Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Theographien

Frauenbilder im Mythos

Oberseminar: Frauenbilder im Mythos

WS 2019 | donnerstags | 11:30–13:00 Uhr | Raum 30.91–110

Beginn: 17. Oktober 2019 | Ende: 6. Febr. 2020

Man sieht, daß sie eben­bür­tig sind, schließ­lich ist sie auch sei­ne Schwe­ster. — James Bar­ry: Jupi­ter and Juno on Mount Ida (um 1790f.) — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Die Rol­len vie­ler Frau­en­fi­gu­ren in den klas­si­schen Mythen zei­gen weit mehr als nur die Sei­te des Opfers (Hele­na), son­dern auch eine Viel­falt weib­li­cher Macht, durch die Stel­lung im Haus als Matro­ne (Hera), durch beson­de­re Fähig­kei­ten wie Ver­nunft (Athe­ne) oder auch Zau­be­rei (Medea), nicht zuletzt aber auch durch Ver­füh­rung (Salo­me). Auch tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Kon­flik­te spie­len hin­ein, wenn Gefühl, Wil­le, Kör­per und Geist eben nicht mit­ein­an­der har­mo­nie­ren (Anti­go­ne) oder wenn der Zwang zur Selbst­ver­leug­nung so groß wird, daß Psy­cho­sen aus­ge­lebt wer­den müs­sen (Dio­ny­sos). Des­wei­te­ren ist die offe­ne Zukunft im Pro­zeß der Selbst­er­mäch­ti­gung des Men­schen ein dau­er­haf­tes Pro­blem (Pan­do­ra).

Die­se Ver­an­stal­tung dient der Gegen­wart und dar­in der Selbst­re­flek­ti­on vor dem Hin­ter­grund einer huma­ni­sti­schen Bil­dung, deren Reiz dar­in besteht, sich men­tal und emo­tio­nal den ganz anders­ge­ar­te­ten Ver­hält­nis­sen in der Anti­ke aus­set­zen zu kön­nen, von denen uns vie­les bis auf den heu­ti­gen Tag noch immer tief berührt. Wir soll­ten die­se alten Zei­ten nicht men­tal über­win­den wol­len, denn es wür­de bereits genü­gen, ein­fach nur zu ver­ste­hen, was Kon­ven­tio­nen mit Men­schen machen können.

Bemer­kens­wert ist die in Sze­ne gesetz­te Empa­thie, als wäre das Werk eine Reak­ti­on auf das von Franz Stuck. — Her­mann Haase–Ilsenburg: Fare­well of the Ama­zon (1902). — Quel­le: Foto von Golf in der Wiki­pe­dia. via Wiki­me­dia, Lizenz: Crea­ti­ve Com­mons, CC-BY‑3.0.

Auch der Mythos um die Ama­zo­nen ist, neue­ren For­schun­gen zufol­ge, höchst inter­es­sant in der Deu­tung des­sen, was da wirk­lich auf dem Spie­le stand. Die Ver­hält­nis­se waren längst nicht mehr so ein­ver­nehm­lich wie vor­her, als es noch sehr weni­ge Men­schen gab und noch nicht die Ambi­ti­on, dar­aus Unter­ta­nen zu machen. — Viel­leicht ist unter sol­chen Bedin­gun­gen sogar die Blut­ra­che nicht so desa­strös, wie sie spä­ter sein wird.

Da sind Prin­zes­sin­nen wie Ari­ad­ne oder Medea, die ihr Schick­sal auf­bes­sern möch­ten und end­lich her­aus wol­len aus der eige­nen, als bar­ba­risch emp­fun­de­nen Kul­tur. Daher wür­den sie für einen hoch­wohl­ge­bo­re­nen grie­chi­schen Prin­zen mit Aus­sicht auf Königs­wür­den wirk­lich alles tun, bis hin zum Hoch­ver­rat des eige­nen Lan­des, der Göt­ter und der eige­nen Fami­lie, sogar bis hin zum Brudermord.

Zwar hat auch Ari­ad­ne ›ihrem Hel­den‹ The­seus ganz ent­schei­dend gehol­fen, den Mino­tau­rus im Laby­rinth von Knos­sos zu töten und wie­der her­aus­zu­fin­den, aber The­seus setzt die Schla­fen­de, also die ihm blind­lings Ver­trau­en­de ganz ein­fach auf der Insel Naxos aus. — Ihr wird aber ein atem­be­rau­bend über­ra­schend schö­nes Schick­sal zu Teil, der Wein­gott Dio­ny­sos ver­liebt sich in die schla­fen­de Schö­ne. Ohne­hin spielt die­ser Gott eine sehr wich­ti­ge Rol­le im Zuge der Frau­en­eman­zi­pa­ti­on, weil er end­lich Mög­lich­kei­ten schafft, daß gera­de auch Frau­en ›unge­zü­gelt‹ sein kön­nen und auch sein dürfen.

Franz Stuck: Ama­zo­ne zu Pfer­de (1897). Lower Sax­o­ny Sta­te Muse­um. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Da sind die Opfer gött­li­cher Avan­cen wie Daph­ne, bei der die uner­wi­der­te, ja auf­dring­li­che Lie­be durch­ge­spielt wird, oder etwa Kas­san­dra, die allein für die Aus­sicht auf eine ein­zi­ge Lie­bes­nacht schon mal im vor­hin­ein von Apol­lon mit der Seher­ga­be belohnt wor­den ist, die sich aber stand­haft ver­wei­gert, so daß auch hier wie­der­um der Gott nicht zurück­neh­men kann, was nun ein­mal ver­lie­hen wor­den ist. Dafür aber konn­te er sie sehr wohl noch emp­find­lich tref­fen, die Seher­ga­be soll­te ihr erhal­ten blei­ben, allein, es wür­de ihr nur nie­mand mehr glauben.

Es sind vie­le, wirk­lich sehr ein­drucks­vol­le Bege­ben­hei­ten, einer­seits Stan­dard­si­tua­tio­nen, wie die Los­lö­sung vom Eltern­haus, die Ent­füh­rung der Braut, ero­ti­sche Aben­teu­er, unzwei­deu­ti­ge Ange­bo­te, aber auch ihre gewalt­sa­me Über­win­dung, wonach sie dann auf die­se Wei­se zur Frau ›gemacht‹ wor­den ist, wie etwa Hera durch Zeus, der sich in Gestalt eines bib­bern­den Kuckucks in die Nähe ihres Scho­ßes begibt.

John Wil­liam Water­hou­se: Jason and Medea (1907). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Dann ist es — so will es die­se Geschlechter–Dramaturgie vor­ma­li­ger Zei­ten, um die Frau gesche­hen. Sie hat nicht auf­ge­paßt, ist hin­ters Licht geführt wor­den. Es genügt, der Gelieb­ten die Ehre zu neh­men, dann wird sie nolens volens ihren Über­wäl­ti­ger hei­ra­ten müs­sen. — Mög­lich ist alle­dings auch, daß hier sehr alte Erfah­run­gen reka­pi­tu­liert wer­den, der Frau­en­raub auch unter vor­zi­vi­li­sier­ten Völ­kern. Der Hin­ter­grund dürf­te der sein, daß es eine immens hohe Müt­ter­sterb­lich­keit gege­ben haben dürfte.

Wir sind inzwi­schen mei­len­weit ent­fernt von die­sen Ver­hält­nis­sen, und nur noch weni­ge wis­sen, was eigent­lich im Ritus der ent­führ­ten Braut noch so alles mit­schwingt. Aber vie­les von alle­dem spukt noch immer in den Köp­fen und Kör­pern her­um. Daher ist es so inter­es­sant, die­se eben­so schil­lern­den wie arche­ty­pi­schen Kon­stel­la­tio­nen ganz bewußt neu auszudeuten.

Alles ist Kon­ven­ti­on, ganz beson­ders kon­ven­tio­nell sind auch die gegen­wär­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, in denen vie­le Akti­vi­stIn­nen noch immer davon aus­ge­hen, daß Frau­en stets Opfer sind, die Opfer von Män­nern, daß Män­ner immer Täter sind und daß daher den Frau­en immer­zu Schutz gewährt wer­den müs­se. Genau das aber bewirkt nichts anders als die Auf­recht­erhal­tung über­kom­me­ner Ver­hält­nis­se, die längst nicht mehr dem Sta­te of the art im Dis­kurs über Gen­der gerecht werden.

Aber oft hin­ter­geht gera­de die­ser Dis­kurs sei­ne eige­nen Anfor­de­run­gen. Daher ist es so inter­es­sant, vor dem Hin­ter­grund unse­rer eige­nen Gegen­wart die dra­ma­ti­schen Situa­tio­nen, in die Frau­en im Mythos gera­ten, als sol­che zu deu­ten. — Wir spie­geln uns immer­zu selbst und dar­auf kommt es an. Daher geht es auch nicht ums Urtei­len, schon gar nicht ums Ver­ur­tei­len, son­dern ein­fach nur und immer wie­der ums Verstehen.

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Der Mensch als Maß?

Heinz–Ulrich Nen­nen: Der Mensch als Maß aller Din­ge? Über Prot­agoras, Pro­me­theus und die Büch­se der Pan­do­ra (Zeit­Gei­ster 1); tre­di­ti­on Ham­burg 2018. 232 S. – Paper­back 16,99 €, ISBN: 978–3‑7439–0090‑5. Hard­co­ver 26,99 € ISBN: 978–3‑7439–0091‑2. Erschei­nungs­da­tum: 11.12.2018.

Pan­do­ra ist das Abschieds­ge­schenk der abdan­ken­den olym­pi­schen Göt­ter, danach kommt nur noch der Mensch. Es soll­te kei­ne wei­te­re Dyna­stie von Göt­tern mehr geben. — Wir sind wer­den­de Göt­ter in einer Welt, die wir selbst erschaf­fen haben, für die wir auch ganz allein ver­ant­wort­lich sind. 

Mit sämt­li­chen gött­li­chen Gaben bedacht, ist Pan­do­ra die Alle­go­rie aller Ver­lockun­gen, wie sie nur zivi­li­sier­te Wel­ten bie­ten. Zugleich bringt sie auch alle damit ver­bun­de­nen Übel in die Welt. Um die Fra­ge nach dem War­um ran­ken sich seit­her vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen. Grund genug, sie erneut zu befra­gen, um ›unse­re‹ Ant­wor­ten zu finden.

Also wie gehen wir um mit unse­rer Sou­ve­rä­ni­tät in Fra­gen von Moral, Gefühl und Selbst­be­stim­mung? Der Weg führt vom ersten Gewis­sen bis zur mul­ti­plen Iden­ti­tät, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Gebor­gen­heit. — Inzwi­schen tra­gen wir die Göt­ter in uns.

Die Rei­he Zeit­Gei­ster ist der Psy­cho­ge­ne­se gewid­met, denn Ori­en­tie­rungs­wis­sen ist von zuneh­men­der Bedeu­tung. Es geht um die neu­en Per­spek­ti­ven einer Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie, die in den Mei­ster­er­zäh­lun­gen ein uraltes Ori­en­tie­rungs­wis­sen fin­det, das über­ra­schend aktu­ell ist.

Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Prot­agoras von Sokra­tes um Erläu­te­rung gebe­ten wird, was man denn nun gegen teu­res Geld bei ihm erler­nen kön­ne, dann zeigt sich ein tief­grei­fen­der Wan­del. — Nicht ein­mal mehr die Ein­füh­rung ins Erwach­se­nen­le­ben gehorcht noch der Tra­di­ti­on der Jäger. Die Kul­tur in den Städ­ten setzt eige­ne Maß­stä­be und bespie­gelt sich dabei selbst. Frag­lo­se Maß­stä­be sind nicht mehr vor­han­den: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

Prot­agoras erläu­tert anhand des Mythos von Pro­me­theus, es mang­le nicht an der nöti­gen Tech­nik, Städ­te zu errich­ten. Allein sie zu hal­ten, sei schier unmög­lich gewe­sen. — In der Tat muß­te die drin­gend gebo­te­ne Kunst der Poli­tik eigens von Her­mes im Auf­trag­des Zeus nach­ge­reicht wer­den. Und er, der Sophist, ver­mitt­le genau­die­se vakan­ten Kompetenzen.

Poli­tik ist die Kunst, stän­dig gegen­zu­steu­ern, wenn Gesell­schaf­ten wie­der ein­mal aus irgend­ei­nem Gleich­ge­wicht gera­ten. Die eigent­li­che ›Wild­nis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städ­ten. — Seit­her muß also ›stu­diert‹ wer­den. Dann ist es durch­aus mög­lich, Kar­rie­re zu machen, auch ohne von Adel zu sein.
Pan­do­ra ist das Abschieds­ge­schenk der abdan­ken­den olym­pi­schen Göt­ter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämt­li­chen gött­li­chen­Ga­ben bedacht, ist sie die Alle­go­rie aller Ver­lockun­gen, wie sie nurz­i­vi­li­sier­te Wel­ten bie­ten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vor­her nicht waren. — Um die Fra­ge nach dem War­um ran­ken sich seit­her vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen. Grund genug, sie erneu­tzu befra­gen, um ›unse­re‹ Ant­wor­ten zu finden.

Phi­lo­so­phie kommt auf, wo Göt­ter schlecht gedacht wer­den. So ent­steht all­mäh­lich Sou­ve­rä­ni­tät in Fra­gen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewis­sen bis zur mul­ti­plen Iden­ti­tät, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.

Die Rei­he Zeit­Gei­ster ist der bis­her kaum bedach­ten Psy­cho­ge­ne­se gewid­met, dabei ist Ori­en­tie­rungs­wis­sen von zuneh­men­der Bedeu­tung. Es geht um die neu­en Per­spek­ti­ven einer Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie, die in Zwei­fels­fäl­len immer wie­der auf die Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung durch Phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie zurück­grei­fen kann.

Alle Bän­de der Rei­he Zeit­Gei­ster erschei­nen bei tre­di­ti­on – wer­den aber auch hier suk­zes­si­ve zum Down­loads freigegeben.


Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

Der zerbrochene Spiegel 

Wir wis­sen nicht, was Nar­ziß auf der spie­geln­den Was­ser­ober­flä­che gese­hen haben mag. Der Mythos vom Nar­ziß the­ma­ti­siert weit mehr als den dumm­drei­sten Nar­ziß­mus eines Selbst­ver­lieb­ten; wäre dem so, der Nar­ziß wäre kaum der Rede wert. — Tat­säch­lich geht es um etwas ande­res: Das Geheim­nis mensch­li­chen Bewußt­seins, das sich selbst spie­gelt, um sich sei­ner selbst gewiß zu wer­den, ist erst der Anfang einer lan­gen Rei­se ins eige­ne Innere.

Die bei­den Haupt­fi­gu­ren in die­sem Mythos haben bemer­kens­wer­te Han­di­kaps, so daß sie ein­an­der nicht begeg­nen kön­nen. Alles beginnt mit der Nym­phe Echo, die von Zeus ani­miert wor­den ist, Hera nach Art der Sche­he­re­za­de mit unend­li­chen Geschich­ten von den Amou­ren des Gemahls abzu­len­ken, ins­be­son­de­re wenn die­ser wie­der ein­mal bei den Nym­phen weilt. Die oft rasend eifer­süch­ti­ge Hera ist bereits im Begriff, ihren Gat­ten in fla­gran­ti zu über­füh­ren, aber die geschwät­zi­ge Echo hält sie davon ab, indem sie wei­ter und wei­ter redet.

Nach­dem Hera das Spiel durch­schaut hat, bestraft sie Echo, die nun­mehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aus­sagt. Es wird der Nym­phe genom­men, was sie miß­braucht hat, um die Göt­tin hin­ters Licht zu füh­ren: Hera nimmt ihr die Fähig­keit eige­ner Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus spre­chen, son­dern nur wie­der­ho­len kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fort­an gar nicht mehr spre­chen, es bleibt ihr nur noch, die letz­ten Wor­te ledig­lich zu wie­der­ho­len, — ein fata­les Han­di­kap, ins­be­son­de­re wenn sie dem Nar­ziß ihre Lie­be geste­hen will.

Eines Tages wird Nar­ziß auf der Jagd von sei­nen Gesel­len getrennt. Er gerät in eine son­der­ba­re Land­schaft am Heli­kon, die von der Nym­phe Echo beseelt wird. Sobald die­se den jun­gen Mann erblickt, wird sie sogleich in Lie­be erglü­hen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Lie­be zu geste­hen. Also folgt sie ihm heim­lich, um ihm bei Gele­gen­heit näher zu kommen…


Vorlesungen und Seminare


Persiphaé

Pasiphae-Gustave-Moreau

Gust­ave Moreau: Pasi­phaé. Musée Gust­ave Moreau, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Götter als Allegorien menschlicher Belange

Die Nähe zum pan­dä­mo­ni­schen, pan­psy­chi­schen oder auch zum poly­the­isti­schen Welt­bild liegt fast schon auf der Hand: Stets wer­den wir näm­lich ergrif­fen von frem­den Mäch­ten und von über­per­sön­li­chen Moti­va­tio­nen. Daher ist die Vor­stel­lung so nahe­lie­gend, als wür­den wir ein­ge­nom­men von dämo­ni­schen Mäch­ten, die Besitz von uns ergrei­fen, um ihre Moti­ve zu den unse­ren zu machen. — Inso­fern sind wir wohl nicht wirk­lich Herr unse­rer selbst, denn wer sucht sich schon die eige­ne Grund­stim­mung, die Grund­ge­füh­le und vor allem auch die Gefühls­schwan­kun­gen selbst aus. Göt­ter ver­kör­pern nicht nur Emo­ti­on, von denen wir uns bewe­gen las­sen, sie geben sie mit­un­ter auch ein.

Göt­ter kön­nen sich rächen, indem sie unwi­der­steh­li­che Nei­gun­gen ein­ge­ben: König Minos von Kre­ta hat­te einen eigens von Posei­don geschaf­fe­nen Stier mit außer­ge­wöhn­lich herr­li­cher Gestalt dem Mee­res­gott auf des­sen aus­drück­li­chen Wunsch nicht geop­fert, son­dern zur Ver­ed­lung der eige­nen Her­de ver­wandt. Dar­auf ließ Posei­don die Ehe­gat­tin des Minos Pasi­phae in hei­ßem Begeh­ren zu jenem Stier ent­bren­nen. Der sagen­um­wo­be­ne Erfin­der Däda­lus wur­de geru­fen, der eine höl­zer­ne Kuh kon­stru­ier­te. Die Köni­gin kriecht hin­ein, läßt sich von die­sem Stier begat­ten und gebiert dar­auf den Mino­tau­rus, der spä­ter dann im Laby­rinth gefan­gen gehal­ten und von The­seus unter Mit­hil­fe von Ari­ad­ne getö­tet wird.

Weil Minos dem Nep­tun einen Och­sen nicht opfer­te, wel­chen er ihm doch ver­spro­chen hat­te, so habe sie sich in den­sel­ben ver­lie­ben müs­sen. Ihre Brunst wur­de auch eher nicht gestil­let, als bis Däda­lus eine Kuh von Hol­ze ver­fer­tig­te, sol­che mit einer Kuh­haut über­zog, und die Pasi­phae hin­ein steckete. (Ben­ja­min Hede­rich: Gründ­li­ches mytho­lo­gi­sches Lexi­con. Leip­zig 1770. S. 1899.)

Man­ches spricht dafür, die Göt­ter des Pan­the­on zu sehen als das, was sie von Anfang an waren, Alle­go­rien für alle erdenk­li­chen mensch­li­chen Belan­ge. In ihrer Gesamt­heit ver­kör­pern sie alles, was an Moti­ven, Inter­es­sen, an Schick­sals­schlä­gen, Schwä­chen oder auch Stär­ken, Fer­tig­kei­ten und Talen­ten eine Rol­le spie­len kann.

Wenn dem­entspre­chend genau­er gefragt wird, etwa, was denn eigent­lich hin­ter der Empa­thie steht, und was denn dann die Sehn­sucht der Sehn­sucht aus­macht, dann könn­ten wir wei­ter­kom­men in die­ser Fra­ge, wenn uns ein Gott dazu ein­fie­le, der zustän­dig zu sein scheint. — Die Kunst, mit der ver­wir­ren­den Viel­falt eines Göt­ter­him­mels umzu­ge­hen, liegt eben dar­in, hin­ter den Alle­go­rien der Göt­ter ihre Zustän­dig­kei­ten zu eru­ie­ren. Die Fra­ge wäre also: Wel­cher Gott ver­kör­pert eigent­lich die Sehn­sucht der Sehn­sucht und wie gehen Göt­ter ihrer­seits damit um, Träu­me zu haben, die sie womög­lich selbst nicht leben kön­nen, etwa weil es zu ihrer Rol­le und zu ihrem Selbst­ver­ständ­nis ein­fach nicht paßt.


Diana – Psyche und Wildnis

Jules-Joseph-Lefebvre-Diana-Chasseresse

Jules–Joseph Lefeb­v­re: Dia­na. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Die Bio­gra­phie der Göt­ter, also ihre Theo­gra­phie ist oft hilf­reich, um her­aus­zu­brin­gen, was sich hin­ter der Alle­go­rie eines Got­tes oder einer Göt­tin ver­birgt. Alle die­se Figu­ren sind unse­re Pro­jek­tio­nen, daher ist es inter­es­sant, dem nach­zu­ge­hen, was denn da pro­ji­ziert und idea­li­siert wor­den ist. Dem­entspre­chend darf stets mit höchst inter­es­san­ten Kor­re­spon­den­zen zwi­schen der Men­schen­welt und dem Göt­ter­him­mel gerech­net werden.

Immer­hin geht es um fun­da­men­ta­le Erfah­run­gen und Selbst­er­fah­run­gen, die mit­hil­fe von Göt­ter­fi­gu­ren in Sze­ne gesetzt wer­den: So steht die grie­chi­sche Arte­mis und die mehr oder min­der iden­ti­sche römi­sche Dia­na für einen ganz bestimm­ten Kon­text, der tief in die Ver­gan­gen­heit der Men­schen­ge­schich­te zurückreicht.

Dia­na ist auf den Bil­dern beim Bade unter den vie­len nack­ten Nym­phen sicher an ihrem Dia­dem zu erken­nen, das eine Mond­si­chel trägt, ein wahr­haft uraltes Sym­bol. Damit läßt sie sich einer sehr viel älte­ren Epo­che der Mensch­heits­ge­schich­te zuord­nen, was aller­dings kaum ver­wun­der­lich ist. Als Jagd­göt­tin steht sie alle­go­risch für genau jene Lebens­wei­se ein, wie sie zuvor in der gesam­ten Geschich­te der Mensch­heit vor­herr­schend war. Erst vor etwa 45.000 Jah­ren kamen die ersten Hir­ten­no­ma­den auf und erst seit rund 12.000 Jah­ren kam es zum Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on. — Wenn daher die Dia­na auf­tritt, so ver­kör­pert sie einen ganz bestimm­ten Aspekt in der Sub­si­sten­z­wei­se von Samm­lern und Jägern, und dabei kam das Jagen den Män­nern und das Sam­meln den Frau­en zu.

Die Göt­tin steht für die­sen eigen­tüm­li­chen Flow, für die inten­si­ve Erfah­rung von Ein­sam­keit in den end­lo­sen Wäl­dern, Wie­sen und Fel­dern, auf der Jagd aber auch beim Sam­meln. Sie ist die Göt­tin des ›Drau­ßen‹ und bewahr­te ins­be­son­de­re die Frau­en vor den Gefah­ren, die damit ein­her­ge­hen, sich weit weg zu wagen von allem, was noch in der Nähe der Gemein­schaft liegt. Da sind nicht nur natür­li­che Gefah­ren, son­dern auch die, even­tu­ell ande­ren Jägern zu begeg­nen, die viel­leicht auf Frau­en­raub aus sind. Dar­über­hin­aus ist es immer auch ein see­li­sches Wag­nis, sich tief in die Wild­nis vor­zu­wa­gen, weil man sich eben zugleich auch auf das eige­ne Inne­re ein­läßt. Nicht von unge­fähr ist in der Welt­an­schau­ung der Wild­beu­ter alles beseelt und vol­ler Gei­ster und Dämonen.

Dia­na ist eine Schutz­göt­tin, die denen gan­ze beson­de­ren Bei­stand gewährt, die sich sehr in die Wild­nis vor­wa­gen. Denn sie demon­striert das uner­müd­li­che Jagen und sie bewahrt ihre Iden­ti­tät, so daß sich die, die sich auf die Ein­sam­keit in den Wäl­dern und auf alle erdenk­li­chen Erfah­run­gen und Gefah­ren ein­lie­ßen, sich gebor­gen füh­len konn­ten. Die Göt­tin lebt vor, was es bedeu­tet, auf Jagd oder zum Sam­meln in die Wäl­der zu gehen, weit­ab vom Lager, viel­leicht in klei­nen Grup­pen, auf jeden Fall aber auf sich allein gestellt und nicht son­der­lich wehr­haft. — Erstaun­li­cher­wei­se wird die gött­li­che Alle­go­rie für das Jagen und Sam­meln aus­ge­rech­net von einer jung­fräu­li­chen Göt­tin ver­kör­pert. Das muß zu den­ken geben, denn gera­de vom Jagen wür­de man doch anneh­men wol­len, da es doch eine emi­nent ›männ­li­che‹ Tätig­keit ist, daß infol­ge­des­sen auch ein männ­li­cher Gott dafür ein­ste­hen müßte.

Aller­dings hat es mit den Umstän­den beim Jagen und Sam­meln eine ganz eige­ne Bewandt­nis. Nicht sel­ten herrscht Ent­halt­sam­keit im Lager, wäh­rend die Jäger weit­ab auf Beu­te­fang sind. Und nicht anders ergeht es den Samm­le­rin­nen, wenn sie in klei­nen Grup­pen unter­wegs sind, stän­dig ver­folgt von Gefüh­len wie Angst, Bedro­hung und Hor­ror. — Sich über­haupt auf sol­che Wag­nis­se ein­zu­las­sen, dafür steht die­se Göt­tin, denn sie demon­striert, wie es gemacht wird.

Die Auf­merk­sam­keit dürf­te nicht sel­ten hoch ange­spannt gewe­sen sein, etwa anhand von Geräu­schen die Nähe von Raub­tie­ren früh­zei­tig zu bemer­ken. Aber nicht nur äußer­li­che, son­dern auch psy­chi­sche Gefah­ren sind in sol­chen Situa­tio­nen zu bewäl­ti­gen, die sehr viel Dis­zi­plin, Selbst­er­fah­rung und Wage­mut erfor­dern. — Vor allem für die Frau­en dürf­te noch ent­schei­den­der gewe­sen sein, daß sie ernst­haft befürch­ten muß­ten, weit­ab vom Lager even­tu­ell von frem­den Jägern auf­ge­spürt, geraubt und ent­führt zu werden.

So ergibt sich dann der Cha­rak­ter die­ser Göt­tin. Sie muß so sein wie sie ist, stän­dig auf der Jagd, auf gutem Fuße mit allen Natur­gei­stern wie den Nym­phen, aber völ­lig bei sich und nicht im min­de­sten an Lie­bes­aben­teu­ern oder gar Sex inter­es­siert. — Dage­gen gilt Dia­na rein äußer­lich als äußerst attrak­ti­ve, jugend­li­che, unge­mein umtrie­bi­ge aber auch abso­lut unnah­ba­re Göt­tin. Alle wis­sen, daß sie sich für Män­ner wirk­lich nicht inter­es­siert. Aber immer wie­der gibt es alle erdenk­li­chen Nach­stel­lun­gen, denen sie sich syste­ma­tisch und stets erfolg­reich ent­zieht, nicht sel­ten unter Ein­satz von Mit­teln, die der eige­nen Weib­lich­keit eine Tar­nung ver­pas­sen, die augen­schein­lich ist. Sie nimmt auch schon ein­mal die Gestalt eines Hirschs an, um Nach­stel­lun­gen zu ent­ge­hen, so daß sich ihre Ver­fol­ger gegen­sei­tig erschie­ßen. Ihre Selbst­tar­nung geht so weit, daß sie ihren weib­li­chen Rei­ze voll­kom­men negiert:

Als ihr Alpheus einst zu Lei­be gieng, so beschmie­re­te sie sich mit
den übri­gen Nym­phen das Gesicht der­ge­stalt mit Kothe, daß er sie
unter dem Hau­fen nicht ken­nen konn­te. (Ben­ja­min Hederich:

Gründ­li­ches mytho­lo­gi­sches Lexi­con. Leip­zig 1770. S. 909.)

Die Göt­ter im Olymp seuf­zen nicht sel­ten, wenn sie sie über­haupt zu Gesicht bekom­men, weil sie unent­wegt in den Wäl­dern umher­streift, wäh­rend sie sich statt­des­sen lie­ber wün­schen wür­den, daß sie doch nicht immer­zu jagen möge, son­dern sich den ›schö­ne­ren Din­gen‹ des Lebens end­lich auch ein­mal mehr wid­men soll­te. — Dia­na steht in kras­sem Wider­spruch zur Zivi­li­sa­ti­on, sie ist nicht von unge­fähr andau­ernd in der Gesell­schaft von Nym­phen. Dem Pan müß­te sie eigent­lich sehr zuge­tan sein, aber der Gott der Wild­nis ist sterb­lich, weil er im Zuge der Zivi­li­sa­ti­on sei­ne Macht ver­liert, seit es auf die­sem Glo­bus gar kei­ne Wild­nis mehr gibt.


Anthropologie der modernen Welt

Walter Crane: Die Rosse des Neptun. Neue Pinakothek München, Public Domain @ Wikimedia

Wal­ter Cra­ne: Die Ros­se des Nep­tun. Neue Pina­ko­thek Mün­chen, Public Domain @ Wiki­me­dia

Das multible Selbst

Die Göt­ter der Anti­ke sind wie die Stars unse­rer Tage, die Ster­ne von damals sind die Stern­chen von heu­te. Alle ihre ein­zel­nen Fähig­kei­ten, mit denen sie sich im Ver­lau­fe der Zeit ange­rei­chert haben, las­sen sich oft noch an den vie­len Bei­na­men erken­nen, es sind Spu­ren ver­ein­nahm­ter Häupt­lings­tü­mer, es sind die Gei­ster von Clans, Land­schaf­ten und Kul­tu­ren, die längst auf­ge­gan­gen sind im grö­ße­ren Gan­zen die­ser Göt­ter­ge­stal­ten. Gera­de Göt­ter ver­fü­gen über mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten, daher fällt es ihnen so leicht, in frem­der Gestalt auf­zu­tre­ten, um sich selbst dabei doch treu zu blei­ben. Daher beherr­schen sie das Spiel mit den Mas­ken. Beson­ders Zeus wech­selt ein ums ande­re Mal für Lie­bes­aben­teu­er äußerst spek­ta­ku­lär die eige­ne Gestalt: Er nähert sich sei­ner spä­te­ren Gat­tin Hera als durch­näß­ter, zit­tern­der Kuckuck, als Stier der Euro­pa, als Schwan der Leda, als gol­de­ner Regen der Danaë und um den Hera­kles zu zeu­gen, ver­wan­delt er sich in Amphi­try­on, den Gat­ten der Alkmene.

Göt­ter wie Zeus beherr­schen ein­fach die­ses bedeu­ten­de Kunst­stück, sich auch in frem­der Gestalt noch immer selbst treu zu blei­ben. Im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on wird nicht nur die Außen­welt, son­dern auch die Innen­welt immer wei­ter aus­dif­fe­ren­ziert. Mit der Zivi­li­sa­ti­on, Ratio­na­li­tät und Moder­ne geht daher stets auch ein Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se ein­her. Göt­ter haben uns dabei stets etwas vor­aus, sie ver­kör­pern die Idea­le, auf die es ankommt. Dem­entspre­chend läßt sich anhand der außer­or­dent­li­chen Fähig­kei­ten von Göt­ter die Zukunft der Psy­che able­sen. Das nun­mehr im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se anste­hen­de mul­ti­ple Selbst wird sei­ner­seits über die­se ent­schei­den­de gött­li­che Fähig­keit ver­fü­gen, sich anver­wan­deln zu können.

Die klas­si­schen Ein­wän­de dage­gen, das sei kei­ne Wahr­haf­tig­keit mehr, son­dern eben Insze­nie­rung, es sei kei­ne Authen­ti­zi­tät, son­dern nur Vor­spie­ge­lung im Spie­le, kön­nen nicht mehr ver­fan­gen. Wir haben nicht eine ein­zig wah­re Natur, das ein­zig ver­bind­li­che Selbst oder irgend­ei­ne fixier­te Iden­ti­tät in uns, die ehr­lich­keits­hal­ber nur zum Aus­druck gebracht wer­den muß, wäh­rend alles ande­re nur Lug und Trug sein wür­de. Die Fra­ge nach der Wahr­haf­tig­keit eines Got­tes, der eine Meta­mor­pho­se voll­zo­gen hat, ist unan­ge­bracht, es kommt dar­auf an, was sich in der Wahr­neh­mung ereig­net. Ent­schei­dend ist das Erle­ben, etwa einem Schau­spie­ler abneh­men zu kön­nen, was er vor­gibt zu sein.

Wir alle spie­len Thea­ter, was eben nicht bedeu­tet, daß es uns nicht ernst damit wäre. Das Mas­ken­spiel ist dabei mehr als nur eine aus­ge­zeich­ne­te Meta­pho­rik für das, was sich da eigent­lich ereig­net, es ist der Bruch mit der nai­ven Erwar­tung, daß wir immer die­sel­ben sind und es auch blei­ben. Wer eine Mas­ke auf­setzt, über­nimmt eine Rol­le, wird somit zu jemand Ande­ren, wech­selt also die Identität.

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