Wie­viel Selbst­auf­merk­sam­keit ist genug, was wäre zu wenig und was zu viel? Das läßt sich gar nicht beant­wor­ten, weil man dann erst irgend­wo Maß neh­men müß­te. Maß­neh­men woran?

Aber man kann in sol­chen Fäl­len auch mit Extre­men arbei­ten, die selbst etwas Beson­de­res haben im Ver­hält­nis zwi­schen Psy­che und Kör­per, Leib und See­le. So wie es Unauf­merk­sam­keit gibt, so läßt sich auch eine gestei­ger­te Auf­merk­sam­keit beob­ach­ten, die dann irgend­wann etwas viel wird.

Vie­le sind dann schnell mit der Eti­ket­tie­rung bei der Hand, etwas sei „krank­haft“. Das ist so schreck­lich bei Ari­sto­te­les in der von vie­len so geschätz­ten „Niko­ma­chi­schen Ethik“. Als wäre das Mitt­le­re immer die rich­ti­ge Wahl, nie­mals zu viel oder zu wenig, immer in Maßen. Als ob es das wäre.

Ari­sto­te­les konn­te den Epi­gram­ma­ti­ker Fried­rich Frei­herr von Logau (1605–1655) noch nicht ken­nen, des­sen Spruch die unter­be­lich­te­te Ethik spie­lend ad absur­dum füh­ren kann, wie es Dio­ge­nes nicht bes­ser hät­te tun kön­nen: „In Gefahr und gro­ßer Not bringt der Mit­tel­weg den Tod.“ — Und jene selbst­be­ru­fe­nen Men­schen, die mit Urtei­len aus der Hüf­te schie­ßen, um garan­tiert nicht zu tref­fen, sind auch nicht hilf­reich, wenn es heißt, Hypo­chon­drie sei „krank­haft“. Zuge­ge­ben, es ist eine etwas ange­spann­te, ziem­lich per­ma­nen­te Auf­merk­sam­keit, die Fried­rich Nietz­sche dazu gezwun­gen hat, tag­täg­lich den eige­nen Gesund­heits– und Kran­ken­stand in ein eige­nes Tage­buch des Wohl– und eher Unwohl­seins zu schreiben.

Bild: Albrecht Dürer: Selbst­por­trait (1528). Skiz­ze in der er auf ver­grö­ßer­te Milz zeigt.

Wie ist es, Hypo­chon­der zu sein? Das ist die Fra­ge, die nun von beson­de­rem Inter­es­se ist, wegen der Imp­fung, der Per­so­na­lie und der unbe­hol­fe­nen Skan­da­li­sie­rung um Harald Schmidt. Ich hat­te schon vor gerau­mer Zeit dar­über spe­ku­liert, ob er ist oder nicht ist, also „geimpft“. Und es hat mir ein sar­do­ni­sches Ver­gnü­gen berei­tet, dar­über zu spe­ku­lie­ren, daß nun ja wirk­lich zwei Her­zen in sei­ner Brust schla­gen müß­ten. Einer­seits ist das die Angst vor Krank­heit, ande­rer­seits ist da die Angst vor der Imp­fung. — Ja, an alle Wenig­den­ker, das geht auch! Die Phi­lo­so­phie hat sogar einen Namen dafür, es ist eine Apo­rie, eine „Weg­lo­sig­keit“, die eben „ter­ti­um non datur“, ohne ein Drit­tes, also ohne Aus­weg ist. 

Ich bin damals zu dem Schluß gekom­men, er hat nicht und er ist nicht. Rich­tig! Er ist noch immer nicht.

Das kam auf eine köst­lich ver­klau­su­lier­te Wei­se über den Kon­text her­aus. Lustig ist, daß die Impf–Sitten–Wächter das noch immer nicht bemerkt haben. Und natür­lich äußert sich sein Manage­ment zu die­ser Peti­tes­se nicht. Er sei gera­de im Urlaub. Sie wür­den dem begna­de­ten Enter­tai­ner damit ja sei­ne Poin­te und sei­ne Extra–Lektion in Rhe­to­rik ver­mie­sen, die er einer ent­setz­ten Öffent­lich­keit ver­ab­reicht hat.

Noch lusti­ger ist, daß sich nie­mand traut, über Harald Schmidt her­zu­fal­len wie über Sport­ler oder Schau­spie­ler auf eine mit­un­ter ein­fach nur unver­schäm­te Art und Wei­se. Man hät­te es aller­dings mit einem rhe­to­risch gna­den­los Begna­de­ten zu tun. — Hat sich Lau­ter­bach eigent­lich schon zum Impf­sta­tus von Schmidt geäußert?

Das Argu­ment von der „Vor­bild­funk­ti­on von Pro­mi­nen­ten“ lese ich gera­de, oh. Es mag Pro­mi­nen­te geben, deren Beruf es ist, pro­mi­nent zu sein, aber bei Harald Schmidt wäre zu klä­ren, wie es wohl sein mag, Hypo­chon­der zu sein. — Das mag selbst schon wie­der hei­kel erschei­nen, das der­art an die gro­ße Glocke zu hän­gen, hät­te er sich nicht selbst in einer köst­li­chen Steh­greif-Par­odie dar­über lustig gemacht, wie es ist, Hypo­chon­der zu sein.

Aber gewiß ist der Impf­sta­tus pri­vat. Das geht nie­man­den etwas an und genau­so hält er es auch. Dabei sind über­all Iro­nie­si­gna­le aber nur weni­ge checken es. Was sei­nen Impf­sta­tus, die Fra­ge aller Fra­gen betrifft, so müs­se er vor­sich­tig sein, sonst gäbe es etwas auf den Alu­hut und dann kommt die ver­schmitzt zurecht­ge­leg­te For­mel im Wort­laut des Scholzo­ma­ten, er sei auf dem besten Wege zu 2G. — Köstlich!

Aber fast alles irr­lich­tert in der gar nicht mehr so frei­heit­li­chen Repu­blik. Man­che möch­ten sich gern dar­über sehr erre­gen, daß er dann auch noch Wit­ze über Coro­na macht.

Nur weni­ge sind nicht her­ein­ge­fal­len und haben sich nicht vor­füh­ren las­sen im Nicht­den­ken. In der Welt vom 7. Janu­ar kon­sta­tiert Mla­den Gla­dić den gei­sti­gen Niveau­ver­fall unter dem Titel: „Harald Schmidt und sein Impf­sta­tus“. Köst­lich, weil sich da einer ein­schwingt in den Sound. — Phi­lo­so­phie­ren ist eben wie Jazz, man soll­te den Ein­satz nicht ver­pas­sen und impro­vi­sie­ren kön­nen. Und zu Recht wird moniert, daß unse­re Gegen­wart kaum noch fähig ist, sich auf die­sen Sound einzulassen:

„Ich bin auf einem guten und ver­nünf­ti­gen Weg, 2G zu erfül­len“, sagt Harald Schmidt in einem Inter­view. Und alles rät­selt: Ist Schmidt unge­impft, gar Impf­geg­ner? War­um unse­re Gegen­wart kaum noch fähig ist, sich auf den Schmidt–Sound ein­zu­las­sen. Und was die Sät­ze des Ex–Talkers signalisieren.

Im jüng­sten Inter­view mit Harald Schmidt in der „Neu­en Zür­cher Zei­tung“ bemerkt sein Gesprächs­part­ner gleich am Anfang: „Wir dür­fen uns nicht im Hotel tref­fen, weil Sie weder geimpft noch gene­sen sind.“ Schmidts Ant­wort: „Daß ich nicht geimpft sei, das behaup­ten Sie ein­fach so, und ich las­se das mal so ste­hen. Mitt­ler­wei­le habe ich mir eine Olaf–Scholz-Formulierung über­legt: ‚Ich bin auf einem guten und ver­nünf­ti­gen Weg, 2G zu erfül­len.’ Das läßt alles offen. Mehr möch­te ich dazu nicht sagen, sonst gibt’s schnell was auf den Alu­hut.“ Eine Ant­wort, die uns merk­lich über­for­dert und prompt der Skan­da­li­sie­rung anheim­ge­fal­len ist.

Alles hat auch eine ande­re Sei­te, die meist nicht gese­hen wer­den soll, das gilt für das Rau­chen, eben­so wie für Hypo­chon­drie. Die erhöh­te Auf­merk­sam­keit auf Dif­fe­ren­zen zwi­schen Leib und See­le, Psy­che und Kör­per sorgt auch für ein hohes Niveau einer Acht­sam­keit, die ein Enter­tai­ner wie Schmidt stets mit einer gewis­sen Leich­tig­keit bewie­sen hat. Schön waren immer die Pas­sa­gen, in denen er hat durch­blicken las­sen, wie er es macht. Zum Bei­spiel die Lacher, von denen es wel­che gäbe, die Grenz­wer­tig­keit signa­li­sie­ren. — Ich schlie­ße dar­aus, daß die erhöh­te Auf­merk­sam­keit sich sonst­wo­hin aus­ge­dehnt hat, Befind­lich­kei­ten wahr­neh­men zu kön­nen, die auch dem Intel­lekt bei alle­dem Freu­de berei­ten, eine, die ganz gern auch mal die vor­füh­ren, die ande­re immer­zu vor­füh­ren, in dem Glau­ben, sie hät­ten die Moral für sich gepach­tet. Den­ken bräuch­te es nicht, wenn man ohne­hin schon im Recht ist. 

Übri­gens, schon mal vom “Mor­bus Goog­le” gehört, auch die Hypo­chon­drie geht mit der Zeit als Cyber­chon­drie. — Mei­ne per­sön­li­che Erfah­rung ist, daß sich vie­les aufs erste Mal goo­geln läßt aber nicht das, was Ärz­ten regel­mä­ßig auf Par­tys wider­fährt, wenn sie sich als eben­sol­che outen. Sogleich rob­ben sich man­che her­aus, nut­zen die Gele­gen­heit, machen sich schon mal ein wenig frei und wei­sen dann auf sich selbst, sie hät­ten da so ein Zie­hen, manch­mal auch ein Stechen.

Ich woll­te mal Heil­prak­ti­ker wer­den, war schon im Stan­dard­kurs an der Uni in Mün­ster: “Phy­sio­lo­gie für Psy­cho­lo­gen”. Bis ich dann gemerkt habe, daß ich mit man­chen Kran­ken nicht klar­kom­me. Jetzt bin ich es nur so neben­her und das erleich­tert sehr.