Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Motive der Mythen

Geimpfte und Ungeimpfte, das gute und das böse Kind

Euge­nio Lucas Veláz­quez: Eng­lish: Auto­da­fé (1853).

Ketzereien über Ketzerverfolgungswahn

Bei Ali­ce Mil­ler, einer begna­de­ten Kin­der­psy­cho­lo­gin, gibt es den inne­ren Kampf zwi­schen dem guten und dem bösen Kind. Das eine ist eben­so des­ori­en­tiert wie das ande­re. Wäh­rend sich das eine fügt, rebel­liert das ande­re und bei­de füh­len sich selbst dabei irgend­wie „gehal­ten“.

Aber was ist denn gut an den guten Kin­dern? Man könn­te kon­sta­tie­ren, daß alle, die sich haben imp­fen las­sen, es in Erwar­tung einer damit auf­kom­men­den Nor­ma­li­tät getan haben aber doch weit weni­ger aus Grün­den der Solidarität. 

Wer sich hat imp­fen las­sen, wird sehr viel weni­ger Acht­sam­keit an den Tag legen. Aber inzwi­schen ist es ein offe­nes Geheim­nis, das der Unter­schied zwi­schen geimpft und unge­impft all­mäh­lich schwindet…

Reak­tio­nen dar­auf, daß Coro­na eine glo­ba­le Natur­ka­ta­stro­phe ist und eben­so­we­nig zu beherr­schen ist wie eine Flut, besteht dar­in, daß gan­ze Gesell­schaf­ten retar­die­ren. Gesucht wer­den Sün­den­böcke und man glaubt, sie unter Anders­den­ken­den und Unge­impf­ten gefun­den zu haben. – Allen wird letzt­lich so etwas wie ein Glau­bens­be­kennt­nis abver­langt, das Spek­trum des Sag­ba­ren ist denk­bar eng. So ent­steht eine Schwei­ge­spi­ra­le, die Hälf­te aller Deut­schen geben zu Pro­to­koll, sich nicht mehr frei­mü­tig öffent­lich zu äußern. 

Dabei war von Anfang an klar, daß alle unter Drei­ßig kaum gefähr­det sind. Aber, man woll­te ja ener­gisch etwas tun. — Aber warum hat man nicht die vul­ner­ablen Grup­pen geschützt und der Jugend die Frei­heit gelas­sen. War­um läßt man es zu, daß die Zahl der Pfle­ge­kräf­te stän­dig abge­nom­men hat?

Es ist unge­heu­er viel Geld ver­brannt wor­den, war­um hat es nicht dazu gereicht, die Ver­hält­nis­se in den Kli­ni­ken durch einem Quan­ten­sprung zu heben? – War­um ist man nach allen Maß­nah­men, Hoff­nun­gen, Aus­sich­ten, Ver­spre­chun­gen und Opfern immer wie­der genau da, wo man ange­fan­gen hat? 

Die Ver­hält­nis­se in die­ser Kri­se sind hyper­kom­plex. Es ist Hybris zu mei­nen, eine sol­che Kata­stro­phe lie­ße sich beherr­schen. Man kann geziel­te Schutz­maß­nah­men ergrei­fen, vor allem Klug­heit wäre ange­ra­ten aber kein Aktionismus. 

Das Muster ist nur zu bekannt: “So tu doch etwas! — Ja was denn tun? — Tu’ irgend­was!”. Das ist jedoch ein Armuts­zeug­nis für alle, die sich in den Glau­ben flüch­ten wie bei der Ket­zer­ver­fol­gung im Mit­tel­al­ter. Die gan­ze Stim­mung ist seit Mona­ten mittelalterlich.

Ich schrei­be seit Febru­ar 2020 an einer phi­lo­so­phi­schen Stu­die über die­se Sinn­kri­se, über das Ver­sa­gen sämt­li­cher Syste­me von Recht, Poli­tik, Medi­en und Wis­sen­schaft. Es hat sich wie­der ein­mal zeigt, was ich immer wie­der zu mei­nem Ent­set­zen beob­ach­ten muß­te: Aus­ge­rech­net dann, wenn es wirk­lich dar­auf ankä­me, gelas­sen, cool, fast kalt­blü­tig und vor allem mit sehr viel Sinn und Ver­stand dar­an zu gehen, die Per­spek­ti­ve der Ver­nunft in der Viel­falt ihrer Stim­men zur Kennt­nis zu neh­men, durch Dis­kur­se, die frei sein müs­sen und offen, immer dann ver­lie­ren die mei­sten den Kopf und die guten, ach so lie­ben Kin­der sind immer ganz vor­ne. Das hilft nicht.

Alles was da so tag­täg­lich ver­han­delt wird, hat gar nicht die Kapa­zi­tät, auf den Boden der Tat­sa­chen zu kom­men, die man zur Kennt­nis neh­men müß­te, woll­te man wirk­lich ver­ste­hen, was da gera­de von­stat­ten geht. Es ist eine unge­heu­re Kom­ple­xi­tät, die aber stets auf eines hin­aus­läuft, sie erwischt unse­re ach so rechts­staat­li­chen, wis­sen­schaft­li­chen, frei­heit­li­chen, dis­kur­si­ven und für­sorg­li­chen Ambi­tio­nen bra­chi­al. Die Moral von der Geschicht‘?

Mehr Beschei­den­heit bit­te, nicht behaup­ten zu wis­sen, was man nicht wis­sen kann. Mit dem Nicht­wis­sen arbei­ten, also nicht den gro­ßen Zam­pa­no machen. – Geschaf­fen wird statt­des­sen eine fast bür­ger­kriegs­ähn­li­che Atmo­sphä­re, ein Auto­da­fé. Ich habe einen geschätz­ten Kol­le­gen am Insti­tut, einen Ket­ten­rau­cher. Und wenn mir das mit der Suche nach den Sün­den­böcken in den Semi­na­ren zu viel wur­de, bei alle­dem schmie­ri­gen Mora­lin, dann habe ich im Brust­ton der Über­zeu­gung ver­kün­det: Alle Pro­ble­me der Mensch­heit könn­ten gelöst sein, wenn nur die Rau­cher nicht wären. – Nun ja, sie spür­ten die Iro­nie dann doch und ahn­ten, wen ich mein­te und sie sahen dann auch in die Hin­ter­grün­de die­ser Bemerkung.

Die Welt ist zu schwie­rig für gute Kin­der, die doch nur spie­len wol­len. Wann soll­te man den aus­sche­ren, wenn nicht jetzt, wo fast alle den Ver­stand ver­lie­ren? Man merkt es an den Wet­ter­vor­her­sa­gen, die Lust am Unter­gang bringt täg­lich neue Epi­so­den. Neu­lich hat sich angeb­lich ein Polar­wir­bel geteilt, war­um hier sibi­ri­sche Käl­te zu erwar­ten sei. Als ich sah, daß die Mel­dung vom Pots­dam-Insti­tut lan­ciert wor­den war, kurz vor der Kli­ma­kon­fe­renz, dach­te ich über die Bere­chen­bar­keit von Akteu­ren, die Kam­pa­gnen und Wis­sen­schaft seit Jahr­zehn­ten nicht mehr auseinanderhalten.

Es ist per­fi­de, den Leu­ten mit gro­ßer Käl­te zu kom­men, das Anschwel­len der Küsten­li­ni­en ver­bin­den vie­le ja doch mit Süd­see­fee­lings. – Dann wur­de ich auch noch auf die­se Mel­dung auf­merk­sam gemacht, weil bad News nun­mal good News sind. Bis mir die Hut­schnur riß, ich habe dann ein­fach nach­ge­schaut, was denn Jörg Kachelm­ann, der sich immer so schön auf­re­gen kann über die­sen Bock­mist sagen wür­de. – Und rich­tig! Er schlug auf den “Spie­gel” ein und kon­sta­tiert, man wüß­te über­haupt nichts von die­sem Polar­wir­bel und daß es wohl nur um die Mel­dung ginge.

Nicht, daß es nicht noch eine Stei­ge­rung gäbe: 

„Der Ablauf eines Inqui­si­ti­ons­pro­zes­ses war weder für den Ange­klag­ten noch für sei­ne Ange­hö­ri­gen durch­schau­bar. Wäh­rend der Ver­neh­mun­gen wur­den den Ver­däch­ti­gen ein­zel­ne Ver­hal­tens­wei­sen vor­ge­wor­fen, die u.U. für sich allein gese­hen kei­ne Abwei­chun­gen von der kirch­li­chen Leh­re dar­stel­len mußten.

Die­se Taten konn­ten dann von den Ange­klag­ten ent­we­der zurück­ge­wie­sen oder zuge­ge­ben und bereut wer­den. Wel­che Schlüs­se von Sei­ten des Gerich­tes dar­aus gezo­gen wur­den, war nicht ersicht­lich. Der Pro­zeß fand nicht als zusam­men­hän­gen­de Ver­hand­lung mit der Anwe­sen­heit der Betei­lig­ten oder wenig­stens der mit der Urteils­fin­dung Betrau­ten statt. Die Dau­er des Ver­fah­rens gab kei­nen Hin­weis auf die Bedeu­tung der Ange­le­gen­heit. Das alles führ­te dazu, daß die Ange­klag­ten bis zum Tag des Auto­da­fés kei­ner­lei Schlüs­se auf den Aus­gang des Ver­fah­rens zie­hen konnten. …

Die mil­de­ste Art der Sank­ti­on des Ver­hal­tens der Ange­klag­ten durch das Inqui­si­ti­ons­ge­richt war das Abschwö­ren. Bei ein­fa­che­ren Ver­ge­hen muß­te dies nicht in der Öffent­lich­keit gesche­hen, son­dern konn­te im Gerichts­saal vor dem Tri­bu­nal durch­ge­führt wer­den. Bei schwer­wie­gen­den Fäl­len fand auch das Abschwö­ren wäh­rend einer öffent­li­chen Urteils­ver­kün­dung statt.

Das Abschwö­ren war gewöhn­lich mit Neben­stra­fen ver­bun­den. Dies waren Geld­bu­ßen, die Ver­pflich­tung, den San­be­ni­to in der Öffent­lich­keit zu tra­gen, oder die Ver­ban­nung.“ („Auto­da­fé“, Wikipedia)


Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft, Identität

Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft, Identität

Vom Clan zum globalen Dorf: Emanzipation ist Selbstorientierung

Phi­lo­so­phie moti­viert den Mut, durch Selbst­ori­en­tie­rung über sich selbst hin­aus­zu­wach­sen, sich immer wei­ter zu eman­zi­pie­ren von jeder Fremd­be­stim­mung durch Natur, Clan­g­eist, Gemein­schaft oder Gesell­schaft, bis hin zum Staat, der auch nicht unbe­ding­ten Gehor­sam ver­dient, all­zu­mal, wenn die­ser not­wen­di­gen Ent­wick­lun­gen im Wege steht. Phi­lo­so­phie ist wie ein guter Geist in fin­ste­ren Zei­ten, der Zuver­sicht ver­mit­telt, in der Eman­zi­pa­ti­on, der Indi­vi­dua­ti­on, der Selbst­ori­en­tie­rung und im Wunsch nach einer Glück­se­lig­keit, die es mit der der Göt­ter auf­neh­men kann.

Flamma­ri­on. Holz­stich eines unbe­kann­ten Künst­lers. In: Camil­le Flamma­ri­on: Die Atmo­sphä­re. Popu­lä­re Meteo­ro­lo­gie; Paris 1888. S. 163. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Phi­lo­so­phie muß nach­voll­zieh­bar sein, sie soll­te sich daher in aller Offen­heit ent­wickeln. Wir kön­nen Ver­nunft nicht besit­zen, wir kön­nen uns nur bemü­hen, ‘ver­nünf­tig zu wer­den’, indem wir uns auf Dia­lo­ge und Dis­kur­se ein­las­sen, in denen die Rat­schlüs­se der Ver­nunft erst zustan­de gebracht wer­den müs­sen. Es geht um das ent­schei­den­de Ori­en­tie­rungs­wis­sen, und wo das nicht hin­rei­chend ist, sind Dis­kur­se über Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung erforderlich.

Selbst­wer­dung, Selbst­ori­en­tie­rung steht auf dem Pro­gramm. Das kann nicht nur, das muß stets indi­vi­du­ell von­stat­ten gehen. Nicht von unge­fähr wird jede Phi­lo­so­phie arg­wöh­nisch betrach­tet, vor allem, wenn sie sich anschickt, ihren Kopf durch die Wol­ken­decke der vor­ge­ge­be­nen Welt­ord­nung zu stecken.

Im Ver­lauf der Anthro­po­ge­ne­se, der Kul­tur– und der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te, läßt sich eine Ten­denz von der Hete­ro­no­mie zur Auto­no­mie beob­ach­ten. Mit neu­en Tech­ni­ken kom­men neue Lebens­wei­sen auf und mit ihnen neue Göt­ter und neue Anschau­ungs­for­men. Was zuvor aus­ge­schlos­sen schien, wird mög­lich, was zuvor üblich war, kann schnell obso­let werden.

Es ver­steht sich, daß jeder Wand­lungs­pro­zeß immer Ver­lie­rer und Gewin­ner erzeugt. Eta­blier­te Auto­ri­tä­ten kön­nen fast über Nacht eine zuvor noch unum­strit­te­ne Aner­ken­nung ein­bü­ßen. Neue Leit­bil­der ent­ste­hen, die stets an den Bruch­li­ni­en zwi­schen Gemein­schaft und Gesell­schaft ver­lau­fen, aber auch an denen zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft. Gera­de mit dem Indi­vi­dua­lis­mus, der all­mäh­lich in den Städ­ten auf­kommt, gehen immense sub­jek­ti­ve und inter­sub­jek­ti­ve Bela­stun­gen einher.

Mit jeder neu­en Zeit betre­ten neue Göt­ter und Prie­ster­schaf­ten die Büh­ne der Kul­tur­ge­schich­te: Das war so, als die Schrift erfun­den wur­de und neue Göt­ter auf­ka­men, die im Buch des Lebens lesen und zu Gericht sit­zen soll­ten, doch vor allem, um die Ver­hält­nis­se in den neu­en urba­nen Wel­ten zu stabilisieren.

Im Ver­hält­nis zur tie­ri­schen Her­kunft liegt das Geheim­nis des Mensch­seins dar­in, daß wir mit­hil­fe von Spra­che und Kul­tur all­mäh­lich alle erdenk­li­chen Erfah­run­gen, die ein­zel­ne Men­schen jemals gemacht haben, mit­ein­an­der tei­len, nach­voll­zie­hen und uns leib­haf­tig aneig­nen kön­nen. Zivi­li­sa­ti­on stei­gert die Pro­zes­se der Erfah­rung von Erfah­run­gen um ein Viel­fa­ches. Das ver­schafft sehr viel mehr Lebens- und Aus­drucks­mög­lich­kei­ten, es erzeugt zugleich aber auch sehr viel mehr Unsi­cher­heit. Inso­fern ist Zivi­li­sa­ti­on wie ein Joker, alles Ler­nen, jede Erfah­rung, Ein­sich­ten, Erkennt­nis­se und Impres­sio­nen zählt plötz­lich sehr viel mehr, weil, wenn und sobald wir sie mit­tei­len, also mit ande­ren tei­len können.

Tho­mas Cole: The Cour­se of Empire. Third Epi­so­de: The Con­sum­ma­ti­on of Empire. 1835/6, New–York, Histo­ri­cal Socie­ty. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Der Staat muß alle die­se Koexi­sten­zen gewähr­lei­sten, und er wird kol­la­bie­ren, wenn es ihm nicht gelingt, eine Viel­falt von Gemein­schaf­ten in und mit ihren Inter­es­sen dau­er­haft mit­ein­an­der zu ver­ge­sell­schaf­ten. Der Staat kann zwar nicht wis­sen, was die Gesell­schaft umtreibt, aber es ist sei­ne Auf­ga­be, ihr zu die­nen und nicht über sie zu herr­schen. Ihm fehlt schlicht­weg die Phan­ta­sie, auch nur annä­hernd beur­tei­len zu kön­nen, was gera­de gesell­schaft­lich von Bedeu­tung ist, war­um und wozu.

In die­sem Kon­text spie­len neue Über­wa­chungs– und Spio­na­ge­mög­lich­kei­ten, ins­be­son­de­re der Ein­satz von Künst­li­cher Intel­li­genz eine weg­wei­sen­de Rol­le. Auf der Agen­da der Welt­ge­schich­te steht die Alter­na­ti­ve: Ent­we­der Tota­li­ta­ris­mus oder Demo­kra­tie, ent­we­der Mis­an­thro­pis­mus oder Humanismus.

Der­zeit schlit­tern nicht weni­ge auch west­li­che Staa­ten auf den Weg in die umfas­sen­de Über­wa­chung des Öffent­li­chen Raums und aller sozia­len Net­ze. Nie war die Gele­gen­heit so greif­bar, göt­ter­gleich alles zu sehen, zu wis­sen und zu deu­ten, um damit zu machen, was auch immer irgend­wel­chen Macht­ha­bern gefällt, wenn, wo und solan­ge sie nicht durch rechts­staat­li­che Siche­run­gen, Ver­fas­sun­gen und Gerich­te davon abge­hal­ten werden.

Man­che den­ken auch dar­an, den Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on zu stop­pen und die gan­ze Ent­wick­lung mehr oder min­der wie­der umzu­keh­ren oder sie ein­zu­frie­ren wie die Ami­schen, eine täuferisch–protestantische Glau­bens­ge­mein­schaft, die den Fort­schritt still­ge­stellt haben kurz vor Ein­füh­rung von Auto und Elektromotor.

Tho­mas Cole: The Cour­se of Empire. Fourth Epi­so­de: Des­truc­tion (1836). New–York, Histo­ri­cal Socie­ty. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Tat­säch­lich sind Ver­lu­ste zu ver­zeich­nen, die im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on mit auf­ge­kom­men sind, wovon eini­ge äußerst schmerz­haft sind. Eigent­lich ent­spricht es dem Wesen jener Kul­tu­ren, die vor jeder Zivi­li­sa­ti­on ihren Bestand hat­ten, Geschich­te als sol­che erst gar nicht auf­kom­men zu las­sen. – Also wur­de jede Dyna­mik ver­hin­dert, kein Ungleich­ge­wicht soll­te auf­kom­men und wo doch, dort wur­de alles unmit­tel­bar wie­der aus­ge­gli­chen durch Opfer, die das Errun­ge­ne gleich wie­der neu­tra­li­sier­ten, auf daß kei­ne ‘Geschich­te’ in Gang kom­men kann.

Nach dem Bruch mit dem Geist geschichts­lo­ser Kul­tur sind immer wie­der Ver­su­che dazu gemacht wor­den und eben­so oft sind sie geschei­tert. Offen­bar gelingt es spä­ter nicht mehr, aus der Dyna­mik aus­zu­stei­gen, um wie­der ein alles umgrei­fen­des gei­sti­ges umgrei­fen­des Gleich­ge­wicht zu schaf­fen und in einer Kul­tur als geleb­tes Leben zu etablieren.

Uto­pien spie­len mit die­sen Visio­nen, sie spe­ku­lie­ren wie Sisy­phus dar­auf, daß es >ein­mal< doch gelin­gen kann. – Sobald es aber wirk­lich ernst­haft ver­sucht wor­den ist, Uto­pien in die Tat umzu­set­zen, bleibt davon oft nur schlech­ter Utopismus.

Aus der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te zu ler­nen bedeu­tet viel, u.a. zu wis­sen, daß es nicht gelin­gen kann, nach mit­tel­al­ter­li­chem Muster die Gesell­schaft in eine Zwangs­ge­mein­schaft zu ver­wan­deln. Dif­fe­ren­zen las­sen sich weder reli­gi­ös noch ideo­lo­gisch ein­fach ver­bie­ten. Die ein­zi­ge Mög­lich­keit den Geist einer alles umgrei­fen­den huma­nen Kul­tur auf­kom­men zu las­sen, wäre die einer huma­nen Demo­kra­tie, in der Par­ti­zi­pa­ti­on gelebt wird.

Con­chi­ta Wurst für Öster­reich mit dem Lied „Rise Like a Phoe­nix“ bei der er- sten Kostüm­pro­be für das Fina­le des Euro­vi­si­on Song Con­test 2014 Kopen- hagen. — Quel­le: Albin Ols­son, Eige­nes Werk, CC BY-SA 3.0, Public Domain via Wikimedia.

Im Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se kommt ganz all­mäh­lich immer mehr Indi­vi­dua­li­tät auf. Zunächst lang­sam, dann immer schnel­ler wird eine histo­ri­sche Dyna­mik ent­facht, die sich inzwi­schen selbst per­p­etu­iert. — Von Epo­che zu Epo­che wer­den immer neue Ansprü­che auf per­sön­li­chen Aus­druck immer radi­ka­ler gel­tend gemacht, gegen Staat, Gesell­schaft und Gemein­schaft. Erst die­se Dif­fe­ren­zen brin­gen die Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te in Gang. Sie gene­rie­ren die Dyna­mik der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te und beschleu­ni­gen die Wand­lungs­pro­zes­se inzwi­schen immer mehr.

Gegen­wär­tig brin­gen Debat­ten über indi­vi­dua­li­sti­sche, sin­gu­lä­re Iden­ti­tä­ten zusätz­li­che Irri­ta­tio­nen mit sich und lösen einen wei­te­ren Schub der Indi­vi­dua­li­sie­rung aus. — Nach­dem die binä­re Dif­fe­ren­zie­rung, ent­we­der weib­lich oder aber männ­lich ›sein‹ zu müs­sen, immer wei­ter dekon­stru­iert wur­de, wer­den ver­schie­de­ne Aspek­te des Männ­li­chen und Weib­li­chen belie­big mit­ein­an­der kom­bi­nier­bar. Zugleich steigt damit aber auch die all­ge­mei­ne Verunsicherung.

Es geht inzwi­schen nicht mehr nur um Indi­vi­dua­li­tät, son­dern immer mehr auch um die Selbst­in­sze­nie­rung der eige­nen Sin­gu­la­ri­tät und dar­um, gegen Staat, Gesell­schaft und Gemein­schaft ganz neu moti­vier­te For­de­run­gen auf Ach­tung, Aner­ken­nung und Schutz gel­tend zu machen. — Auch die Indi­vi­dua­li­sie­rung kommt im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on auf, sie ist das eigent­li­che Movens. Die Lebens­ver­hält­nis­se wan­deln sich, also läßt sich auch die gan­ze Selbst­ori­en­tie­rung ver­än­dern. Nach die­sem Meta­prin­zip bricht jede Indi­vi­dua­ti­on mit ›alt­ehr­wür­di­gen‹ Traditionen.

Zugleich kommt all­ge­mei­ne Ver­un­si­che­rung auf, weil immer auch Erwar­tungs­si­cher­hei­ten dar­über ver­lo­ren gehen und immer mehr Ambi­va­len­zen und Ambi­gui­tä­ten spür­bar wer­den. Gera­de die ganz neu­en Frei­hei­ten, Indi­vi­dua­li­sie­run­gen und Sin­gu­la­ri­tä­ten haben einen beson­ders hohen Preis, weil zusätz­li­che psy­chi­sche aber auch sozia­le Bela­stun­gen damit aufkommen.

Jede neue Frei­heit geht mit Frei­heits­schmer­zen ein­her. Sich etwas davon ›her­aus­zu­neh­men‹, damit Irri­ta­tio­nen aus­zu­lö­sen und womög­lich auch Zorn auf sich zu zie­hen, ist das eine. Neue und ande­re Maß­stä­be aber auf Dau­er zu leben, ist etwas ganz ande­res. — Indi­vi­dua­ti­on ist das trei­ben­de Moment, das den Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on zunächst über­haupt erst in Gang gebracht hat und ihn seit­her durch immer neue Span­nun­gen und Wider­sprü­che immer schnel­ler über sich hinaustreibt.


Welche Werte zählen nach Corona

Unter Coro­na wur­de „Nähe“ para­dox: Zuvor hieß es immer­zu, man sol­le sich berüh­ren las­sen, Nähe zulas­sen und dann kamen die Mas­ken und das Abstandhalten.

Das hat viel aus­ge­löst: Alte Wer­te gehen unter, ande­re tre­ten auf. Inne­re Wer­te wer­den wich­ti­ger, Äußer­lich­kei­ten gera­ten ins Hin­ter­tref­fen. Es fehl­ten ech­te und tie­fe Begeg­nun­gen, in denen Gefüh­le tat­säch­lich mit­ge­teilt wer­den. Die Coro­na-Kri­se hat vie­le Äng­ste, Zwei­fel, Sor­gen und Nöte bewußt gemacht, die bis­lang ver­drängt wurden.

Die Coro­na-Kri­se hat eine inne­re Ein­kehr erzwun­gen, die selbst zum Pro­blem wur­de. Vie­le möch­ten, wol­len und kön­nen sich mit dem eige­nen Selbst aber nicht aus­ein­an­der­set­zen. Dann kämen Fra­gen auf, die boden­los schei­nen, obwohl sie es eigent­lich nicht sind. – Albert Camus spricht von „Selbst­mord“, ohne sich tat­säch­lich umzu­brin­gen. Das Auf­ge­hen in per­ma­nen­ter Sor­ge ist ein sol­cher Fall, sich durch Selbst­über­for­de­rung per­ma­nent abzu­len­ken vom eige­nen Selbst.

Vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen schil­dern die­ses Wag­nis, sich tat­säch­lich auf die ima­gi­nä­re Rei­se zu bege­ben, um dem eige­nen Selbst zu begeg­nen. Es gilt, sich wirk­lich mit dem dunk­len Selbst aus­ein­an­der­zu­set­zen und sich nicht abzu­len­ken von dem, was unse­re eigent­li­che Auf­ga­be wäre, unse­re inne­ren Wer­te zu suchen, zu fin­den und zu entfalten.

Woher stam­men eigent­lich die eige­nen Wer­te? Wir glau­ben zu wis­sen, wie eine roman­ti­sche Begeg­nung aus­zu­se­hen hat und insze­nie­ren sie nur. Wir glau­ben zu wis­sen, wie ein Kuß aus­schau­en muß, um als Aus­druck von Zunei­gung, Lie­be oder Begeh­ren zu gel­ten. Immer­zu geht es nur um die Insze­nie­rung von etwas, das erstre­bens­wert scheint.

Das zur Spra­che zu brin­gen, habe ich mir theo­re­tisch und prak­tisch zur Auf­ga­be gemacht in einer Kom­bi­na­ti­on, die ich als phi­lo­so­phi­sche Psy­cho­lo­gie betreibe.


Worauf es wirklich ankommt.

Vortrag: Bildungshaus Batschuns, Österreich, 11.06.2021

In einer Kri­se zeigt sich, wer wir sind und wor­auf wir uns wirk­lich ver­las­sen kön­nen und wie sta­bil die Ver­hält­nis­se wirk­lich sind. Ob wir es wol­len oder nicht: Kri­sen sind Bewäh­rungs­pro­ben, dann zeigt sich, ob wir uns anpas­sen, ver­än­dern oder viel­leicht sogar über uns hin­aus­wach­sen können.

Reden stärkt, vor allem Ver­ste­hen. Angst schwächt, eben­so wie Hetz­kam­pa­gnen, das alles ver­wirrt und schmä­lert die Kräf­te. – Neue Stär­ken ent­ste­hen, sobald wir läh­men­de Äng­ste behut­sam überwinden.

Eine Kri­se kann vor­über­ge­hend sein, im psy­cho­lo­gi­schen Sin­ne sind Kri­sen jedoch nur der Anfang umfas­sen­der Wand­lungs­pro­zes­se. – In Mär­chen und Mythen macht die Kri­se den Anfang, dann folgt zunächst die Kathar­sis und dar­auf die Transformation.

Vor allem für die Päd­ago­gik zei­gen die Erfah­run­gen der letz­ten 15 Mona­te, daß die Welt von Men­schen gemacht und zu ver­ant­wor­ten ist. Auch die Men­schen­bil­der, die Unkul­tur öffent­li­cher Debat­ten, der Rück­fall in fast reli­giö­se Äng­ste, das alles gibt zu denken.

Die­se Welt, so wie sie ist, hat kei­ne Zukunft. Dabei ist die Kli­ma­fra­ge nur wie die Spit­ze eines Eis­bergs. Wich­tig wäre es, end­lich auch in der Poli­tik ein posi­ti­ves Men­schen­bild an den Tag zu legen, wie es in Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie schon seit den 70er Jah­ren üblich ist. Staat, Poli­tik und Behör­den gehen aber immer noch vom Obrig­keits­staat aus, wenn sie mei­nen, mün­di­ge Men­schen vor sich selbst schüt­zen zu müssen.

Das Bild vom Guten Hir­ten und sei­ner Her­de ist obso­let, es soll­te den vie­len Auto­kra­ten über­las­sen wer­den. Der in der Coro­na-Kri­se erstark­te Staat wird blei­ben. Daher müs­sen die Gegen­ge­wich­te gestärkt wer­den, also brau­chen wir mehr Demo­kra­tie und mehr Gerichts­hö­fe, an denen sich Staat und Poli­tik recht­fer­ti­gen müssen.

Das wird aber alles nicht rei­chen, wenn man bedenkt, was eigent­lich alles inzwi­schen zur Nei­ge geht. Aller­dings war die Zivi­li­sa­ti­on, seit sie vor 12.000 Jah­ren ent­stand, immer schon eine insta­bi­le Angelegenheit.

Vor allem jene Ent­wick­lun­gen, auf die Päd­ago­gik, Psy­cho­lo­gie und Phi­lo­so­phie beson­ders Wert legen, sind über­haupt nicht mit­ge­kom­men. – Das Feh­len­de nach­zu­ho­len ist und bleibt eine Auf­ga­be, in der es vor allem sehr viel sehr pro­fes­sio­nel­le Päd­ago­gik braucht. Schließ­lich ist jeder Mensch ein­zig­ar­tig, dar­in lie­gen Hoff­nun­gen, nur nie­man­den zu verlieren.


LIVE! music, life et cetera…

Heming­way Lounge | Uhland­str. 26 | 76135 Karlsruhe

LIVE! . music, life et cetera . 

Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nen­nen: “Von Frei­heits­lie­be und der Sehn­sucht nach Kontrolle” .

Ull­rich Eiden­mül­ler im Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen

Was hat das Corona–Virus mit uns gemacht? Wie weit hat es die Welt ver­än­dert und wird sie noch ver­än­dern? Wel­che Tie­fen hat das Virus in der Gesell­schaft bloß­ge­legt? — Könn­te es zu sol­chen Fra­gen am Beginn der „Rück­kehr der Frei­heit“ einen kom­pe­ten­te­ren Gesprächs­part­ner geben als ein Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie an der Fakul­tät für Gei­stes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten am Karls­ru­her Insti­tut für Tech­no­lo­gie (KIT)?

Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen Gesprächs­part­ner von Ull­rich Eiden­mül­ler beim tra­di­tio­nel­len Talk in der Heming­way Lounge sein. Der Phi­lo­soph, der sei­ne Zeitgeist–Analysen seit Jah­ren aus sei­nem Wohn­mo­bil am Kanal in Mün­ster schreibt, ana­ly­siert die Aus­wir­kun­gen auf das täg­li­che Leben, den „Ver­lust an Nähe, den wir zu ver­kraf­ten haben, die Unkul­tur der Ver­un­glimp­fung Anders­den­ken­der, das frü­he Schlie­ßen der gesell­schaft­li­chen Dis­kur­se schon im März 2020“.

Freu­en Sie sich auf ein sprit­zi­ges und tief­ge­hen­des Gespräch in der wie­der­eröff­ne­ten Lounge, unter­malt wie immer von der Musik, die Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nen­nen mitbringt.


Technikethik

Kol­lo­qui­um 

Tech­nik­ethik

Tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen kon­tro­vers reflektieren

SS 2021 | don­ners­tags | 14:00–15:30 | Online
Beginn: 22 April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

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Von Ver­ant­wor­tung ist immer wie­der die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles ande­re als ver­trau­ens­er­weckend. Der gute Wil­le allein genügt nicht. Zu unter­schei­den sind min­de­stens das Sub­jekt der Ver­ant­wor­tung, der Ver­ant­wor­tungs­be­reich und die Ver­ant­wor­tungs­in­stanz, (ehe­dem Gott und jetzt?).

Es gilt näher hin­zu­se­hen, wenn wir Fra­gen der Ver­ant­wor­tung ange­hen wol­len, denn der Begriff ist mehr­di­men­sio­nal. Der Karls­ru­her Tech­nik­phi­lo­soph Gün­ter Ropohl hat das Gan­ze auf eine For­mel mit sie­ben Varia­blen gebracht: Wer ver­ant­wor­tet was, wofür, wes­we­gen, wovor, wann, wie? Wir müs­sen doch nicht alles machen, was wir kön­nen. Wie weit geht ihre (per­sön­li­che) Ver­ant­wor­tung wirklich?

Die­ses Kol­lo­qui­um soll Fra­gen der Tech­nik­ethik prak­tisch erfahr­bar machen. Das wird anhand von Fall­stu­di­en aus ihren eige­nen zukünf­ti­gen Berufs­fel­dern gesche­hen, die sich aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven dis­ku­tie­ren las­sen. Dabei kommt es weni­ger auf das Ergeb­nis an, son­dern auf die Qua­li­tät und den Aus­tausch der vor­ge­brach­ten Argumente.

Betrei­ben wir also Tech­nik­ethik ganz kon­kret. Neh­men wir uns rea­le Situa­tio­nen vor: sei­en es der Abgas­skan­dal, Stel­lung­nah­men zum Ein­satz von Gen­ma­ni­pu­la­ti­on, der Ein­sturz der Brücke in Genua, Unfäl­le im Rah­men von Fahr­ten mit auto­no­men Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmit­tel­bar dabei und hät­ten etwas zu sagen. Insze­nie­ren wir die Kon­tro­ver­sen, in denen Tech­nik­li­ni­en gestal­tet wer­den, um sie am eige­nen Leib zu
erfah­ren. Die Ver­an­stal­tung soll Ihnen dazu die­nen, Erfah­run­gen zu machen, die spä­ter womög­lich auf Sie zukom­men. Es ist dann fast wie ein Pri­vi­leg, sich spä­ter dar­an zurück­er­in­nern zu kön­nen, so etwas Ähn­li­ches schon ein­mal durch­ge­spielt zu haben.

Nein, wir müs­sen es nicht.
Aber?
Aber wir wer­den es machen.
Und wes­halb?
Weil wir nicht ertra­gen, wenn der klein­ste Zwei­fel bleibt,
ob wir es wirk­lich können.

(Hans Blu­men­berg)

Dirck van Babu­ren: Pro­me­theus wird von Vul­kan ange­ket­tet (1623). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia. — Pro­me­theus, der Gott des Fort­schritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Auf­sicht des Göt­ter­bo­ten Her­mes, vom Gott der Tech­nik Vul­kan an einen Fel­sen im Kau­ka­sus geschmie­det. Sein Ver­ge­hen: Er hat aus Men­schen­lie­be die Tech­nik zu den Men­schen gebracht. Die­se soll­ten dar­auf den Fort­schritt eini­ge Jahr­tau­sen­de nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Die Zei­ten sind vor­bei, als Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen fast jede wei­te­re Ver­ant­wor­tung noch zurück­wie­sen mit den Wor­ten, sie wür­den die Tech­nik nur her­stel­len, sei­en aber nicht ver­ant­wort­lich dafür, was dar­aus wür­de. — Aber machen wir uns nichts vor, Ver­su­che, den tech­ni­schen Fort­schritt auf ›bes­se­re‹ Bah­nen zu len­ken, gab es vie­le. Unver­ges­sen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der ver­selb­stän­dig­ten Wis­sen­schaf­ten die Rol­le einer Fahr­rad­brem­se am Inter­con­ti­nen­tal Flugzeug. 

For­de­run­gen nach Ethik, Ver­ant­wor­tung, Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, nach­hal­ti­gem Wachs­tum und Kil­ma­schutz wer­den tag­täg­lich erho­ben und sind nicht unpro­ble­ma­tisch, denn es ist auch Über­for­de­rung im Spiel. Wofür sind wir als Ein­zel­ne ver­ant­wort­lich und wie soll denn die Gesamt­ver­ant­wor­tung wahr­ge­nom­men wer­den? All­mäh­lich wird es Zeit. Wer gibt die Tech­nik­zie­le vor oder gene­rie­ren sie sich selbst? 

Was vie­le Ver­schwö­rungs­theo­rien noch unter­stel­len: Es gibt sie nicht, die Schalt­zen­tra­len der Macht, in denen die Zie­le des Fort­schritts vor­ge­ge­ben, der Kurs ein­ge­stellt und die Ent­wick­lun­gen koor­di­niert wer­den. Zwei­fels­oh­ne spie­len Tech­nik und Wirt­schaft eine gro­ße Rol­le, aber auch Poli­tik und Kultur.

Der blaue Pla­net ist zur Anthro­po­sphä­re gewor­den. Inzwi­schen wur­de bereits ein neu­es Erd­zeit­al­ter aus­ge­ru­fen, das Anthro­po­zän. Die Zivi­li­sa­ti­on ist nun­mehr alles ent­schei­dend für das Schick­sal des gan­zen Pla­ne­ten und die Zukunft der Mensch­heit. Die Erde ist zum Raum­schiff gewor­den. Wir rasen durch einen lebens­feind­li­chen Raum, hin­ter uns eine erst kur­ze Epi­so­de der Zivi­li­sa­ti­on und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kol­li­si­ons­kurs geht.

Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navi­ga­ti­on vor­ge­nom­men wird, wenn wir dort­hin­ein gelan­gen könn­ten, es wäre der Schock unse­res Lebens. Denn die Pilo­ten­kan­zel ist leer, alles steht auf Auto­pi­lot und nie­mand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steu­ern. Dabei ist das Gan­ze kei­nes­wegs nur eine Fra­ge der Tech­nik, son­dern auch eine von Poli­tik, Wirt­schaft, Recht, Kul­tur, Wis­sen­schaft und vie­lem ande­ren mehr.

Jan Cos­siers: Car­ry­ing Fire (ca. 1630). Pro­me­theus stiehlt das Feu­er aus der Werk­statt des Vul­kan. Es ist nicht das Herd­feu­er, das hat­ten die Men­schen schon sehr lang. Es ist das Metall­ur­gen­feu­er, womit die Bron­ze­zeit begann und
dann auch die Zivi­li­sa­ti­on. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Daher genügt es längst nicht mehr, ein­fach nur ›gute‹ Tech­nik zu machen, Pro­ble­me prag­ma­tisch zu lösen, im Sin­ne des ›sta­te of the art‹ zu ent­wickeln, Nor­men und Vor­schrif­ten ein­zu­hal­ten usw. usf. — Dar­über hin­aus stellt sich vor allem auch die Fra­ge, wie weit denn die per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung rei­chen soll. Es ist nicht allein die Tech­nik, die den Fort­schritt bestimmt, es sind vie­le ver­schie­de­nen Fak­to­ren, die eine Rol­le spie­len. — Die Rol­len im Mythos vom Pro­me­theus, der den tech­ni­schen Fort­schritt zur Dar­stel­lung bringt, las­sen die Zusam­men­hän­ge erahnen. 

Da ist der Men­schen­freund Pro­me­theus, der mit besten Absich­ten die Ent­wick­lung anfacht, aber eigent­lich nicht sehr glück­lich agiert. Da ist Vul­kan, der Tech­ni­ker, der alles tut, was ihm auf­ge­tra­gen wird. Er murrt zwar, als er den geschätz­ten Kol­le­gen anket­ten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zur Mensch­heit hat und daher hin und her­ge­ris­sen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athe­ne, die Göt­tin der Weis­heit, die den neu­en Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen eine See­le ein­haucht. Sie spen­det auch die Wis­sen­schaft und die Ver­nunft. Außer­dem ist da noch Pan­do­ra, die mit allen Gaben Beschenk­te, die die Gaben der abdan­ken­den Göt­ter zu den Men­schen bringt, aber eben auch die damit ver­bun­de­nen Übel. Und da ist noch Epi­me­theus, ein Melan­cho­li­ker, der sich in Pan­do­ra ver­liebt. — Das dürf­te genü­gen, die ver­schie­de­nen Sei­ten und Inter­es­sen zu cha­rak­te­ri­sie­ren, die dafür sor­gen, daß der Fort­schritt eben einen bestimm­ten Gang nimmt.

Als der Mün­che­ner Sozio­lo­gie Ulrich Beck im Jah­re 1958 den Ein­tritt in die Risi­ko­ge­sell­schaft dia­gno­sti­zier­te, sah er den technisch–ökonomischen Fort­schritt über­la­gert von immer grö­ße­ren, unge­plan­ten Neben­fol­gen, grenz­über­schrei­ten­den Umwelt­pro­ble­men und glo­ba­len Fol­gen Es gibt inzwi­schen einen Grad an Kom­ple­xi­tät, der sich nicht mehr steu­ern oder gar beherr­schen läßt. Eigent­lich müß­ten alle unse­re Inno­va­tio­nen unter­halb die­ser Schwel­le blei­ben, aber das Gegen­teil ist der Fall. Also wofür sind Tech­ni­ker, Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen wirk­lich ver­ant­wort­lich? Wel­cher Teil der Ver­ant­wor­tung fällt ande­ren zu?

Har­ry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wur­de von Vul­kan eine Frau erschaf­fen, mit allen Gaben der Göt­ter aus­ge­stat­tet und von Her­mes zu den Men­schen gebracht. Sie brach­te jedoch nicht nur die Fähig­kei­ten der Göt­ter, son­dern auch die damit ver­bun­de­nen Übel auf die Erde. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Es ist kei­ne unpro­ble­ma­ti­sche Ent­wick­lung, daß in den letz­ten Jahr­zehn­ten immer mehr Ver­ant­wor­tung auf Ein­zel­ne über­tra­gen wur­de, wäh­rend die Gesamt­ver­ant­wor­tung sich immer wei­ter ver­flüch­tigt. Wer ver­ant­wort­lich sein soll, muß gestal­ten, muß auch anders ent­schei­den kön­nen, erst dann kann Ver­ant­wor­tung zuge­schrie­ben wer­den. — Inso­fern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz prak­tisch umge­gan­gen wer­den kann, ist das ande­re. Sich ver­ant­wort­lich zu füh­len für Ver­hält­nis­se, die nicht in der eige­nen Macht ste­hen, ist daher nicht unpro­ble­ma­tisch. Wer Ver­ant­wor­tung über­nimmt, muß ›Nein sagen‹ kön­nen oder ›So nicht!‹.

In die­sem Semi­nar sol­len sol­che Kon­flik­te in Wert­fra­gen, Ziel­kon­flik­ten und der mora­li­schen Inte­gri­tät durch­ge­spielt wer­den. Das geschieht anhand von Bei­spie­len ein­schlä­gi­ger Dilemma–Situationen. Mit­un­ter sind die Rah­men­be­din­gun­gen schon pro­ble­ma­tisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedin­gun­gen schlech­ter Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hält­nis­se und aus Sor­ge um die eige­ne Repu­ta­ti­on fach­lich kom­pe­tent und mora­lisch inte­ger zu han­deln. Dazu bedarf es eini­ger Erfah­run­gen, die genau­so wich­tig sind wie das gan­ze tech­ni­sche Know–how.

Dazu hat der Kon­stan­zer Phi­lo­soph und Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker Jür­gen Mit­tel­straß eine hilf­rei­che Unter­schei­dung geprägt: Zum tech­ni­schen Ver­fü­gungs­wis­sen gehört auch ein eben­so wich­ti­ges Ori­en­tie­rungs­wis­sen. Das eine sagt uns wie, das ande­re aber wozu. — Mit­un­ter gera­ten aber das Wie und das Wozu in Wider­sprü­che. Die Tech­nik­ge­schich­te ist voll sol­cher Bei­spie­le, wo erst sehr viel spä­ter sich Neben­fol­gen mit kolos­sa­len Wir­kun­gen zei­gen, bis sie end­lich wahr­ge­nom­men und the­ma­ti­siert werden.

Und natür­lich stellt sich immer wie­der die Fra­ge, ob es nicht doch eine ›bes­se­re‹ Tech­nik gibt, eine, die von vorn­her­ein weni­ger Neben­fol­gen hat. Tech­ni­ku­to­pien sind daher eine wich­ti­ge Ori­en­tie­rungs­hil­fe, vor allem dann, wenn kri­tisch damit umge­gan­gen wird. Wesent­lich ist es, die ver­schie­de­nen Aspek­te erör­tern zu kön­nen und nicht zuletzt, ande­re zu über­zeu­gen. Dazu ist kri­ti­sches Den­ken erfor­der­lich. Daher geht es um die ethi­sche, poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Ver­ant­wor­tung im Inge­nieur­we­sen. Erst das macht ›gute‹ Tech­nik mög­lich, ein ›gutes‹ Gewis­sen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

Band­icoot Robot: Con­ver­ting man­ho­le to robo­ho­le (2018). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

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Philosophische Ambulanz

Philosophische Ambulanz

SS 2021 | freitags | 12:00–13:30 Uhr | Raum: online

Beginn: 23. April 2021 | Ende: 23. Juli 2021

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Fer­di­nand Bart: Der Zau­ber­lehr­ling, (1882). Zeich­nung aus dem Buch Goethe’s Wer­ke, 1882. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia

Und sie lau­fen! Naß und nässer
Wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch ent­setz­li­ches Gewässer!
Herr und Mei­ster! hör mich rufen! —
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.
»In die Ecke,
Besen! Besen!
Seid’s gewe­sen.
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu sei­nem Zwecke,
Erst her­vor der alte Meister.

(Goe­the: Der Zauberlehrling)

In der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. 

Es kommt viel mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen Fort­schritt errei­chen. Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

Verstehen ist Erfahrungssache

Im Phi­lo­so­phi­schen Café kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es um nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. Es kommt viel­mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen tat­säch­li­chen Fort­schritt im Ver­ste­hen erreichen.

Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie­der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

Auf­merk­sam­keit ist eine begrenz­te Res­sour­ce. Wir müs­sen selbst ent­schei­den, wann wir etwas auf sich beru­hen las­sen, für wel­che The­men wir offen sind, und wofür wir uns wirk­lich bren­nend inter­es­sie­ren. Die Zunah­me an Infor­ma­tio­nen ist dabei von erheb­li­cher Bedeu­tung, denn sie führt gegen­wär­tig ganz offen­bar zu Über­for­de­run­gen. Alles könn­te man wis­sen, aber jedes Wis­sen ist eigent­lich unsi­che­rer denn je.


Das erschöpfte Selbst

Ober­se­mi­nar:

Das erschöpf­te Selbst — Die Psy­che und die Narrative

Don­ners­tags | 12:00–13:30 Uhr | Raum: online

Beginn: 15. April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

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Es gilt, ein mul­ti­ples Selbst und Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät zu ent­wickeln. Denn wenn wir den bis­he­ri­gen Ver­lauf der Psy­cho­ge­ne­se in die Zukunft ver­län­gern, dann wer­den wei­te­re Inter­na­li­sie­run­gen folgen. 

Das wer­den vor allem auch sol­che sein, die Pro­ble­me berei­ten, weil sie immer mehr mit­ein­an­der im Hader lie­gen wie Prie­ster und Ket­zer, wie Scha­ma­nen und Wis­sen­schaft­ler, wie Natur– und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. — Es wird ganz gewiß nicht ein­fa­cher, son­dern kom­pli­zier­ter, wenn nun­mehr wei­te­re wider­sprüch­li­che Figu­ren und Nar­ra­ti­ve hin­zu­kom­men, so, wie wir inzwi­schen fast den gan­zen Göt­ter­him­mel in uns haben als Teil unse­rer Psyche.

Nicht nur die sozia­le Außen­welt, son­dern auch die psy­chi­schen Innen­wel­ten dif­fe­ren­zie­ren sich im Ver­lauf der Kul­tur­ge­schich­te immer wei­ter aus. Wenn die Welt, weni­ger die natür­li­che Umwelt, als viel­mehr die sozio­kul­tu­rel­le zwei­te Natur, immer kom­ple­xer wird, dann stei­gen die Anfor­de­run­gen, wirk­lich noch zu ver­ste­hen, was eigent­lich gespielt wird. 

Es soll­te daher mög­lich sein, die inhä­ren­te Dia­lek­tik ver­schie­de­ner Per­spek­ti­ven mit allen ein­schlä­gi­gen Dif­fe­ren­zen ganz bewußt in Dienst zu neh­men, um sodann selbst den­ken und sich an die Stel­le eines jeden ande­ren ver­set­zen zu kön­nen, um schließ­lich im Bewußt­sein aller die­ser unter­schied­li­chen Stim­men aufzutreten.

Vor­ge­stellt wird uns Nar­ziß als ein anmu­ti­ger all­seits begehr­ter Jüng­ling, nur daß die­ser, ganz anders als der noch anmu­ti­ge Jüng­ling im Mario­net­ten­thea­ter von Kleist, auch im wei­te­ren Ver­lauf sei­ner Jugend rein gar nichts von sei­ner Anmut ein­büßt. Man kön­ne ihn als ein Bild der när­ri­schen Eigen­lie­be anse­hen, nach wel­cher einer ande­re Leu­te ver­ach­tet, end­lich aber ein Narr wer­de, und selbst ver­geht, heißt es im gründ­li­chen mytho­lo­gi­schen Lexi­kon von Ben­ja­min Hede­rich, das bereits Goe­the, Schil­ler und Kleist inspi­riert hat.

Bei Ovid erfah­ren wir sein doch recht jugend­li­ches Alter, Nar­ziß habe soeben eines zu fünf­zehn Jah­ren hin­zu gefügt und kön­ne eben­so noch als Kna­be erschei­nen aber auch bereits als Jüng­ling. Wir haben es also mit einem recht jun­gen Men­schen zu tun, und ver­wun­der­lich ist eigent­lich, daß allen Ern­stes erwar­tet wird, die­ser sol­le sich in die­sem Alter bereits zu irgend­ei­ner Lie­be bekennen. 

Über­tra­gen in unse­re Gegen­wart müß­ten wir pro­te­stie­ren und anfüh­ren, daß ein hal­bes Kind sehr wohl auch sein Recht auf einen Rest Kind­heit, auf Jugend­lich­keit, Unge­bun­den­heit, auch auf Selbst­ver­liebt­heit habe und daß nicht erwar­tet und schon gar nicht gefor­dert wer­den sol­le, er möge als­bald den soge­nann­ten Ernst des Lebens oder gar der Grün­dung einer Fami­lie ins Auge zu fas­sen. — Aber unter­stel­len wir wei­ter­hin, der Mythos wol­le uns anhand des Nar­ziß etwas ande­res vor Augen füh­ren, geste­hen wir ihm also zu, woge­gen wir durch­aus Ein­spruch erhe­ben könnten.

War­um es einen sol­chen Mythos geben muß, der uns den Nar­ziß­mus näher vor Augen führt, läßt sich anhand einer Neben­be­mer­kung bei Ovid zumin­dest erah­nen, es ist die ›Neu­heit des Wahn­sinns‹ bei Nar­ziß, dar­in läge dann also das eigent­li­che Motiv für die­sen Mythos. 

Am Anfang steht der geheim­nis­vol­le Spruch des Sehers, der noch aus der Kin­der­zeit stammt, der über lan­ge Zeit nicht in Erfül­lung gehen soll­te: »Wenn er sich nicht kennt!« sei ihm ein lan­ges Leben beschie­den, hat­te The­re­si­as vorhergesagt.

“Lang schien eitel und leer sein Aus­spruch. Doch ihn bewäh­ren That und Erfolg und die Art des Tods und die Neu­heit des Wahn­sinns.” (Ovid: Metamorphosen)

Die­se ›Neu­heit des Wahn­sinns‹ wäre dem­nach der eigent­li­che Anlaß, war­um es die­sen Mythos, war­um es Nar­ziß hat­te geben müs­sen, um zu demon­strie­ren, daß etwas in sei­ner Ent­wick­lung schief gegan­gen ist, was nicht schief gehen soll­te. — Der neu­ar­ti­ge Wahn­sinn soll­te nun justa­ment in dem Augen­blick aus­bre­chen, als sich Nar­ziß doch noch selbst ken­nen ler­nen sollte.

Es scheint zugleich, als wol­le der Mythos auch pro­te­stie­ren, als sei er gegen irgend­et­was Neu­es gerich­tet, vor des­sen Fol­gen hier gewarnt wer­den soll, anhand eines schlim­men Fall­bei­spiels. — Wenn dem so wäre, daß der Mythos selbst und sei­ne Autor­inten­ti­on einer Epo­che ent­stammt, in der das, wovor hier gewarnt wer­den soll, noch gar nicht bekannt war, so daß es Befürch­tun­gen gab, gegen die sich das mythi­sche Modell des Nar­ziß rich­ten soll­te, dann steht ver­mut­lich im Hin­ter­grund die Erfah­rung eines ein­schnei­den­den kul­tu­rel­len Wandels.

Wir haben es hier also ver­mut­lich mit einem ent­schei­den­den Schritt im Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se zu tun. — Die Neu­heit des Wahn­sinns von Nar­ziß läge dem­zu­fol­ge dar­in, nicht mehr ein­fach wie üblich von Lie­be ergrif­fen zu wer­den, als wil­len­lo­ses Objekt eines Angriffs des Hecken­schüt­zen Amor, der, selbst noch ein ver­ant­wor­tungs­lo­ses Kind, ein­fach mit Lie­bes­fei­len nur so um sich schießt und der nicht sel­ten auch Zeus zu allen erdenk­li­chen Eska­pa­den verleitet. 

Wir hät­ten dann im Nar­ziß einen ange­hen­den jun­gen Mann vor uns, der sich das Urteil dar­über, in wen er sich ver­liebt und ob über­haupt, selbst vor­be­hält. Auch das wäre eine Les­art, wobei die Neu­ar­tig­keit des Wahn­sinns, die Unver­schämt­heit aus der Per­spek­ti­ve der Alten zwei­fels­oh­ne im Anspruch auf Indi­vi­dua­li­tät liegt. 

Nar­ziß wäre einer, der sich nicht so ein­fach ergrei­fen läßt, der sich sei­ne Kind­heit und sei­ne Jugend­lich­keit bewahrt. — Nar­ziß dürf­te dem­nach in ganz beson­ders einem Wesens­zug als arro­gant, selbst­ver­liebt und auch hoch­mü­tig erschie­nen sein, in sei­nem Anspruch ein eigen­stän­di­ges, selbst­be­stimm­tes Indi­vi­du­um sein zu wollen.


Der Corona-Diskurs als Katharsis

Heinz–Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit: Der Corona–Diskurs als Kathar­sis. Panik, Absturz, Kri­se und Trans­for­ma­ti­on. (ZeitGeister4); Ham­burg 2021. Titel­bild: Wolf­gang Gan­ter: Bac­te­ria­li­ty, Work in Pro­gress. Mit freundl. Genehm. durch Wolf­gang Gan­ter, Ber­lin. (Alle Rech­te vorbehalten!)

Erscheint im Herbst 2021

Seit Urzei­ten waren Men­schen fast immer auf Wan­der­schaft. Aber vor 12.000 Jah­ren kam die Seß­haf­tig­keit auf, also Städ­te, Krie­ge, Reich­tum, Armut, Hoch­kul­tur, Luxus, Elend und Epidemien.

Inner­halb weni­ger Mona­te hat sich ein Virus welt­weit aus­brei­ten kön­nen. Fast über­all wur­de der Aus­nah­me­zu­stand aus­ge­ru­fen mit tie­fen Ein­grif­fen in Grund­rech­te. Der Shut–Down schien vie­len als ein­zig mög­li­che Kon­se­quenz, ein Dis­kurs fand gar nicht erst statt.

Eine Rie­ge aus­er­wähl­ter Viro­lo­gen und Epi­de­mio­lo­gen insi­nu­ier­te die Richt­li­ni­en der Poli­tik und die­se betä­tig­te dar­auf den Not–Aus–Schalter. Gan­ze Län­der sind seit­her in Ago­nie, mit immensen Fol­gen für die Exi­stenz, die Kul­tur und nicht zuletzt für die Psyche.

Die­ses Buch wur­de Mit­te März 2020 in der Absicht begon­nen, dem Zeit­geist eine Nasen­län­ge vor­aus zu sein, anfangs noch in der Erwar­tung, die Corona–Krise sei zwar eine lehr­rei­che Epi­so­de, aber bald schon wie­der vor­über. Es galt, die Ent­wick­lung im gro­ßen Gan­zen zu ver­ste­hen, was war und sein wür­de, wel­che Ver­lu­ste zu bekla­gen, wel­che sozia­len, per­sön­li­chen, psy­cho­lo­gi­schen und see­li­schen Kata­stro­phen zu bewäl­ti­gen sind. Dazu zäh­len neue Äng­ste, die blei­ben, Trau­ma­ta, die akut wur­den und sol­che, die neu geschaf­fen wor­den sind. — Wie wer­den wir mit den vie­len per­sön­li­chen Schick­sa­len umge­hen in der Welt, die nach Coro­na kommt?

85% eines Eis­bergs lie­gen unter Was­ser, so ver­hält es sich hier auch. Unse­re Dis­kur­se sind ober­fläch­lich, bei wei­tem nicht umfas­send und sie gehen nicht in die Tie­fe. Wir haben nur den sicht­ba­ren Teil vor Augen. Es gibt sehr viel mehr, wor­auf zu ach­ten wäre. Nicht min­der ent­schei­dend sind alle erdenk­li­chen wei­te­ren Fol­gen, kul­tu­rel­le, exi­sten­ti­el­le und vor allem auch die psy­chi­schen und sozia­len Neben­wir­kung sämt­li­cher Maßnahmen.

Man bekommt das Gan­ze gar nicht erst in den Blick. Die herr­schen­de Stra­te­gie wird wie üblich als alter­na­tiv­los hin­ge­stellt. Weil vie­le Äng­ste im Spiel sind, wird fast alles mit einer Schick­sals­er­ge­ben­heit hin­ge­nom­men, die gar nicht ange­bracht ist. — Auch wird immer wie­der kon­sta­tiert, man dür­fe Men­schen­le­ben nicht auf­rech­nen, aber genau das geschieht die gan­ze Zeit. Es wer­den andau­ernd heik­le Ent­schei­dun­gen in Ziel– und Wert­kon­flik­ten gefällt aber nicht offengelegt.

Es fehlt das Gespür für die ange­mes­se­ne Art, ergeb­nis­of­fe­ne Debat­ten zu füh­ren. Unse­re Gesprächs­kul­tur hat sich im Zuge der Kri­se wei­ter ver­schlech­tert. Mehr denn je wird Gesin­nungs­kon­trol­le betrie­ben, Ver­un­glimp­fun­gen sind fast schon salon­fä­hig gewor­den. Vie­le sind ein­ge­schüch­tert und wagen gar nicht mehr, sich über­haupt noch zu äußern. Wir haben viel zu wenig Phan­ta­sie und Diver­si­tät in den Debat­ten, weil stän­dig mit Exkom­mu­ni­ka­ti­on bedroht wird, wer auch nur Anstal­ten macht, in Alter­na­ti­ven zu den­ken. — Man kann aller­dings die Maß­nah­men kri­tisch sehen, ohne Coro­na zu leug­nen. Die Kurz­for­mel von den Corona–Leugner oder gar von den Covidio­ten, Aluhut–Trägern und die Dif­fa­mie­rung jed­we­der Kri­tik ist zutiefst unde­mo­kra­tisch. Das alles sind kei­ne Anzei­chen für einen mora­li­schen Fort­schritt, ganz im Gegenteil.

Die mona­te­lan­ge Eng­füh­rung der Debat­ten ist ver­hee­rend, so kann gar kei­ne Ver­nunft in den Dis­kur­sen auf­kom­men. Nur bestimm­te Per­spek­ti­ven sind über­haupt zuge­las­sen. Wer ande­res anspricht, läuft Gefahr, exkom­mu­ni­ziert zu wer­den. Es ist ein Kli­ma der Ein­schüch­te­rung ent­stan­den, dabei käme es dar­auf an, alle erdenk­li­chen Alter­na­ti­ven offen und öffent­lich zu dis­ku­tie­ren. — Das gilt ins­be­son­de­re für Restau­rants und Kul­tur­ein­rich­tun­gen, die längst bewie­sen haben, daß sie es kön­nen. Man läßt sie nicht, warum?

›Sor­ge‹ ist oft gar nicht so selbst­los, wie sie sich gibt. Sie spie­gelt sich gern selbst und glaubt, unver­zicht­bar zu sein. Dabei steht sie der tat­säch­li­chen Ent­wick­lung nur im Wege. Die Poli­tik möch­te ganz offen­bar nichts von der neu hin­zu­ge­won­ne­nen Macht wie­der abge­ben. Dage­gen spricht neben der Gewal­ten­tei­lung ein wei­te­res Prin­zip, die Gewalt staat­li­cher Macht ein­zu­schrän­ken, die Sub­si­dia­ri­tät. — Dem­nach wird ein Pro­blem gene­rell zunächst auf der unter­sten Ebe­ne gelöst, also indi­vi­du­ell, fami­li­är oder in der Gemein­de. Erst dann, wenn die­se Mög­lich­kei­ten erschöpft sind, sol­len, dür­fen und müs­sen staat­li­che Insti­tu­tio­nen eingreifen.

Für vie­le gibt es aus­schließ­lich die Kate­go­rien Rich­tig und Falsch. Was bedeu­tet die­se Pola­ri­sie­rung für das Funk­tio­nie­ren der Gesell­schaft? Das Behar­ren auf die­se Unter­schei­dung ent­spricht einer bestimm­ten Ent­wick­lungs­stu­fe bei Kin­dern. Das Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen ist dann noch nicht so weit ent­wickelt. Tat­säch­lich ist aber erst dann die Über­nah­me per­sön­li­cher Ver­ant­wor­tung mög­lich. Je weni­ger Regeln vor­ge­ge­ben sind, son­dern nur noch Prin­zi­pi­en, umso mehr muß man schon selbst sehen, was jeweils ange­mes­sen ist, auch auf die Gefahr hin, danebenzuliegen.

Die schwar­ze Päd­ago­gik setz­te da noch ganz auf Stra­fen, was nur dazu führt, die Intel­li­genz her­aus­zu­for­dern. Dann wer­den Regeln nicht aus eige­nen Moti­va­ti­on ein­ge­hal­ten, son­dern nur, weil man nicht erwischt wer­den möch­te. So wird genau der­je­ni­ge Unter­ta­nen­geist erzeugt, den wir eigent­lich hat­ten über­win­den wol­len. Schwar­ze Päd­ago­gik, die mit Zwang und Stra­fe ope­riert, ist seit Jahr­zehn­ten pas­sé. Aber in Poli­tik und Staat sind die alten Zöp­fe aus dem Kai­ser­reich offen­bar noch immer nicht abge­schnit­ten. — Selbst­ver­ant­wor­tung ist eine Fra­ge der Kul­tur, sie muß ein­ge­übt und dann aus­ge­übt wer­den, weil man ganz gewiß immer mal an Gren­zen stößt, über die die Ent­wick­lung hin­aus­füh­ren muß.

Viel hal­ten es aber nerv­lich nicht aus, sich selbst zu ori­en­tie­ren und das Den­ken in der Schwe­be zu hal­ten. Man­che sehen sogar eine Schwä­che dar­in, wenn nicht sofort ent­schie­den und gehan­delt wird, egal wie. Aber die, die das eili­ge Han­deln ver­spre­chen, ver­fol­gen oft ganz ande­re Inter­es­sen. — Noch immer herrscht die Vor­stel­lung vor, beim Dis­ku­tie­ren gin­ge es ums Hau­en und Ste­chen. Dabei fehlt das Lächeln der Wei­sen und die Freu­de dar­an, gemein­sam ein neu­es Den­ken zu ent­wickeln, um damit sehr viel mehr zu ver­ste­hen als jemals zuvor.


Wir alle spielen Theater

Wir alle spielen Theater

WS 2020 | donnerstags | 12:00–13:30 | Raum: Online
Beginn: 5. Nov. 2020 | Ende: 18. Febr. 2021

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Mat­thieu Bou­rel: Self­con­fi­dence, Auto­no­my. — Quel­le: https://​high​li​ke​.org.

Die Meta­pher vom Thea­ter ist neben der von der Schiff­fahrt von para­dig­ma­ti­scher Bedeu­tung. Im Mit­tel­al­ter sah man die Welt als Büh­ne, mit nur einem ein­zi­gen Zuschau­er, Gott. — Das ist nur eine von vie­len Sta­tio­nen in der Psy­cho­ge­ne­se, die sich so beschrei­ben läßt, daß wir im Ver­lau­fe der Zeit vie­les ›ver­in­ner­li­chen‹.

Ganz all­mäh­lich ist der inne­re Kos­mos unse­rer Psy­che immer umfang­rei­cher gewor­den. Das wie­der­um führ­te dazu, daß wir auch in der Rol­len­über­nah­me inzwi­schen anders vor­ge­hen. — Rol­len wer­den immer weni­ger ›gespielt‹, son­dern von innen her ›ent­wickelt‹. Wir suchen und fin­den in der eige­nen Psy­che den per­sön­li­chen Zugang zu einer Figur, deren Rol­le über­nom­men wer­den soll.

In die­sem Sin­ne ist die Schau­spiel­theo­rie auch psy­cho­lo­gisch von gro­ßer Bedeu­tung, gera­de auch in Hin­sicht auf Iden­ti­täts­phi­lo­so­phie. Die Viel­falt in der eige­nen Psy­che wird nicht nur immer kom­ple­xer, son­dern auch wider­sprüch­li­cher. Dabei zeigt sich eine inter­es­san­te Ent­wick­lung, die das The­ma die­ses Semi­nars sein soll, die Mög­lich­keit, mit ›mul­ti­plen Iden­ti­tä­ten‹ umge­hen zu kön­nen. So hat der Schau­spiel­leh­rer Kon­stan­tin Ser­ge­je­witsch Sta­nis­law­ski einen neu­en Ansatz ent­wickelt, wie die Arbeit des Schau­spie­lers an sich selbst und im schöp­fe­ri­schen Pro­zeß des Erle­bens einer Figur, des Ver­kör­perns und der Arbeit an der Rol­le sehr viel inten­si­ver gestal­tet wer­den kann. — Eine Rol­le nur zu spie­len, das genügt kei­nes­wegs, das wäre schlech­tes Thea­ter. Es kommt dar­auf an, die Figur, die Rol­le, die Welt einer Hand­lung in sich zu suchen, zu fin­den und sich dann hineinzufühlen. 

Auch der US–Amerikanische Schau­spiel­leh­rer Lee Strasberg ent­wickel­te mit dem Method Acting einen neu­en, tie­fe­ren Zugang zur Schau­spiel­kunst, um die Natür­lich­keit und die Inten­si­tät der schau­spie­le­ri­schen Dar­stel­lung zu stei­gern. Mit Hil­fe eines von ihm ent­wickel­ten Instru­men­ta­ri­ums soll­ten Schau­spie­ler die Rol­le in sich selbst fin­den, her­aus­zu­brin­gen, um dann damit zu verschmelzen.

Jean–Léon Gérô­me: The Duel After the Mas­quer­a­de (1857f.). Es ist ein Clown,
ein Pirot, der nach der Vor­stel­lung duel­liert und töd­lich getrof­fen niedersinkt.
— Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Aber nicht nur für Schau­spiel und Schau­spiel­kunst ist das alles von Inter­es­se. Auch im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se und vor dem Hin­ter­grund, daß wir alle immer mehr Thea­ter spie­len und immer wei­ter aus­dif­fe­ren­zier­te Rol­len über­neh­men, wird die Fra­ge der Ein­füh­lung von immer grö­ße­rer Bedeu­tung. Wir leben in unru­hi­gen Zei­ten, was auch damit zusam­men­hängt, daß die Psy­cho­ge­ne­se wie­der einen Schritt wei­ter vor­an­ge­schrit­ten ist. Das ist der aktu­el­le Stand in die­ser Ent­wick­lung, daß wir nicht mehr Rol­len über­neh­men, son­dern ver­schie­de­ne Iden­ti­tä­ten, um die­se zunächst aus uns selbst her­aus zu ent­wickeln. — Damit kommt eine wei­te­re, sehr gro­ße Her­aus­for­de­rung in die Welt, es gilt, nicht mehr nur ›authen­tisch‹ zu sein, son­dern eben auch ›viel­fäl­tig‹ in der Varia­ti­on der Iden­ti­tä­ten, die ein­an­der wider­spre­chen kön­nen. Das ist offen­bar eine ganz neue Errun­gen­schaft, die aller­dings mit erheb­li­chen Irri­ta­tio­nen einhergeht.

Der Mensch in der Moder­ne ist ein Trä­ger vie­ler Mas­ken. Das ist eigent­lich eine ganz ent­schei­den­de, höchst aktu­el­le Errun­gen­schaft, die Fähig­keit, mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten ver­kör­pern zu kön­nen, die sogar mit­ein­an­der im Wider­streit ste­hen kön­nen. Aber die Sou­ve­rä­ni­tät, dann auch tat­säch­lich dar­über zu ver­fü­gen, hält sich der­zeit noch in Gren­zen. Um die neu­en Kom­pe­ten­zen an den Tag zu legen, fehlt noch immer der Mut, die Legi­ti­mi­tät des eige­nen Indi­vi­dua­lis­mus, der die eige­ne Auto­no­mie erst selbst ernst neh­men müß­te. Nur weni­gen gelingt es bereits. All­über­all schämt man sich des­sen, spricht von Wahr­heit, Empa­thie, Authen­ti­zi­tät, Auf­merk­sam­keit und vom wah­ren Selbst, als ob es das wirk­lich gäbe.

Das unum­gäng­li­che Mas­ken­spiel soll­ten wir tat­säch­lich ganz bewußt betrei­ben. Statt­des­sen wird jedoch immer so getan, als sei alles echt, als wüß­te man zwi­schen Echt­heit und Unecht­heit sehr wohl zu unter­schei­den. Dabei ist in der Tat vie­les Thea­ter oder man­ches nur ›Show‹, aber mit­un­ter erscheint es so, als käme es ohne­hin nur noch dar­auf an, daß die Show stimmt. — Dis­kur­se wie die über ›Empa­thie‹, ›Auf­merk­sam­keit‹ und ›Wahr­haf­tig­keit‹ lie­gen daher als kri­ti­sche Reak­tio­nen gera­de­zu auf der Hand. Aber auch das sind selbst wie­der nur Rol­len, eben sol­che, die Authen­ti­zi­tät dar­stel­len sol­len, um aber genau dar­in wie­der­um Rol­len­spiel zu betreiben.

Aller­dings spie­len wir alle Thea­ter, neh­men Rol­len wahr, ver­kör­pern sie, gehen aber nicht rest­los dar­in auf. Vor­zei­ten iden­ti­fi­zier­ten sich Men­schen noch mit ihrem ›Stand‹, mit ihrem ver­meint­li­chen gesell­schaft­li­chen ›Sein‹, und der Aus­druck indi­vi­du­el­ler Frei­hei­ten war als ›Spleen‹ nur weni­gen vor­be­hal­ten, ganz exklu­siv am lieb­sten den exzen­tri­schen Atti­tü­den alten Adels. 

Die Uni­ver­sa­li­sie­rung der Rol­len­über­nah­me ist dafür ver­ant­wort­lich, daß inzwi­schen fast nur noch insze­niert wird. Wo zuvor eine gera­de­zu skla­vi­sche Rol­len­be­set­zung statt­ge­fun­den hat, herrscht nun der unbe­ding­te Wil­le zur Mei­nung vor. Das Publi­kum insze­niert sich inzwi­schen selbst, so wie es Poli­tik und Medi­en seit Jahr­zehn­ten vor­ex­er­zie­ren. Daher wird die Kon­stel­la­ti­on immer unüber­sicht­li­cher, es gibt eigent­lich kein Publi­kum mehr, nur noch Akteu­re. — Ins­be­son­de­re das Sub­jek­ti­vie­ren, das Emo­tio­na­li­sie­ren und das Skan­da­li­sie­ren kon­kur­rie­ren­der Auf­fas­sun­gen, ein­fach nur, weil sie nicht dem eige­nen Stand­punkt zuzu­ord­nen sind, hat sich inzwi­schen flä­chen­deckend ausgebreitet.

Neu­zeit­li­che Thea­ter­maske für den Dar­stel­ler des Mephi­sto. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Man­che der Instan­zen unse­rer Psy­che las­sen sich wie poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen betrach­ten, zu denen nun­mehr eine neue hin­zu­kom­men wird, ein­fach weil sie hin­zu­kom­men muß: Das mul­ti­ple Selbst ist eine gro­ße Her­aus­for­de­rung, weil es nun dar­um geht, zwi­schen allen erdenk­li­chen Per­spek­ti­ven zu mode­rie­ren und zwar in dem Bewußt­sein, daß kei­ne die­ser Hin­sich­ten den Anspruch hegen darf, allein gül­tig zu sein. Es gilt, das eine zu tun ohne das ande­re zu las­sen. — Aller­dings kann es ein gro­ßes nicht nur rein intel­lek­tu­el­les Ver­gnü­gen berei­ten, Gefüh­le einer­seits authen­tisch zu erfah­ren, um zugleich ket­ze­risch das eige­ne Emp­fin­den iro­nisch zu spiegeln.

Zu jeder moder­nen Psy­che gehört es eben, nicht nur die vor­mals exter­nen Instan­zen der Ord­nung, der Dis­zi­plin und der Bestra­fung als Selbst­dis­zi­pli­nie­rung in sich hin­ein­ge­nom­men zu haben. Es gehört eben­so mit dazu, daß wir zugleich eine gan­ze Ket­zer­ver­samm­lung mit uns her­um­füh­ren, die nur auf eine Gele­gen­heit war­tet, alles, was hei­lig sein soll, vom Sockel zu sto­ßen. — Es kommt eben dar­auf an, selbst­be­wußt genug zu sein, alle die­se inne­ren Wider­sprü­che nicht zu kaschie­ren, son­dern im Gegen­teil, sie als Per­spek­ti­ven zu wür­di­gen, jede, wie es ihr zukommt.

Also: Wird eine Situa­ti­on als ›roman­tisch‹ emp­fun­den, weil sie bestimm­ten Bil­dern, Vor­stel­lun­gen und ein­schlä­gi­gen Nar­ra­ti­ven ent­spricht? — Sol­che Fra­gen haben das For­mat von Glau­bens­kon­flik­ten, wie sie Prie­ster seit je hat­ten, wenn sie vor ihrer Gemein­de auf­tre­ten muß­ten, aber nicht offen­bar wer­den las­sen durf­ten, daß sie viel­leicht selbst sich ihres Glau­bens gar nicht mehr so sicher waren. Lan­ge Zeit wur­de erwar­tet, daß sie nicht durch­blicken las­sen, wie es um den eige­nen Glau­ben steht, weil sie doch die ihnen anver­trau­ten Scha­fe in einen pani­schen Schrecken ver­set­zen könnten.

Hawen King: Pro­mo­tio­nal masks
for the DVD release of „V for Ven-
det­ta“ at HMV in Tokyo. To get a
mask you had to buy the DVD. 8.
Sept. 2006, V for Ven­det­ta. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Auto­no­mie ist der Anspruch und die Fähig­keit, sich selbst ein eige­nes Bild von der Welt und den Sachen zu machen, selbst wenn sie uns zutiefst berüh­ren und viel­leicht auch äng­sti­gen. Dabei ist es mög­lich, zugleich mit­ten drin zu sein und den­noch sich selbst und das gan­ze Trei­ben von außen zu betrach­ten. Tat­säch­lich ist erst das wah­res Glück, sich inmit­ten erfül­len­der Erleb­nis­ses zu fin­den, die viel­leicht tat­säch­lich muster­gül­tig sind, so wie es die Nar­ra­ti­ve vor­se­hen. — Glück bedeu­tet, sich selbst in sol­chen Situa­tio­nen als authen­tisch zu erfah­ren und zugleich selbst­iro­nisch den Über­schwang der eige­nen Gefüh­le zu spie­geln. Das erst wäre tat­säch­lich ein Aus­druck von Auto­no­mie, Sou­ve­rä­ni­tät und Selbst­be­wußt­sein. Ent­schei­dend wäre nur, ob die Erleb­nis­se tat­säch­lich von Bedeu­tung sind, oder ob es nur rein äußer­lich um Insze­nie­rung, nur um das ›Als–Ob‹ geht.

Es gilt, ein mul­ti­ples Selbst und Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät zu ent­wickeln. Denn wenn wir den bis­he­ri­gen Ver­lauf der Psy­cho­ge­ne­se in die Zukunft ver­län­gern, dann wer­den wei­te­re Inter­na­li­sie­run­gen fol­gen. Das wer­den vor allem auch sol­che sein, die Pro­ble­me berei­ten, weil sie immer mehr mit­ein­an­der im Hader lie­gen wie Prie­ster und Ket­zer, wie Scha­ma­nen und Wis­sen­schaft­ler, wie Natur– und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. — Es wird ganz gewiß nicht ein­fa­cher, son­dern kom­pli­zier­ter, wenn nun­mehr wei­te­re wider­sprüch­li­che Figu­ren und Nar­ra­ti­ve hin­zu­kom­men, so, wie wir inzwi­schen fast den gan­zen Göt­ter­him­mel in uns haben als Teil unse­rer Psyche.

Nicht nur die sozia­le Außen­welt, son­dern auch die psy­chi­schen Innen­wel­ten dif­fe­ren­zie­ren sich im Ver­lauf der Kul­tur­ge­schich­te immer wei­ter aus. Wenn die Welt, weni­ger die natür­li­che Umwelt, als viel­mehr die sozio­kul­tu­rel­le zwei­te Natur, immer kom­ple­xer wird, dann stei­gen die Anfor­de­run­gen, wirk­lich noch zu ver­ste­hen, was eigent­lich gespielt wird. — Es soll­te daher mög­lich sein, die inhä­ren­te Dia­lek­tik ver­schie­de­ner Per­spek­ti­ven mit allen ein­schlä­gi­gen Dif­fe­ren­zen ganz bewußt in Dienst zu neh­men, um sodann selbst den­ken und sich an die Stel­le eines jeden ande­ren ver­set­zen zu kön­nen, um schließ­lich im Bewußt­sein aller die­ser unter­schied­li­chen Stim­men aufzutreten.

Selt­sa­mer­wei­se erschei­nen gera­de die grie­chi­schen Göt­ter oft wie Dar­stel­ler ihrer selbst. Wenn sie ihre Mas­ken wie ein Visier hoch­ge­klappt haben, dann wir­ken sie wie Schau­spie­ler wäh­rend der Dreh­pau­se in einem der vie­len Stücke, in denen sie sich selbst ver­kör­pern. — Die Göt­ter der Anti­ke sind wie die Stars unse­rer Tage, die Ster­ne von damals sind die Stern­chen von heute.

Alle ihre Fähig­kei­ten, mit denen sie sich im Ver­lau­fe der Zeit ange­rei­chert haben, las­sen sich oft noch an den vie­len Bei­na­men erken­nen. Das sind Aspek­te ver­ein­nahm­ter Häupt­lings­tü­mer, es sind die inter­na­li­sier­ten Gei­ster der Clans, die längst auf­ge­gan­gen sind im grö­ße­ren Gan­zen die­ser Göt­ter­ge­stal­ten. — Göt­ter ver­fü­gen über mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten, daher fällt es ihnen so leicht, in frem­der Gestalt auf­zu­tre­ten, um sich doch selbst treu zu bleiben.

Die Göt­ter beherr­schen das Spiel mit den Mas­ken. Beson­ders Zeus wech­selt ein ums ande­re Mal für Lie­bes­aben­teu­er äußerst spek­ta­ku­lär die eige­ne Gestalt: Er nähert sich sei­ner spä­te­ren Gat­tin Hera als durch­näß­ter, zit­tern­der Kuckuck, als Stier der Euro­pa, als Schwan der Leda, als gol­de­ner Regen der Danaë und um den Hera­kles zu zeu­gen, ver­wan­delt er sich in Amphi­try­on, den Gat­ten der Alk­me­ne. — Ganz offen­bar besteht für ihn nicht der gering­ste Anlaß zur Sor­ge, daß die frem­de Gestalt auch voll­kom­men frem­de Erfah­run­gen beim Lie­bes­spiel mit sich brin­gen könnte.

Göt­ter wie Zeus beherr­schen ein­fach die­ses bedeu­ten­de Kunst­stück, sich auch in frem­der Gestalt noch immer selbst treu zu blei­ben. — Und das nun­mehr im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se anste­hen­de mul­ti­ple Selbst wird sei­ner­seits über die­se ent­schei­den­de gött­li­che Fähig­keit ver­fü­gen, sich anver­wan­deln zu kön­nen. Das ist eigent­lich der höch­sten Göt­ter Kunst, die Gestalt wech­seln zu kön­nen. Die Ein­wän­de dage­gen, da sei kei­ne Wahr­haf­tig­keit, son­dern nur Insze­nie­rung aber kei­ne Authen­ti­zi­tät, son­dern Vor­spie­ge­lung im Spie­le, kön­nen nicht ver­fan­gen, weil unter­stellt wird, was gar nicht der Fall kann: Wir haben nicht die eine ein­zig wah­re Natur, das inne­re, ein­zig ver­bind­li­che Selbst oder irgend­ei­ne ein für alle Mal fixier­te Iden­ti­tät in uns, die ehr­lich­keits­hal­ber nur zum Aus­druck gebracht wer­den muß, wäh­rend alles ande­re nur Lug und Trug sein würde.

Die Fra­ge nach der Wahr­haf­tig­keit eines Got­tes, der eine Meta­mor­pho­se voll­zo­gen hat, ist unan­ge­bracht, sowohl einem Scha­ma­nen wie auch einem Schau­spie­ler gegen­über. Es ist irrele­vant, ob der Clown hin­ter sei­ner Mas­ke weint und daß im Scha­ma­nen­ko­stüm oder in der Rol­le noch immer der­sel­be Mensch steckt, es kommt dar­auf an, was sich dar­auf ereig­net. — Auf die äußer­li­chen Fak­ten kommt es nicht an, ent­schei­dend ist viel­mehr das inne­re Erle­ben: Selbst­ver­ständ­lich ist der Dar­stel­ler, was er vor­gibt zu sein, eben­so wie auch der Scha­ma­ne den geru­fe­nen Geist mög­lichst authen­tisch verkörpert.

Paul Klee: Zwei Män­ner, ein­an­der in höhe­rer Stel­lung ver­mu­tend, begegnen
sich (1903). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Wir alle spie­len Thea­ter, was kei­nes­wegs bedeu­tet, daß es uns nicht mit der jewei­li­gen Rol­le ernst wäre. Mas­ken­spiel ist eine aus­ge­zeich­ne­te Meta­pher für das, was sich da eigent­lich ereig­net, es ist der Bruch mit der nai­ven Erwar­tung, daß wir immer die­sel­ben sind und es auch blei­ben. — Wer eine Mas­ke auf­setzt, über­nimmt eine Rol­le, wird somit zu jemand ande­rem, wech­selt also die Identität.

Im Zen­trum die­ser Erör­te­run­gen ste­hen die Hand­lungs­ur­sa­chen, die Moti­ve und die Ori­en­tie­rung in Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen. Dabei waren die Men­schen der vor­klas­si­schen Zeit, so die­se Theo­rie, offen­bar noch gänz­lich außen­ge­lei­tet. Erst all­mäh­lich beginnt dann die Inter­na­li­sie­rung, so daß wir inzwi­schen fast stets innen­ge­lei­te­te Hand­lungs­mo­ti­ve unter­stel­len dürfen.

Auf irgend­ei­ne Wei­se müs­sen also die vor­ma­li­gen Gei­ster, Göt­ter und Auto­ri­tä­ten oder viel­leicht auch Anti–Autoritäten, all­mäh­lich ins Inne­re, in die Innen­welt unse­rer Psy­che gelangt sein. — Denn: Wir tra­gen die Göt­ter in uns. Sie wur­den inter­na­li­siert, und die Inter­na­li­sie­rung der ehe­dem exter­nen Stim­men gelingt ganz offen­bar in einem Pro­zeß, der an Schi­zo­phre­nie den­ken läßt.