Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Psychosophie

Warum der Teufel den Schnaps gemacht hat

Ein Kritiker vor dem Herrn

Nur in bestimm­ten Reli­gio­nen ist der Teu­fel nicht wohl gelit­ten, son­dern gefürch­tet und sogar ver­haßt. Das sagt mehr über den schlech­ten Cha­rak­ter man­cher Reli­gio­nen, als über den Teu­fel selbst aus. Natür­lich muß auch er ein Geschöpf Got­tes sein, wenn nun mal alles aus einer Hand stam­men soll.

Wenn es nur einen ein­zi­gen, noch dazu wah­ren, all­ge­gen­wär­ti­gen, all­wis­sen­den und güti­gen Gott geben soll, dann darf es kei­nen zwei­ten und schon gar kei­nen Gegen–Gott geben. War­um? — Eher aus Grün­den der Kon­kur­renz, die Prie­ster nicht mögen. Sie möch­ten viel­mehr das Mono­pol für alles Göttliche.

Mit dem soge­nann­ten Bösen geht nicht nur in Hollywood–Streifen immer eine Her­aus­for­de­rung ein­her, so daß sich das soge­nann­te Gute bewäh­ren muß.

An sei­ner Auf­ga­be, die er sich selbst gege­ben hat, läßt sich der Teu­fel am ehe­sten ver­ste­hen: Er ist der Ver­su­cher , das ist sei­ne Sache. — Mephi­sto­phe­les stellt sich in Goe­thes Faust vor als:

Franz von Stuck: Luzi­fer (1890). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
(…)
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrun­de geht;
Drum bes­ser wär’s, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zer­stö­rung, kurz das Böse nennt,
Mein eigent­li­ches Element.
(…)
Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
Ein Teil der Fin­ster­nis, die sich das Licht gebar, …

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Faust. Eine Tra­gö­die. In: Wer­ke; Bd. 3. S. 47.)

Ein Geschöpf Got­tes soll er sein, sogar einer der Mäch­tig­sten, wenn nicht der Mäch­tig­ste über­haupt, dann aber sei er abtrün­nig gewor­den. — Das soll so gekom­men sein: Als der mit sich selbst jeden Schöp­fungs­tag immer zufrie­de­ner wer­den­de Schöp­fer sei­nen Engeln end­lich die fer­ti­ge Schöp­fung und dann auch deren ver­meint­li­che Kro­ne vor­stell­te, soll er von den Geist­we­sen ver­langt haben, vor dem Men­schen niederzuknien.

Das haben auch fast alle folg­sam getan, nur einer nicht. Luzi­fer, einer vom Schla­ge der Erz­engel mit dem Flam­men­schwert soll die­se Hul­di­gung eben­so selbst­be­wußt wie kon­se­quent ver­wei­gert haben. — Und jetzt kommt, was nur Phi­lo­so­phen sich getrau­en: Der Sache nach­ge­hen, die mög­li­chen Grün­de prü­fen, um dann zu dem ket­ze­ri­schen Ergeb­nis zu kom­men: Recht hat er, der Luzifer!

Es gehört stets gewis­ser Mut dazu, aus­zu­sche­ren und aus der Rei­he zu tan­zen, und das brin­gen nur weni­ge fer­tig. Wenn man sich in die so fei­er­li­che Situa­ti­on hin­ein­ver­setzt: Da ist der Schöp­fer die­ser Welt über alle Maßen stolz auf sich und sein Werk, dann kommt die­ser Kri­ti­ker daher. Die aller­er­ste Lek­ti­on erteilt Luzi­fer dem Schöp­fer­gott. — Das Sel­ber­den­ken macht ihn phi­lo­so­phisch höchst inter­es­sant, so wird er zum Kri­ti­ker aller Kritiker.

Uner­müd­lich wie Sisy­phos ver­sucht der Teu­fel seit­her, mög­lichst kon­kret nach­zu­wei­sen, daß der Mensch es nicht ver­dient, daß Engel sich tat­säch­lich vor ihm ver­nei­gen. — Da wir uns den Sisy­phos auf­grund einer Bemer­kung von Albert Camus als einen glück­li­chen Men­schen vor­stel­len soll­ten, dürf­te es sich auch bei Luzi­fer um einen glück­li­chen Engel han­deln, weil er sich sei­ne Auf­ga­be selbst gege­ben hat.

Im jüdi­schen Glau­ben wer­den Engel sehr viel dif­fe­ren­zier­ter vor­ge­stellt. Das fin­det sich auch bei Rai­ner Maria Ril­ke in sei­nen Dui­ne­ser Ele­gi­en. — Dort sind sie nicht ein­fach nur lamm­fromm, viel­mehr mysti­sche Wesen. Sie sind schön und schreck­lich zugleich, und sie ste­hen dort, wo gro­ße Geheim­nis­se zu erwar­ten sind. Der Anfang der ersten Ele­gie hat etwas von dem, was hier dar­ge­stellt wer­den soll:

Wer, wenn ich
schriee, hör­te mich denn aus der Engel
Ord­nun­gen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich
ans Herz: ich ver­gin­ge von seinem
stär­ke­ren
Dasein. Denn das Schö­ne ist nichts
als des Schrecklichen
Anfang, den wir noch gra­de ertragen,
und wir bewundern
es so, weil es gelas­sen verschmäht,
uns zu zer­stö­ren. Ein jeder Engel ist schrecklich.

(Rai­ner Maria Ril­ke: Dui­ne­ser Ele­gi­en. In: Sämtl. Wer­ke; Bd. 1. S. 685.)

Der Mensch ist zwi­schen Tier und Engel gestellt und ist nicht sicher zu Hau­se bei sich, wie Ril­ke sagt. — Das ist dann wohl auch der eigent­li­che Grund, war­um Luzi­fer in sei­ner Eigen­schaft als Licht­brin­ger und als der Ober­ste aller Teu­fel gewis­se Ent­wick­lungs­dien­ste lei­stet. Der Teu­fel ist also ein Selbst­den­ker, mehr noch, er ist ein Schöp­fungs­kri­ti­ker und dabei nicht unbe­dingt ein Feind des Men­schen, son­dern eher einer, der sich vom soge­nann­ten all­zu Mensch­li­chen eben­so­we­nig abhal­ten läßt in sei­nem Urteil, wie der ägyp­ti­sche Schrei­ber­gott Thot beim Jüng­sten Gericht. Auf der See­len­waa­ge wird das Gewicht einer Feder, in der einen Scha­le, gegen die mit Erden­schwe­re bela­ste­te See­le, in der ande­ren Scha­le, abge­wo­gen. Der­weil wirkt die Waa­ge wie ein Lügen­de­tek­tor, der auf jede Unwahr­heit reagiert. Für den Fall ist die See­le ver­lo­ren, sie wird ver­sto­ßen und dem hunds­köp­fi­gen Anu­bis zum Fraß zugeworfen.

Rechts: Der ibis­köp­fi­ge Thot als Schrei­ber beim ›Wie­gen des Her­zens‹, hin­ter Anu­bis (1300 BC). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Es ist in der Tat befremd­lich, des­öf­te­ren dabei zu sein, wenn Zeit­ge­nos­sen sich selbst und ande­ren eini­ges vor­ma­chen wol­len, was ein­fach nicht stimmt. Das ist schon eine wun­der­sa­me Art der Urteils­bil­dung, sich auf den eige­nen Leim zu krie­chen. — Es braucht nicht viel an gei­sti­ger Durch­drin­gungs­kraft und empa­thi­scher Beob­ach­tungs­ga­be, um zu sehen, daß man­che sich selbst und ande­ren gewis­sen­los etwas vor­ma­chen wollen.

Wir haben aller­dings auch ein Gespür für Unstim­mig­kei­ten: Zumeist war­ten Spra­che und Gram­ma­tik mit Selt­sam­kei­ten auf, wobei man sehen kann, was alles zuein­an­der pas­sen muß, wenn etwas wirk­lich stimmt. — Wahr­heit ist weit mehr als eine Fra­ge der Logik, son­dern ein gan­zes Ensem­ble unter­schied­lich­ster Aspek­te, die nicht nur in der Aus­sa­ge, son­dern in ihrer gan­zen Dar­bie­tung har­mo­nisch abge­stimmt sein müs­sen. Es zeigt sich, was alles im Klei­nen und auch im Gro­ßen zusam­men­stim­men und im Ein­klang mit­ein­an­der sein muß.

Wenn eine See­le bela­stet ist durch die Erden­schwe­re sol­cher Selbst­be­trü­ge­rei­en, dann wird sie gewiß kei­nen Frei­spruch erhal­ten. Es wür­de ohne­hin nicht funk­tio­nie­ren, sich im Leben zu bela­sten, um dann nach dem Tode ent­la­stet zu sein. — Da wirkt das Manö­ver der Christ­li­chen Kir­chen, daß die Schuld wie eine Lokal­run­de schon für alle Zei­ten im Vor­aus abge­tra­gen sei, kaum bes­ser als eine durch­sich­ti­ge Abofalle.

Erlö­sen müs­sen wir uns schon selbst. Luzi­fer ist dabei einer der besten Rat­ge­ber, denn wenn etwas zu schwer ist, dann kann es auch nicht schwe­ben. Dabei wür­den wir so gern engels­gleich abheben.

Bei Pla­ton gibt es dazu einen phan­ta­sti­schen Mythos vom gemein­sa­men Zug mit den Göt­tern über das nächt­li­che Fir­ma­ment bis zum Reich der Ideen am Ran­de der Welt.

Die Göt­ter haben aller­dings ein Gespann mit zwei sehr guten Pfer­den. — Beim See­len­wa­gen der Men­schen ist jedoch nur eines der Pfer­de wirk­lich taug­lich für den Auf­stieg ins Reich der Ideen.

Der Ver­su­cher ist ein begna­de­ter Prü­fer und wir tun gut dar­an, ihm zu ver­trau­en, denn wo er sich nicht bereit fin­den kann für sei­ne Zustim­mung, da haben wir sie auch noch nicht ver­dient. — Man soll­te daher eher auf die Hil­fe­stel­lung ach­ten, die Luzi­fer als Ver­su­cher zu lei­sten imstan­de ist.

Bei Goe­the ist Mephi­sto ein Iro­ni­ker und manch­mal zynisch, aus guten Grün­den. Aber sei­ne Iro­nie hat Empa­thie und sein Intel­lekt ist mes­ser­scharf, man kann ihm nicht mit dum­men Aus­re­den kom­men, denn er kennt sie alle.

Das Teuflische am Alkohol

Da sich der Teu­fel aber nicht stän­dig um alle höchst­per­sön­lich küm­mern will, hat er den Schnaps gemacht. Daher ist es so wesent­lich, das Teuf­li­sche am Alko­hol zu ver­ste­hen, um dar­über sich selbst zu verstehen.

Udo Jür­gens irrt, wenn er meint, der Teu­fel habe den Schnaps gemacht, um uns zu ver­der­ben. Das ist zu kurz gegrif­fen.— Wie bereits dar­ge­stellt, geht es ihm dar­um, uns zu prü­fen, ob wir es ver­dient haben, sei­ne Ach­tung zu erhal­ten und eine Flug­li­zenz ins Transzendentale.

Der Song­text von Udo Jür­gens, hat aller­dings eine bemer­kens­wer­te Poin­te. Da sitzt ein Anti­held in sei­ner Stamm­knei­pe. Ein Mäd­chen von der Heils­ar­mee ver­sucht ihn engels­gleich zu ret­ten, indem sie dem Trin­ker ins Gewis­sen redet, was natür­lich mit­nich­ten ver­fängt. — Bekannt­lich kön­nen alle, immer und zu jeder Zeit auf­hö­ren, nur momen­tan gera­de nicht, und dar­auf trin­ken wir erst mal noch einen.

Dann aber kommt die wirk­lich luzi­fe­ri­sche Poin­te: Er bringt das Mäd­chen nach Hau­se und sie nimmt ihn mit zu sich auf ihr Zim­mer. — Aber dort macht der ver­hin­der­te Held eine teuf­li­sche Selbsterfahrung:

Sie lud mich in ihr Zim­mer ein
Und dort erfuhr ich dann
Wer zuviel trinkt
Ist lei­der oft
Nur noch ein hal­ber Mann.

(Udo Jür­gens: Der Teu­fel hat den Schnaps gemacht (1973).

Unver­geß­lich ist auch Wil­helm Busch:

Es ist ein Brauch von alters her,
wer Sor­gen hat, hat auch Likör!

(Wil­helm Busch: Die From­me Hele­ne. In: Gesam­mel­te Wer­ke. Bd. 2, S. 282.)

Der Spruch bringt es zuver­läs­sig auf den Punkt. Man ach­te wie­der auf den Kon­text: Wäre sie nicht ganz so fromm, die Hele­ne, dann hät­te sie nicht ganz so vie­le Sor­gen und bräuch­te auch nicht so viel Likör. — Wer der alko­ho­li­schen Ver­su­chung nicht wider­ste­hen kann, trö­stet sich also über etwas ganz Ande­res hinweg.

Der Alko­hol ist wie ein Eis­berg, bei dem auch vier von fünf Tei­len unter der Ober­flä­che lie­gen. Aber weder Luzi­fer, noch der Alko­hol ist das Pro­blem, son­dern der ver­meint­li­che Trost, den er spen­det, durch Betäu­bung see­li­scher Schmer­zen. — Aber die Lin­de­run­gen hal­ten nicht vor, denn es wer­den nur die Sym­pto­me bekämpft. Dann kom­men die Schmer­zen wie­der, um erneut im Alko­hol ertränkt zu wer­den. Alles schreit förm­lich danach.


Die Schönheit der Seele

Psyche und Seele

Das Sym­po­si­on ist schon weit fort­ge­schrit­ten, als sich uner­war­tet ein illu­strer Gast ein­stellt. Alki­bia­des, reich­lich berauscht und gestützt auf zwei Flö­ten­spie­le­rin­nen, begehrt Ein­laß, was ihm selbst­re­dend gewährt wird. — Und wie es in sol­chen Situa­tio­nen häu­fig so ist, läßt er sich kurz erläu­tern, daß man sich nicht zum Zechen, son­dern zu einem wei­te­ren Dich­ter­wett­streit zusam­men­ge­fun­den haben. Es gel­te, ein Lob­lied auf den Gott der Lie­be, auf Eros aufzuführen.

Anselm Feu­er­bach: Das Gast­mahl. Nach Pla­ton (zwei­te Fas­sung: 1871). — Im Mit­tel­punkt steht der Gast­ge­ber Aga­thon, geschmückt mit dem Lor­beer­kranz, weil er den Dich­ter­wett­streit gewon­nen hat. In der rech­te Bild­hälf­te, mit dem Gesicht vom Gesche­hen abge­wandt, voll­kom­men in sich ver­sun­ken, sieht man auch Sokra­tes. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Wer so spek­ta­ku­lär auf­tritt, steht ohne­hin im Mit­tel­punkt. Also legt der spä­ter nicht unum­strit­te­ne Macht­po­li­ti­ker einst­wei­len los mit sei­nem Lob­ge­sang auf den Gott der Lie­be. Er läßt sich nie­der und erzählt von einer unge­heu­ren Lie­be, der er ver­fal­len sei, die ihm aber uner­füllt blieb. Dabei sei die Ver­füh­rung bestens vor­be­rei­tet wor­den. Er habe die Die­ner weg­ge­schickt, die Bett­decken bis auf eine redu­ziert, so daß man ein­an­der zwangs­läu­fig habe näher­kom­men müs­sen, und den­noch habe er kein Glück damit gehabt. — Dabei sei doch die Per­son, um die es ging, rein äußer­lich nicht nur nicht schön, son­dern eigent­lich häß­lich, wäre da nicht die­se Schön­heit der See­le, die von innen her kommt.

Pla­ton ist ein Schalk, wenn er dem über­schweng­li­chen Alki­bia­des erst in die­sem Augen­blick erlaubt, sich der ande­ren Sei­te hin­zu­wen­den, um dann unmit­tel­bar neben sich jenen zu erblicken, um den es ihm in allen sei­nen Lie­bes­be­kun­dun­gen die ganz Zeit geht: Sokra­tes. Die­ser hat­te zuvor sei­ne Lob­re­de auf den Gott der Lie­be gehal­ten, aber durch die Wie­der­ga­be eines weg­wei­sen­den Dia­logs über die Lie­be, mit einer Leh­re­rin namens Diot­ima. — Die­se prä­gen­de Unter­wei­sung hat er in jun­gen Jah­ren erfah­ren. Die wei­se Frau aus Man­ti­neia in Arka­di­en muß
ihn sehr beein­druckt haben.

Josef Simm­ler: Diot­ima. Por­trät der Jad­wi­ga Luszc­zews­ka (1855). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Erneut geht es, wie bereits im Höh­len­gleich­nis oder beim See­len­ge­spann um einen Auf­stieg, nun­mehr aber in der Liebe.—Diotima emp­fiehlt eine Ori­en­tie­rung am Begeh­ren des Schö­nen, wobei nicht typi­scher­wei­se die Ero­tik schlecht gere­det und dann aus­ge­grenzt wird. Viel­mehr wird zuge­stan­den, daß die­se Form der Lie­be zum Schö­nen den Anfang macht.

Inso­fern ist die Rede von ›pla­to­ni­scher Lie­be‹ als einer ohne Begeh­ren phi­lo­so­phisch nicht berech­tigt, weil aus­drück­lich jede Form der Lie­be zuge­las­sen wird. — Sie sei ein ›hei­li­ger Wahn‹, der von sich aus über sich selbst hin­aus in tran­szen­den­te Höhe füh­ren wer­de, wenn sich dem nichts ent­ge­gen­ge­stellt. Den Anfang macht das ero­ti­sche Begeh­ren und die Fixie­rung auf äuße­re und indi­vi­du­el­le Schön­heit, dann aber erwei­tert sich die­se Lie­be zur Schön­heit und wan­delt sich zur Freu­de an der Schön­heit der Lie­be. All­mäh­lich wird man mehr die inne­re und uni­ver­sel­le Schön­heit schät­zen ler­nen, was sich schließ­lich auf den gan­zen Kos­mos erwei­tern kann.

Damit hat die Schön­heit einen bedeu­ten­den Rang erhal­ten, der kaum mehr über­trof­fen wer­den kann. Und tat­säch­lich gibt es eini­ge Hin­wei­se, die Anlaß geben kön­nen, dar­über zu spe­ku­lie­ren, ob womög­lich die­se ›inne­re‹ Schön­heit nicht tat­säch­lich dem Abso­lu­ten noch am aller­näch­sten kom­men kann.

Auch über die Ver­nunft läßt sich glei­cher­ma­ßen spe­ku­lie­ren, daß sie, wenn sie damit betraut ist, ein Gan­zes als sol­ches vor Augen zu füh­ren, sich dabei stets auf die Per­spek­ti­ven der Ästhe­tik und der ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu stüt­zen ver­steht. Das Inter­es­san­te dar­an liegt dar­in, daß beim Emp­fin­den von Schön­heit nur noch plä­diert aber nicht mehr argu­men­tiert und schon gar nicht mehr bewie­sen wer­den kann.—Das wie­der­um hat Han­nah Are­ndt zu einem bemer­kens­wer­ten Expe­ri­men­tie­ren moti­viert, eine Poli­ti­sche Theo­rie auf der Grund­la­ge der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu entwickeln.

Kri­sti­an Zahrt­mann: Sokra­tes und Alki­bia­des (1911). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Damit ist ein tie­fes Geheim­nis ange­spro­chen, es geht dar­um, daß wah­re Schön­heit von innen her­kommt, von der Schön­heit der See­le. — Und wie sich den begehr­lich Vor­wür­fen des Alki­bia­des dem Sokra­tes ent­neh­men läßt, ist der Poli­ti­ker in sei­nen Besitz­an­sprü­chen und sei­nen Eifer­süch­te­lei­en eben weit weni­ger an wah­rer Lie­be inter­es­siert, son­dern viel­mehr an sei­ner eige­nen Eitel­keit. Er wird damit zu einem muster­gül­ti­gen Bei­spiel, wie man es bes­ser nicht hal­ten soll­te, mit der Liebe.

Hier läßt sich der Faden auf­neh­men, um zu unter­su­chen und zu ver­ste­hen, wie denn der Zusam­men­hang zwi­schen See­le und Psy­che beschaf­fen sein mag. Vor allem inter­es­siert eines: Die zuneh­men­den Depres­sio­nen mögen auch als Hin­weis genom­men wer­den, daß wir uns viel zu sehr mit der Psy­che, aber viel zu wenig mit der See­le befassen.

Es ist an der Zeit, man­che Begrif­fe end­lich auch all­ge­mein­sprach­lich wie­der in Gebrauch zu neh­men, die allen­falls noch von Theo­lo­gen bemüht wer­den, die daher in die­sen Sachen über das bes­se­re Arti­ku­la­ti­ons­ver­mö­gen ver­fü­gen. — Wir soll­ten nicht mehr nur vom Kör­per , son­dern auch vom Leib spre­chen, was nicht das­sel­be ist. Wir soll­ten nicht mehr nur von der Psy­che, son­dern auch von der See­le reden. Wir soll­ten nicht mehr nur von Ratio­na­li­tät, son­dern auch von Ver­nunft spre­chen. Und wir soll­ten nicht mehr nur Ratio­na­li­tät, Ver­stand und Ver­nunft bemü­hen, son­dern auch, was nicht leicht faß­bar ist, den Geist.

Psyche und Seele

Nur bei ober­fläch­li­cher Betrach­tung schei­nen Psy­che und See­le das­sel­be zu mei­nen. Wäh­rend die See­le häu­fig in reli­giö­sen, medi­ta­ti­ven und eso­te­ri­schen Kon­tex­te the­ma­ti­siert wird, erscheint die Psy­che inzwi­schen eher wie ein Part of the game mit all­täg­li­chen Belan­gen. — Und mögen wir noch so ver­hei­ßungs­voll von unse­rem ver­meint­li­chen Inne­ren spre­chen, die Psy­che ist nicht sel­ten auch nur ein Spiel mit der Alltagsmaske.

Es scheint, als habe die Psy­che viel weni­ger von jener Tie­fe, wie sie der See­le zuge­spro­chen wird. Die Psy­che ist offen­bar sehr viel jün­ge­ren Datums und damit auch ein Spie­gel nar­ziß­ti­scher, selbst­be­züg­li­cher und mate­ria­li­sti­scher Belan­ge, von denen sich vie­le ver­spre­chen, gro­ße Sehn­süch­te zu stil­len. Es sin Illu­sio­nen, die durch Kon­su­mis­mus nicht bewäl­tigt wer­den können.

Vor­der­grün­dig wirkt die Psy­che als beson­de­rer Teil unse­rer See­le, den wir uns über uns selbst bewußt machen möch­ten. — Das Gere­de von der ›Suche nach dem wah­ren Selbst‹ kann die Sehn­sucht nicht stil­len, denn die Psy­che ist selbst ein Teil des Thea­ters, das wir uns und ande­ren vor­spie­len. Ist die Thea­ter­maske erst ein­mal mit dem eige­nen Gesicht und den übli­chen Ober­fläch­lich­kei­ten fest ver­wach­sen, dann kann auch kein Aus­druck von Tie­fe mehr auf­kom­men, denn damit gehen auch Empa­thie und Authen­ti­zi­tät verloren.

Der Geist der Narrative

Zugang zu den Tie­fen in uns hat nur der Geist, der in den Nar­ra­ti­ven wohnt. Es kommt dar­auf an, mit Fein­ge­fühl die eige­ne Geschich­te in tief­grün­di­gen Dia­lo­gen ganz all­mäh­lich bewußt wer­den zu las­sen. — Um Freund­schaft mit sich selbst zu schlie­ßen, soll­te man sich einst­wei­len näher ken­nen­ler­nen. Dann kann man mit­hil­fe der Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie noch eini­ge wesent­li­che Schrit­te dar­über hin­aus gehen.


Schuld: Eine mächtige Kategorie

Johann Hein­rich Füss­li: Lady Mac­beth, schlaf­wan­delnd, (um 1783). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Gewissensbisse, die zum Wahnsinn führen

Der Dich­ter und Maler Johann Hein­rich Füss­li war der­art fas­zi­niert von den Wer­ken des Wil­liam Shake­speare, so daß er sich schon in jun­gen Jah­ren an Über­set­zun­gen ver­such­te. — Als Maler schuf er einen gan­zen Bilder–Zyklus mit berühm­ten Sze­nen, in denen die phan­ta­sti­sche Stim­mung ein­ge­fan­gen ist.

So insze­nier­te er auch die dra­ma­ti­sche Sze­ne: Lady Mac­beth V,1 von Wil­liam Shake­speare. Die tra­gi­sche Hel­din wird von Alp­träu­men geplagt und fin­det ein­fach kei­ne Ruhe mehr. Sie träumt mit offe­nen Augen und beginnt zu schlaf­wan­deln. — Und es scheint, als woll­te sie sämt­li­che Pla­ge­gei­ster ver­trei­ben, die Zeu­gen ihrer Unta­ten, von denen sie ver­folgt und um den Schlaf gebracht wird.

Die Sze­ne­rie führt das schlech­te Gewis­sen der Lady Mac­beth vor Augen. — Ihr Mann war zunächst dem König treu­er­ge­ben. Aber drei Hexen pro­phe­zei­en ihm, selbst zum König zu wer­den. Um dem ver­hei­ße­nen Schick­sal nun auf­zu­hel­fen, schrecken Mac­beth und sei­ne Lady selbst vor einem heim­tücki­schen Königs­mord nicht zurück.

Bei­de sind von blin­dem Ehr­geiz getrie­ben und ver­lie­ren im Ver­lauf der Ereig­nis­se auf­grund ihrer Ver­bre­chen zuerst ihre Mensch­lich­keit, dann ihr Glück und schließ­lich auch noch den Ver­stand, von ihrem See­len­heil ganz zu schwei­gen. — Dabei wirkt die Frau skru­pel­lo­ser als der Mann. Ähn­lich wie auch die Medea, setzt eine sehr viel ent­schie­de­ne­re Frau wirk­lich alles aufs Spiel, wäh­rend der Mann eher zag­haft erscheint. Dahin­ter dürf­te die Pro­ble­ma­tik ste­hen, daß Frau­en lan­ge Zeit nicht direkt auf­stei­gen konn­ten, nur über ihre Rol­le als Ehe­frau und Mutter.

Es kommt im fünf­ten Akt zu der im Bild von Füss­li dar­ge­stell­ten Sze­ne. Wäh­rend sich Mac­beth auf Burg Dun­si­na­ne mehr und mehr zum ver­bit­ter­ten, unglück­li­chen Tyran­nen wan­delt, wird Lady Mac­beth immer hef­ti­ger von Gewis­sens­bis­sen geplagt, denn die Schuld am Mord von King Dun­can ist unge­sühnt. — Alp­träu­me kom­men auf, sie beginnt im Schlaf zu wan­deln und die Phan­ta­sie nimmt Über­hand, bis sie schließ­lich den Ver­stand ver­liert und sich das Leben nimmt.

Das Gefühl, sich womög­lich gleich am gan­zen Kos­mos ver­sün­digt zu haben, durch eine Fre­vel­tat, dürf­te sehr früh auf­ge­kom­men sein. Es gibt vie­le Bei­spie­le dafür, daß durch ein Sakri­leg eine ›hei­li­ge Ord­nung‹ gestört wird, was nicht so blei­ben kann. — Bei­spie­le sind Sisy­phos, ein Trick­ster, der nicht ster­ben will und den Tod immer wie­der hin­ters Licht führt, oder Ixi­on, der erst­mals einen Mord an einem Ver­wand­ten beging.

Es gibt eine Klas­se von Mythen, die sich als Urzeit­my­then klas­si­fi­zie­ren las­sen. Väter ver­schlin­gen ihre Kin­der, die Welt bleibt im Cha­os, sie gewinnt gar kei­ne Gestalt. Tita­nen herr­schen, wobei der Ein­druck ent­steht, als wären sie die Ver­kör­pe­rung jener Gei­ster, mit denen die Scha­ma­nen der Vor­zeit noch umge­hen konn­ten. — Die klas­si­schen Mythen sind inso­fern auch ein Spie­gel der Zivi­li­sa­ti­on, weil sie die angeb­lich bar­ba­ri­schen Zei­ten zuvor als abso­lut bru­tal in Sze­ne setzen.

Erynnien, Furien, Rachegötter und Plagegeister

Fran­cis­co de Goya: Saturn ver­schlingt sei­nen Sohn (1820f). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Das sind auch Ammen­mär­chen der Zivi­li­sa­ti­on, die Rede ist dann von fin­ste­ren Zei­ten. Zugleich set­zen sich Mythen damit als Auf­klä­rung in Sze­ne, schließ­lich kün­den sie von der Über­win­dung die­ser Schreck­lich­kei­ten. Nicht nur der tech­ni­sche, zivi­li­sa­to­ri­sche Fort­schritt spielt bei alle­dem eine beträcht­li­che Rol­le, son­dern auch die Psy­cho­ge­ne­se. — Ver­mut­lich kommt Indi­vi­dua­lis­mus erst all­mäh­lich auf, eben­so wie das Bedürf­nis, sich selbst zu beobachten.

Die klas­si­schen Mythen insze­nie­ren nicht nur das Sakri­leg, sie errich­ten zugleich auch die Tabus dage­gen, indem man die Ereig­nis­se in eine viel frü­he­re Urzeit abschiebt und zugleich demon­striert, wie ent­setz­lich die Fol­gen mög­li­cher Tabu­brü­che tat­säch­lich sind.

Wenn etwas Unge­heu­er­li­ches gesche­hen ist, dann tre­ten bald schon Unge­heu­er auf den Plan. Als wür­de die Welt selbst dar­um rin­gen, in den Zustand der ›vor­ma­li­gen Har­mo­nie‹ wie­der zurück­zu­keh­ren. — Aber irgend­wie muß das Ver­ge­hen gesühnt wer­den. Es muß erst wie­der aus der Welt geschafft wer­den durch Buße, weil erst dann die ›hei­li­ge Ord­nung‹ wie­der her­ge­stellt wer­den kann.

Zugleich sind die Göt­ter selbst im Pro­zeß der Theo­ge­ne­se. Eine Göt­ter­dy­na­stie folgt auf die näch­ste. — Inter­es­sant sind die Reflek­tio­nen dar­über. So hat Kro­nos durch fort­ge­setz­te Kinds­tö­tung der Gaia vor­ent­hal­ten, was Müt­ter wol­len, die Kin­der auf­wach­sen sehen.

Der Mythos schil­dert in die­ser Vor­stu­fe einen Zustand, in dem nicht wirk­lich Ent­wick­lung statt­ha­ben konn­te. — Erst in der Ära von Zeus wird die Welt auf die Mensch­heit zen­triert. Dann tre­ten die glück­li­chen Göt­ter Athens sogar frei­wil­lig zurück, um im Zuge des Prometheus–Projektes der Mensch­heit die Welt zu überlassen.

Die Entstehung des Gewissens

Fran­çois Chiff­lart: Das Gewis­sen. 1877, Mai­sons de Vic­tor Hugo, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Es ist ver­mut­lich der aus Ägyp­ten durch den Tem­pel­prie­ster Moses beim Aus­zug der Juden mit auf den Exodus genom­me­ne mono­the­isti­sche Gott, der bereits bei den Ägyp­tern mit einem all­se­hen­den Auge sym­bo­li­siert wur­de. Auch die Idee vom Jen­seits­ge­richt stammt aus Ägyp­ten, was zur bemer­kens­wer­ten Tra­di­ti­on der Ägyp­ti­schen Toten­bü­cher geführt hat, das Leben als Vor­be­rei­tung auf den Tod zu betrachten.

Mit der Bedro­hung durch das Jüng­ste Gericht des Lebens kommt eine Psy­cho­ge­ne­se in Gang, die eine syste­ma­ti­sche Selbst­be­ob­ach­tung erfor­der­lich macht. — Wenn ein all­ge­gen­wär­ti­ger und all­wis­sen­der Gott ohne­hin alles ›sieht‹, so daß man ihm nichts ver­ber­gen kann, dann scheint es ange­ra­ten zu sein, sich ein Gewis­sen zuzu­le­gen, um sich genau zu beob­ach­ten und ggf. zu kontrollieren.

Dem­entspre­chend ist Kain auf der Flucht vor dem ›all­se­hen­den Auge‹, weil er ›ver­ges­sen‹ hat, sich bei­zei­ten ein Gewis­sen zu ›machen‹. — Das ist aber nur eine, noch dazu weni­ger anspruchs­vol­le Deu­tung des ver­meint­li­chen Bru­der­mords. Aus Grün­den der Eth­no­lo­gie kön­nen Acker­bau­ern und Hir­ten kei­ne ›Brü­der‹ sein. Offen­bar hat sich der hier ver­ehr­te Gott, der das Opfer des Bau­ern ›ablehnt‹, noch nicht damit arran­giert, daß die Tier­op­fer sel­te­ner und die Opfer von Getrei­de und Früch­ten zuneh­men werden.

Kain auf der Flucht

Erst mit der Urba­ni­sie­rung erhält der Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on sei­ne ent­schei­den­de Dyna­mik. Der alles ent­schei­den­de Impuls geht mit die­ser Got­tes­idee ein­her, mit der ganz all­mäh­lich auf­kom­men­den Vor­stel­lung eines Got­tes, der alles ›sieht‹. — Dem­entspre­chend illu­striert Fer­nand Cor­mon die Flucht des Kain unmit­tel­bar nach der Tat. Das Werk ist durch Vic­tor Hugo inspi­riert und schil­dert die Sze­ne auf gro­tes­ke Weise.

Der Plot selbst ist zutiefst para­dox: Kain ist Bau­er. Er lebt von den Früch­ten der Erde, fürch­tet sich jedoch schreck­lich vor dem neu­en tran­szen­den­ten Gott, der im Him­mel über den Wol­ken schwebt und der alles ›sieht‹. — Er ver­liert im Opfer­wett­streit, erschlägt sei­nen Kon­tra­hen­ten, ist aber von die­sem mis­sio­na­ri­schen Hir­ten offen­bar längst bekehrt wor­den, denn er fürch­tet sich fort­an wie wahn­sin­nig vor die­sem Gott. Dar­auf beginnt er eine hals­bre­che­ri­sche Flucht, um sich dem all­se­hen­den, all­wis­sen­den, all­ge­gen­wär­ti­gen Auge die­ses Got­tes doch noch zu entziehen.

Fer­nand Cor­mon: Kain. 1880, Musèe d’Orsay, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.


Wenn Worte sich enthalten

Erlösung gibt es nur durch Sprache, aber was, wenn die Worte fehlen?

Wenn Wor­te feh­len, suchen wir stam­melnd nach Bei­spie­len: Es ist wie…, es ist wie…, es ist wie… – Ja wie denn? 

Wenn etwas gesagt wer­den soll, aber eigent­lich gar nicht klar ist, was denn jetzt und vor allem wie, dann ste­hen die, die sich jetzt mal äußern sol­len wie Leh­rer vor einer Klas­se von Schü­lern, die den Teu­fel tun wer­den, sich jetzt zu melden. 

Kei­nes der bekann­ten Wor­te wird sich bereit erklä­ren für ein sol­ches Him­mel­fahrts­kom­man­do, dar­stel­len zu sol­len, wie es denn so ist, ein Impf­geg­ner zu sein und gegen den Strom zu schwin­gen. Ein Stu­dent sag­te mal im Semi­nar, da müs­se man auf­pas­sen, nicht blaue Augen zu bekom­men, wenn man gegen den Strom schwimmt. Auf Nach­fra­ge erklär­te er dann das köst­li­che Bild, die blau­en Augen ent­stün­den durch Zusam­men­stö­ße mit ent­ge­gen­kom­men­den Fischen. 

Gust­ave Doré: Die baby­lo­ni­sche Sprach­ver­wir­rung (1865ff.).

Im Coro­na-Dis­kurs ist Ver­ste­hen aus vie­ler­lei Grün­den ganz beson­ders schwie­rig, weil im Hin­ter­grund tie­fe reli­giö­se Trau­ma­ta das Orche­ster der Gefüh­le diri­gie­ren und tag­täg­lich neue Äng­ste geschürt wer­den. Die mei­sten “Recht­gläu­bi­gen” bemer­ken nicht ein­mal, daß sie sich ange­paßt haben und tun­lichst nur ange­paß­te Wor­te ver­wen­den aber gar nicht die eige­nen. Vie­le beten nur nach und kom­men dann auch sehr schnell ins Stam­meln, wenn sie ihrer­seits begrün­den sol­len, was sie war­um für rich­tig halten. 

Tat­säch­lich ist es unge­heu­er schwer, etwas zu ver­ste­hen, in dem man sich gera­de befin­det. Man kann in einer Höh­le nicht erklä­ren, daß man sich in einer Höh­le befin­det, ohne daß die, denen man das gern mit­tei­len möch­te, schon mal davon gehört haben, daß es auch ein Außer­halb gibt. Das ist die berühm­te Alle­go­rie in Pla­tons Höh­len­gleich­nis mit dem sich Pla­ton an den Athe­nern bis in aller Ewig­keit revan­chiert, daß sie sei­nen gelieb­ten Leh­rer zum Tode ver­ur­teilt haben, weil er den Main­stream gestört hat beim Nichtdenken. 

Die Spra­che ist das Haus des Seins, sagt Heid­eg­ger und in der Tat ist die­se der “Wein­berg”, von dem die Chri­sten so gern reden. Die Erwei­te­rung des Aus­drucks­ver­mö­gens ist alles entscheidend. 

Das ist ja gera­de das Schlim­me an einem Trau­ma, es lastet auf der See­le, ohne daß man sich davon erleich­tern könn­te. Das wür­de nur gehen, wenn man es mit-tei­len wür­de. Aber dazu sind Wor­te nötig, die sich frei­wil­lig mel­den und sagen: Ich ver­su­che das jetzt mal. Aber die mei­sten die­ser muti­gen Wor­te kom­men dabei um. Mutig sein allein genügt näm­lich nicht.

Außer­dem ist da noch die Gram­ma­tik, und die ist weit mehr, als nur das, was man im Deutsch­un­ter­richt zu hören bekommt. In der Phi­lo­so­phie gibt es “Onto­lo­gien”, das sind “Seins­leh­ren”, die zu ande­ren Zei­ten ernst­haft ver­tre­ten und auch geglaubt wur­den, wo dann eben so Neben­säch­lich­kei­ten drin ste­hen, wie etwa die “Natur des Men­schen, des Man­nes oder auch der Frau”. 

Man soll­te nicht zu hart mit ande­ren Epo­chen ins Gericht gehen, denn die­se hat­ten auch ihre Pro­blem, nur ande­re als wir. – Man hat das eben geglaubt, daß es so etwas wie eine fixier­te Natur gibt und das war wohl auch gut so, weil einem die Welt ohne­hin bereits über den Kopf gewach­sen war. 

Nun nimmt im Zuge der Kul­tur­ge­schich­te das sprach­li­che Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen immer wei­ter zu. Daher braucht es stän­dig neue, bes­se­re, tie­fe­re Wor­te, aber auch die Gram­ma­tik muß sich öff­nen für die neu­en Fäl­le des Lebens. Sie darf und soll neu­en Lebens- und Emp­fin­dungs­for­men nicht ihre Exi­stenz­be­rech­ti­gung aberken­nen, indem sie gar nicht zuläßt, das so etwas über­haupt gesagt wer­den kann. – Wenn die Wor­te falsch sind, füh­ren sie in die Irre, wenn die Gram­ma­tik nicht mit­spielt, dann bleibt nur Stam­meln, das kei­ner versteht. 

Daher müs­sen wir mit dem, was wir zu sagen hät­ten, aber noch gar nicht wirk­lich mit-tei­len kön­nen, ziem­lich lan­ge hadern. Wir müs­sen mit der Schul­klas­se unse­rer Wor­te vie­le Dis­kus­sio­nen füh­ren, bis eini­ge sagen, ich ken­ne da wen, der das kann, den hole ich mal. – Wir brau­chen die Musen dazu, denn erst sie schen­ken uns die nöti­gen Inspi­ra­tio­nen, etwas Unsäg­li­ches doch zur Spra­che zu bringen. 

Einer der Ankla­ge­punk­te im Pro­zeß gegen Sokra­tes, neben dem ehren­wer­ten Vor­wurf, er wür­de die Jugend (zum Den­ken) ver­füh­ren, bestand dar­in, er wür­de “frem­de Göt­ter” ein­füh­ren. Man soll­te hier nicht auf der Über­hol­spur den­ken, son­dern das Gan­ze erst ein­mal auf sich, wie auf ein Kind wir­ken las­sen. Was kann das bedeu­ten, frem­de Göt­ter nicht ein­füh­ren zu dür­fen? – Das ist das Schö­ne am Den­ken, sich selbst dabei zuse­hen zu kön­nen, wie man “dahin­ter­kommt”. 

Also, die Grie­chen hat­ten den Poly­the­is­mus und das muß man wie­der­um auch betrach­ten als ziem­lich kost­spie­li­ge Ange­le­gen­heit. Man kennt das noch in der Debat­te über die Fei­er­ta­ge, wo doch damals die evan­ge­li­sche Kir­che einen Fei­er­tag abge­tre­ten hat, nur um der armen Wirt­schaft zu hel­fen. Ja, an Fei­er­ta­gen wird in vie­len Sek­to­ren nicht gear­bei­tet, son­dern gezahlt, vor allem von denen, die sonst immer kassieren. 

Sokra­tes sprach von sei­nem “Dai­mo­ni­on”, einer Art Geist, eine inne­re Stim­me, die er hört. Sie wür­de ihm nie etwas anra­ten zu tun, son­dern sich nur mel­den, sobald er etwas Ungu­tes zu tun beab­sich­ti­gen wür­de. – Wenn ich damals vom Athe­ner Gericht mit einem Gut­ach­ten betraut wor­den wäre, hät­te ich dar­zu­stel­len ver­sucht, daß es sich bei die­ser Instanz nicht um einen neu­en, frem­den Gott han­deln wür­de, der uner­laub­ter­wei­se ein­ge­führt wor­den sei, son­dern um eine Aus­dif­fe­ren­zie­rung in der Psy­che und in der See­le des Sokra­tes, die weg­wei­send wer­den soll­te, die sich hier nur aus­nahms­wei­se schon ein­mal mel­den würde. 

Ich stel­le mir also vor, daß es so etwas wie eine Ein­fuhr­be­hör­de für Göt­ter gege­ben haben muß. Wenn da also mit einer neu­en Unter­wer­fung auch die neu unter­wor­fe­nen Göt­ter ein­ge­führt wer­den müs­sen, dann wird man sich gefragt haben, also, haben wir die nicht schon, wer unse­re Göt­ter könn­te das machen? So hat Zeus an die hun­der­te zusätz­li­cher Namen, das sind alles Göt­ter aus ein­ver­leib­ten Häupt­lings­tü­mern oder König­rei­chen mit ihren höchst spe­zi­fi­schen Zuständigkeiten. 

Es ist uner­läß­lich, den Göt­tern und zwar allen das Ihri­ge zu geben, wo nicht, droht Ärger. Etwa als, kurz bevor die Athe­ner in den Krieg zogen, irgend­wel­che Jugend­li­chen an den Her­mes­stau­et­ten, die an den Stra­ßen zu Hun­der­ten stan­den, mal so eben die eri­gier­ten Penis­se abge­schla­gen haben. 

So ist etwa die Aphro­di­te mit rotem Haar, weil sie eben aus Zypern kommt, wo auch das Kup­fer her­stammt. Wenn man also die Aphro­di­te unge­bühr­lich behan­deln wür­de, ver­dirbt man es sich nicht nur mit der Schön­heit, son­dern auch mit den Frau­en, mit der Rol­le der Frau als sol­cher und dann auch noch mit den Zyprio­ten. – Daher muß allen Ern­stes eine Kom­mis­si­on dar­über ent­schei­den, was man denn mit einem kon­kre­ten Gott, der da neu auf­ge­tre­ten ist, anstel­len soll. Und man hat die neue Kom­pe­tenz des Sokra­tes ein­fach völ­lig falsch gedeu­tet und gar nicht verstanden. 

Wenn die Wor­te sich drücken, wenn die Gram­ma­tik die Arme ver­schränkt und bei so etwas nicht mit­ma­chen will, dann gibt die Spra­che mit Bedau­ern zu ver­ste­hen, daß sie da jetzt auch nicht wei­ter­hel­fen könn­te. Dann hat man ein Pro­blem mit sich und den Ande­ren. Man ver­steht sich selbst nicht wirk­lich, weil die Wor­te feh­len, man wird nicht ver­stan­den, weil die Gram­ma­tik streikt für sol­che Fäl­le und zugleich spu­ken da noch tie­fe reli­giö­se Trau­ma­ta, von denen die mei­sten nicht ein­mal etwas ahnen. 

Und dann wird zu Ver­glei­chen gegrif­fen, die ein­fach schräg rüber­kom­men müs­sen. Histo­ri­sche Ver­glei­che sind immer pro­ble­ma­tisch, weil es ja kon­kre­te Ver­hält­nis­se, Ereig­nis­se und Fol­gen sind, die sich so, auf die­sel­be Art und Wei­se, ganz gewiß nicht wie­der­ho­len. Ande­rer­seits sind wir dar­auf ange­wie­sen, mit Ana­lo­gien zu arbei­ten, wenn kein Wort sich traut, über­haupt Stel­lung zu nehmen. 

Wir soll­ten das, was die Spra­che ist und was sie aus­macht, was sie kann, wo sie ihre Gren­zen hat und was wir tun kön­nen, uns mehr Aus­druck zu ver­schaf­fen, end­lich anders sehen. Die­ses nach­rich­ten­tech­ni­sche Modell von Sen­der, Emp­fän­ger und Bot­schaft ist grot­ten­schlecht und abso­lut unangemessen. 

Es ist viel­mehr so, daß wir mit­ein­an­der im Dia­log koope­rie­ren müs­sen, wenn wir etwas vor­stell­bar machen wol­len, um dann erst das Urteil eines Freun­des oder einer Freun­din zu erbit­ten. Ande­re kön­nen uns erst dann wirk­lich etwas anra­ten, wenn sie uns ver-ste­hen, das heißt, wenn sie aus unse­rer Posi­ti­on her­aus ihre Stel­lung­nah­me abge­ben. – Zu hoch? Da kann ich dann auch nicht mehr helfen. 

Man ach­te bit­te ein­mal dar­auf, wie vie­le “Regie­an­wei­sun­gen” da ein­an­der gege­ben wer­den: “Nein, so ist das nicht. Du mußt Dir das anders vor­stel­len, etwa wie, wenn…” – Ver­ste­hen ist Arbeit, auch wenn das unter Freun­den nicht so gese­hen wird. Den­ken ist ähn­lich, es ist ein Dia­log der See­le mit sich selbst.

Und die­ses Boh­ren ganz dicker Bret­ter, wie Max Weber die Poli­tik cha­rak­te­ri­siert, um Gesin­nungs­tä­ter, Tugend­wäch­ter und Hitz­köp­fe von irgend­ei­ne Pro­pa­gan­da durch die Tat abzu­brin­gen, ist genau das. Poli­tik ist, wenn sie wirk­lich etwas lei­stet, der Ver­such, neue Zugän­ge zu fin­den, durch Spra­che, Ver­ste­hen und neue Gemeinsamkeiten. 

Das macht dann in der Tat den Jar­gon der Diplo­ma­tie so inter­es­sant. Was macht man, wenn man nicht ein­mal “Bezie­hun­gen” zuein­an­der hat? Man besucht sich, spricht mit­ein­an­der, sucht nach “Gemein­sam­kei­ten”, bis man dann eine “gemein­sa­me Gesprächs­grund­la­ge” fin­det, auf der wei­te­re “Kon­sul­ta­tio­nen” statt­fin­den kön­nen. Und das wäre nur der aller­an­fäng­lich­ste Anfang.

Impf­gläu­bi­ge wol­len immer gleich mit den Bei­tritts­ver­hand­lun­gen begin­nen. Sie spre­chen den Ungläu­bi­gen ein­fach ab, daß es so etwas wie sie über­haupt geben kön­ne. – Es ist aber naiv zu erwar­ten, daß es in der Coro­na-Kri­se nur einen ein­zig rich­ti­gen Glau­ben gibt. 

Coro­na ist nur so stark, weil vie­le unse­rer Syste­me erstaun­lich schwach sind. Es ist gut zu wis­sen, dann wird man in Zukunft weit weni­ger ver­trau­en, son­dern sehr viel mehr kri­tisch sein und blei­ben müs­sen. – Aber auch das muß erst ein­mal zur Spra­che gebracht wer­den, mit den rich­ti­gen Wor­ten und einer Gram­ma­tik, die neu­en Gedan­ken auf­ge­schlos­se­ner ist als die Angst­rhe­to­rik unse­rer Tage. 

Es bleibt nur, mit dem Kopf immer wie­der gegen die Gren­zen der Spra­che anzu­ren­nen und der­weil die Musen dar­um zu bit­ten, das Gespür für die rich­ti­gen Meta­phern zu schenken. 


Amok und Nihilismus

Über transzendentale Obdachlosigkeit

Ich habe Amok nie ver­stan­den. Bei Charles Bukow­ski, durch den man eben­so hin­durch muß, wie durch Niklas Luh­mann, geschieht das so neben­her. Irgend­wer hat mal so rich­tig schlech­te Lau­ne, legt sich dann irgend­wo auf die Lau­er, nimmt sich ein Gewehr, wird Hecken­schüt­ze und bal­lert irgend­wel­che Leu­te ab, die ein­fach nur das Unglück haben, gera­de in die­sem Augen­blick vor Ort zu sein.

Nun, mir geht es ums Ver­ste­hen, nicht unbe­dingt um Ver­ständ­nis. Das ist ein him­mel­wei­ter Unterschied.

Man legt sich dann irgend­wel­che Erklä­run­gen zurecht, so etwas die bei Schul­mas­sa­kern, daß da jemand mit nar­ziss­ti­scher Stö­rung zutiefst ver­letzt wor­den sein muß, der dar­auf “Rache” aus­übt. Das ist auch dürf­tig, weil es nicht die tie­fe­ren Grün­de erklärt. Wir alle sind schon mal so rich­tig mies ver­letzt wor­den und waren ernst­zu­neh­mend sau­er, haben aber in der Regel nicht ein­mal dar­an gedacht, auf die­se Wei­se damit umzu­ge­hen, um die Sache wie­der “aus der Welt zu schaffen”.

Edvard Munch: Melan­cho­lie (1894f).

Ein­mal habe ich, um bes­ser zu emp­fin­den, in mei­ner Vor­le­sung einen Amok­lauf aus der Per­spek­ti­ve des­je­ni­gen Schü­lers ver­sucht zu beschrei­ben, der nun mit sei­ner Waf­fe durch den Flur läuft, wäh­rend die ihm per­sön­lich bekann­ten und doch viel­leicht auch ehe­dem freund­schaft­lich ver­bun­den Mit­schü­ler vor ihm fliehen. 

Dar­auf bin ich auf die Idee gekom­men, daß es eine Exit–Strategie geben muß. Es kam mir näm­lich so vor, als wür­de man­cher Täter sich womög­lich den Flüch­ten­den anschlie­ßen, gewis­ser­ma­ßen auf der Flucht vor sich selbst und dem eige­nen Horror.

Aber bei dem Anschlag in Hei­del­berg waren es Stu­den­ten, die zumeist per­sön­lich ein­an­der gar nicht bekannt sein dürf­ten. Hier ent­fällt also ein zen­tra­les Argu­ment, per­sön­li­che Rache auf­grund per­sön­li­cher Demü­ti­gun­gen sei der Grund und der Anlaß. — Also, wie kommt einer dazu, Leu­te zu “bestra­fen”, die so rein gar nichts mit irgend­et­was zu tun haben? Was ist dann deren “Schuld”?

Mir tut es leid für alle die, die da in die­sem Hör­saal waren, für die Ver­letz­ten und noch mehr für die Toten, ihre Ange­hö­ri­gen, Freun­de und Freun­des­freun­de. Sie alle haben mein Mitgefühl.

Den­noch will man immer etwas über die Moti­ve hören, als ob es doch irgend­wel­che zurei­chen­de Grün­de gäbe. Fast schon ent­la­stend wirkt da, wenn die­se Moti­ve reli­giö­ser oder poli­ti­schen Natur sind. Dadurch wird die Absur­di­tät nicht gerin­ger, aber irgend­wie hat die Ratio dann etwas, an dem sie sich hal­ten kann.

Eines ging mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich von dem Amok­läu­fer an der Uni in Hei­del­berg hör­te. Er soll per Whats­app kurz zuvor mit­ge­teilt und ange­kün­digt haben, nach­dem er sich die Waf­fen zuvor im Aus­land beschafft hat­te, „daß Leu­te jetzt bestraft wer­den müs­sen“. Die­ses “Motiv” hat wei­ter gear­bei­tet in mir. Irgend­wie scheint das ein Schlüs­sel zu sein für ein tie­fe­res Ver­ste­hen ohne Verständnis.

Dabei ist mir auf­ge­fal­len, daß die­se For­mel vom “Bestra­fen” häu­fig ver­wen­det wird, nicht nur von reli­gi­ös moti­vier­ten Amok­tä­tern, son­dern auch von sol­chen, die eigent­lich nicht reli­gi­ös moti­viert sein dürf­ten, weil ihnen dazu jeder Back­round fehlt. Dann bin ich heu­te beim Ver­fas­sen eines Tex­tes auf den Zeit­geist der Moder­ne zu spre­chen gekom­men und dar­auf, daß mit der Ent­zau­be­rung der Welt, mit dem Ver­lust eines Glau­bens und einer tran­szen­den­ta­len Obdach­lo­sig­keit die­se grund­ver­zwei­fel­ten Leu­te zunächst in Russ­land auf­kom­men, wie sie Dosto­jew­ski so ein­dring­lich zur Dar­stel­lung bringt.

Das hilft nun den Opfern und allen Betrof­fe­nen nicht wirk­lich, weil ihnen das die gesuch­te und nicht zu fin­den­de Erklä­rung nicht geben kann. Und den­noch, es hat mit dem “Bestra­fen” eine eige­ne Bewandt­nis. Stra­fe, Süh­ne und Buße sind näm­lich als Moti­ve zutiefst reli­gi­ös in einem tie­fen­psy­cho­lo­gi­schen Sin­ne. Das bedeu­tet, man muß nicht unbe­dingt auf irgend­ei­ne Wei­se gläu­big sein, die­se Arche­ty­pen sind ein­fach vor­han­den im kol­lek­ti­ven Unbewußten.

Edvard Munch: Der Schrei.

Also, in der Moder­ne, wo nicht ein­mal mehr die Idee vom gro­ßen Gan­zen noch mög­lich scheint, dort zer­springt die Welt in tau­send Stücke und alle die­se Frag­men­te erschei­nen nur noch pro­fan. Dar­auf wird dann die unse­li­ge Pro­fa­ni­tät selbst zum Skan­dal und zum ver­zwei­fel­ten Anlaß für Selbst­ver­let­zung, sei es am eige­nen Leib oder auch am ›Kör­per‹ der Gemein­schaft. — Der Grund scheint zu sein, daß die See­le der Akteu­re in der von ihnen ver­ach­te­ten Welt seit gerau­mer Wei­le kei­ne Nah­rung mehr fin­det, zumal der Blick für See­len­nah­rung ent­we­der gar nicht ent­wickelt oder ein­ge­trübt ist.

Auf die­se Wei­se läßt sich nach­voll­zie­hen, war­um es unter psy­cho­lo­gisch pre­kä­ren Umstän­den in den völ­lig ent­zau­ber­ten und pro­fa­ni­sier­ten Frag­men­ten moder­ne Wel­ten immer wie­der zu die­sen äußerst spek­ta­ku­lä­ren und demon­stra­ti­ven Ter­ror­ak­ten kommt, und woher die vie­len reli­giö­sen Moti­ve vor allem doch bei eigent­lich reli­gi­ös gar nicht moti­vier­ten Tätern rühren.

Es läßt sich spe­ku­lie­ren, ob das Unvor­stell­ba­re nicht doch vor­stell­bar wird, wenn wir ernst neh­men, was vie­le die­ser Täter als Motiv bekun­den, sie woll­ten ›stra­fen‹. Als wür­de da ein gei­stig voll­kom­men ent­wur­zel­tes Pro­phe­ten­tum exer­ziert. Tat­säch­lich läßt sich aber anneh­men, daß die Ver­let­zun­gen in der Tat eine Art ›Buße‹ sein sol­len, nur, in einem Kon­ti­nu­um, das selbst völ­lig ver­irrt ist.

Das hat Fjo­dor Michai­lo­witsch Dosto­jew­ski in der gan­zen see­li­schen Dra­ma­tik vor Augen geführt. Er war ein Seis­mo­graph der Kon­flik­te, in die der Mensch mit dem Anbruch der Moder­ne geriet. In sei­nen Wer­ken spie­gel­te er die irr­lich­tern­de mensch­li­che See­le, ihre Sehn­süch­te, Regun­gen und Träu­me, dann aber auch die Zwän­ge und Befrei­ungs­ver­su­che bis hin zum Verbrechen.

Seit die Welt nur noch in Frag­men­ten erscheint, die alle­samt nur noch pro­fa­ner Natur sein kön­nen, kon­zen­triert man sich ersatz­hal­ber auf Äußer­lich­kei­ten, spricht allen­falls von ›Wer­ten‹ und ver­liert jede Vor­stel­lung von Geist und Ver­nunft in ihrem Bezug zum Schö­nen, Erha­be­nen und daher auch zum Gött­li­chen. — Fol­ge­rich­tig führt Fried­rich Nietz­sche die­ser Befund zu einer ver­hee­ren­den Dia­gno­se: Nihilismus.

Der jun­ge Nietz­sche selbst ver­warf bereits in jun­gen Jah­ren die­se Welt­sicht der Halt­lo­sig­keit und wand­te sich der Phi­lo­so­phie von Arthur Scho­pen­hau­er zu, die nicht nur die Ver­zweif­lung auf eine sehr kon­struk­ti­ve Wei­se deu­tet, son­dern die auch eine Phi­lo­so­phie des Mit­leids ent­wickelt und dabei bedeu­ten­de Gemein­sam­kei­ten mit fern­öst­li­chem Den­ken ent­wickelt. — Es gäbe also schon phi­lo­so­phi­sche Alter­na­ti­ven, die vor allem eige­nes Han­deln wie­der mög­lich machen und nicht nur die akti­ve Welt­ver­nei­nung und noch dazu die völ­lig unbe­rech­tig­te “Bestra­fung” zufäl­lig anwe­sen­der Men­schen, die dann zu Opfern wer­den. Kein Gott, kein Geist und nicht ein­mal ein Ungeist wird ein sol­ches Opfer akzeptieren.

Das ist kei­ne Erklä­rung, die Trost spen­den kann, es ist aller­dings eine beun­ru­hi­gen­de Ein­sicht in die see­li­sche Käl­te unse­rer Welt, die man­che ein­fach nicht ertra­gen, schon gar nicht dann, wenn sie sich Hil­fe nicht ein­mal mehr vor­stel­len kön­nen son­dern mei­nen, sie könn­ten durch sol­che Taten irgend­et­was bewir­ken, was alten Wun­den heilt. – Statt­des­sen wer­den neue aufgerissen.


Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

Der zerbrochene Spiegel 

Wir wis­sen nicht, was Nar­ziß auf der spie­geln­den Was­ser­ober­flä­che gese­hen haben mag. Der Mythos vom Nar­ziß the­ma­ti­siert weit mehr als den dumm­drei­sten Nar­ziß­mus eines Selbst­ver­lieb­ten; wäre dem so, der Nar­ziß wäre kaum der Rede wert. — Tat­säch­lich geht es um etwas ande­res: Das Geheim­nis mensch­li­chen Bewußt­seins, das sich selbst spie­gelt, um sich sei­ner selbst gewiß zu wer­den, ist erst der Anfang einer lan­gen Rei­se ins eige­ne Innere.

Die bei­den Haupt­fi­gu­ren in die­sem Mythos haben bemer­kens­wer­te Han­di­kaps, so daß sie ein­an­der nicht begeg­nen kön­nen. Alles beginnt mit der Nym­phe Echo, die von Zeus ani­miert wor­den ist, Hera nach Art der Sche­he­re­za­de mit unend­li­chen Geschich­ten von den Amou­ren des Gemahls abzu­len­ken, ins­be­son­de­re wenn die­ser wie­der ein­mal bei den Nym­phen weilt. Die oft rasend eifer­süch­ti­ge Hera ist bereits im Begriff, ihren Gat­ten in fla­gran­ti zu über­füh­ren, aber die geschwät­zi­ge Echo hält sie davon ab, indem sie wei­ter und wei­ter redet.

Nach­dem Hera das Spiel durch­schaut hat, bestraft sie Echo, die nun­mehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aus­sagt. Es wird der Nym­phe genom­men, was sie miß­braucht hat, um die Göt­tin hin­ters Licht zu füh­ren: Hera nimmt ihr die Fähig­keit eige­ner Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus spre­chen, son­dern nur wie­der­ho­len kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fort­an gar nicht mehr spre­chen, es bleibt ihr nur noch, die letz­ten Wor­te ledig­lich zu wie­der­ho­len, — ein fata­les Han­di­kap, ins­be­son­de­re wenn sie dem Nar­ziß ihre Lie­be geste­hen will.

Eines Tages wird Nar­ziß auf der Jagd von sei­nen Gesel­len getrennt. Er gerät in eine son­der­ba­re Land­schaft am Heli­kon, die von der Nym­phe Echo beseelt wird. Sobald die­se den jun­gen Mann erblickt, wird sie sogleich in Lie­be erglü­hen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Lie­be zu geste­hen. Also folgt sie ihm heim­lich, um ihm bei Gele­gen­heit näher zu kommen…