Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Urbanisierung der Seele

Philosophischer Salon

Philosophischer Salon

Literaturhaus im Prinz-Max-Palais

SS 2019 | donnerstags | 18:00–20:00 Uhr

Was­si­ly Kan­din­sky: Thir­ty (1937). Musée natio­nal d’art moder­ne, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Kul­tur ist ein Mit­tel, nicht ein­fach nur ver­rückt zu wer­den, ange­sichts der über­for­dern­den Kom­ple­xi­tät einer Welt, der wir als Indi­vi­du­en und auch als Gat­tung ziem­lich gleich­gül­tig sind. Es gilt, dar­über hin­aus zu gehen und Ordnung zu schaf­fen, also Bedeu­tun­gen. Kul­tur bie­tet Ori­en­tie­rung und Schutz, sie gewährt Erwar­tungs­si­cher­heit, basa­le Gefüh­le und die Erfah­rung, getra­gen sein von wie­der erkenn­ba­ren Struk­tu­ren, die ver­läß­lich sind.

Wir sind immer auf der Suche nach Sinn, weil sich dar­an das eige­ne Ori­en­tie­rungs­ver­mö­gen selbst wie­der ori­en­tie­ren läßt. Daher ist Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung von so gro­ße Bedeu­tung, denn Sinn ver­schafft Sicher­heit im Gei­ste, und das in einer Welt, die über­mäch­tig und eigent­lich auch unbe­herrsch­bar erscheint. Aber die Welt läßt sich in Geschich­ten ver­stricken, so daß wir uns wie an einem Ari­ad­ne­fa­den im Laby­rinth einer immer unüber­sicht­li­cher wer­den­den Welt ori­en­tie­ren kön­nen, obwohl wir sie als gan­ze gar nicht überschauen.

Lite­ra­tur­haus | Prinz-Max-Palais | Karl­stra­ße 10 | Karlsruhe

Men­schen sind Ori­en­tie­rungs­wai­sen. Jedes Tier ist voll­kom­men inte­griert in den ange­stamm­ten Lebens­raum. — Man möch­te anneh­men, daß ›die‹ Natur mit dem Men­schen das Spiel eröff­net hat, wie es wohl sei, ein Wesen zu erschaf­fen, das sich selbst ori­en­tie­ren kann. Inzwi­schen ist die Welt fast voll­stän­dig umge­baut wor­den. Schon bald wer­den zwei Drit­tel der Welt­be­völ­ke­rung in Städ­ten leben.

Der Anspruch, sich in die­sen künst­li­chen Wel­ten zu ori­en­tie­ren, steigt stän­dig. Zur Ori­en­tie­rung braucht es inzwi­schen Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung. Dabei soll gera­de auch die Indi­vi­dua­li­tät zum Zuge kom­men. — Die Zei­ten sind vor­bei, in denen tra­di­tio­nel­le Rol­len muster­gül­tig gelebt wer­den muß­ten, vor allem Geschlech­ter­iden­ti­tä­ten, die kei­nen Aus­bruch, kei­ne Abwei­chung, kei­ne Spe­ren­zi­en dul­de­ten. Immer weni­ger ›Sinn‹ ist vor­ge­ge­ben, was eben bedeu­tet, sich selbst zu orientieren.

Seit alters her wer­den ein­schlä­gi­ge Ant­wor­ten auf letz­te Fra­gen immer wie­der neu von den Mythen gege­ben, die das Kunst­stück beherr­schen, Welt­ver­trau­en und Zuver­sicht zu schaf­fen. Wie das geschieht, das soll mit immer wie­der neu­en Ein­sich­ten im Phi­lo­so­phi­schen Salon zur Erfah­rung gebracht wer­den. — Men­schen sind kos­mi­sche Wai­sen, aus­ge­setzt in dem Bewußt­sein, sich selbst beden­ken zu müssen.

16. Mai 2019 | Prof. Dr. Hans-Peter Schütt | Karlsruhe

Amor und Psyche

13. Juni 2019 | Dr. Joa­chim Ham­mann | Frankfurt

Die Hel­den­rei­se

4. Juli 2019 | Prof. Dr. Die­ter Birn­ba­cher | Düsseldorf

Über Mora­li­sie­rung

18. Juli 2019 | Prof. Dr. Phil­ipp Hübl | Berlin

Der Unter­grund des Denkens

25. Juli 2019 | Prof. Dr. Jan Söff­ner | Friedrichshafen

Kör­per und Geist

Jeweils 18:00–20:00 Uhr im Prinz-Max-Palais.
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Der Mensch als Maß?

Heinz–Ulrich Nen­nen: Der Mensch als Maß aller Din­ge? Über Prot­agoras, Pro­me­theus und die Büch­se der Pan­do­ra (Zeit­Gei­ster 1); tre­di­ti­on Ham­burg 2018. 232 S. – Paper­back 16,99 €, ISBN: 978–3‑7439–0090‑5. Hard­co­ver 26,99 € ISBN: 978–3‑7439–0091‑2. Erschei­nungs­da­tum: 11.12.2018.

Pan­do­ra ist das Abschieds­ge­schenk der abdan­ken­den olym­pi­schen Göt­ter, danach kommt nur noch der Mensch. Es soll­te kei­ne wei­te­re Dyna­stie von Göt­tern mehr geben. — Wir sind wer­den­de Göt­ter in einer Welt, die wir selbst erschaf­fen haben, für die wir auch ganz allein ver­ant­wort­lich sind. 

Mit sämt­li­chen gött­li­chen Gaben bedacht, ist Pan­do­ra die Alle­go­rie aller Ver­lockun­gen, wie sie nur zivi­li­sier­te Wel­ten bie­ten. Zugleich bringt sie auch alle damit ver­bun­de­nen Übel in die Welt. Um die Fra­ge nach dem War­um ran­ken sich seit­her vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen. Grund genug, sie erneut zu befra­gen, um ›unse­re‹ Ant­wor­ten zu finden.

Also wie gehen wir um mit unse­rer Sou­ve­rä­ni­tät in Fra­gen von Moral, Gefühl und Selbst­be­stim­mung? Der Weg führt vom ersten Gewis­sen bis zur mul­ti­plen Iden­ti­tät, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Gebor­gen­heit. — Inzwi­schen tra­gen wir die Göt­ter in uns.

Die Rei­he Zeit­Gei­ster ist der Psy­cho­ge­ne­se gewid­met, denn Ori­en­tie­rungs­wis­sen ist von zuneh­men­der Bedeu­tung. Es geht um die neu­en Per­spek­ti­ven einer Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie, die in den Mei­ster­er­zäh­lun­gen ein uraltes Ori­en­tie­rungs­wis­sen fin­det, das über­ra­schend aktu­ell ist.

Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Prot­agoras von Sokra­tes um Erläu­te­rung gebe­ten wird, was man denn nun gegen teu­res Geld bei ihm erler­nen kön­ne, dann zeigt sich ein tief­grei­fen­der Wan­del. — Nicht ein­mal mehr die Ein­füh­rung ins Erwach­se­nen­le­ben gehorcht noch der Tra­di­ti­on der Jäger. Die Kul­tur in den Städ­ten setzt eige­ne Maß­stä­be und bespie­gelt sich dabei selbst. Frag­lo­se Maß­stä­be sind nicht mehr vor­han­den: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

Prot­agoras erläu­tert anhand des Mythos von Pro­me­theus, es mang­le nicht an der nöti­gen Tech­nik, Städ­te zu errich­ten. Allein sie zu hal­ten, sei schier unmög­lich gewe­sen. — In der Tat muß­te die drin­gend gebo­te­ne Kunst der Poli­tik eigens von Her­mes im Auf­trag­des Zeus nach­ge­reicht wer­den. Und er, der Sophist, ver­mitt­le genau­die­se vakan­ten Kompetenzen.

Poli­tik ist die Kunst, stän­dig gegen­zu­steu­ern, wenn Gesell­schaf­ten wie­der ein­mal aus irgend­ei­nem Gleich­ge­wicht gera­ten. Die eigent­li­che ›Wild­nis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städ­ten. — Seit­her muß also ›stu­diert‹ wer­den. Dann ist es durch­aus mög­lich, Kar­rie­re zu machen, auch ohne von Adel zu sein.
Pan­do­ra ist das Abschieds­ge­schenk der abdan­ken­den olym­pi­schen Göt­ter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämt­li­chen gött­li­chen­Ga­ben bedacht, ist sie die Alle­go­rie aller Ver­lockun­gen, wie sie nurz­i­vi­li­sier­te Wel­ten bie­ten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vor­her nicht waren. — Um die Fra­ge nach dem War­um ran­ken sich seit­her vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen. Grund genug, sie erneu­tzu befra­gen, um ›unse­re‹ Ant­wor­ten zu finden.

Phi­lo­so­phie kommt auf, wo Göt­ter schlecht gedacht wer­den. So ent­steht all­mäh­lich Sou­ve­rä­ni­tät in Fra­gen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewis­sen bis zur mul­ti­plen Iden­ti­tät, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.

Die Rei­he Zeit­Gei­ster ist der bis­her kaum bedach­ten Psy­cho­ge­ne­se gewid­met, dabei ist Ori­en­tie­rungs­wis­sen von zuneh­men­der Bedeu­tung. Es geht um die neu­en Per­spek­ti­ven einer Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie, die in Zwei­fels­fäl­len immer wie­der auf die Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung durch Phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie zurück­grei­fen kann.

Alle Bän­de der Rei­he Zeit­Gei­ster erschei­nen bei tre­di­ti­on – wer­den aber auch hier suk­zes­si­ve zum Down­loads freigegeben.


Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

Der zerbrochene Spiegel 

Wir wis­sen nicht, was Nar­ziß auf der spie­geln­den Was­ser­ober­flä­che gese­hen haben mag. Der Mythos vom Nar­ziß the­ma­ti­siert weit mehr als den dumm­drei­sten Nar­ziß­mus eines Selbst­ver­lieb­ten; wäre dem so, der Nar­ziß wäre kaum der Rede wert. — Tat­säch­lich geht es um etwas ande­res: Das Geheim­nis mensch­li­chen Bewußt­seins, das sich selbst spie­gelt, um sich sei­ner selbst gewiß zu wer­den, ist erst der Anfang einer lan­gen Rei­se ins eige­ne Innere.

Die bei­den Haupt­fi­gu­ren in die­sem Mythos haben bemer­kens­wer­te Han­di­kaps, so daß sie ein­an­der nicht begeg­nen kön­nen. Alles beginnt mit der Nym­phe Echo, die von Zeus ani­miert wor­den ist, Hera nach Art der Sche­he­re­za­de mit unend­li­chen Geschich­ten von den Amou­ren des Gemahls abzu­len­ken, ins­be­son­de­re wenn die­ser wie­der ein­mal bei den Nym­phen weilt. Die oft rasend eifer­süch­ti­ge Hera ist bereits im Begriff, ihren Gat­ten in fla­gran­ti zu über­füh­ren, aber die geschwät­zi­ge Echo hält sie davon ab, indem sie wei­ter und wei­ter redet.

Nach­dem Hera das Spiel durch­schaut hat, bestraft sie Echo, die nun­mehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aus­sagt. Es wird der Nym­phe genom­men, was sie miß­braucht hat, um die Göt­tin hin­ters Licht zu füh­ren: Hera nimmt ihr die Fähig­keit eige­ner Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus spre­chen, son­dern nur wie­der­ho­len kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fort­an gar nicht mehr spre­chen, es bleibt ihr nur noch, die letz­ten Wor­te ledig­lich zu wie­der­ho­len, — ein fata­les Han­di­kap, ins­be­son­de­re wenn sie dem Nar­ziß ihre Lie­be geste­hen will.

Eines Tages wird Nar­ziß auf der Jagd von sei­nen Gesel­len getrennt. Er gerät in eine son­der­ba­re Land­schaft am Heli­kon, die von der Nym­phe Echo beseelt wird. Sobald die­se den jun­gen Mann erblickt, wird sie sogleich in Lie­be erglü­hen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Lie­be zu geste­hen. Also folgt sie ihm heim­lich, um ihm bei Gele­gen­heit näher zu kommen…


Veröffentlichungen

Verzeichnis der Veröffentlichungen

PDF: Ver­zeich­nis der Veröffentlichungen


Vorlesungen und Seminare


Psychodizee

Ernst-Klimt-Pan-troestet-Psyche-1892

Ernst Klimt: Pan trö­stet Psy­che. Pri­vat­be­sitz. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Die Recht­fer­ti­gung der Gesell­schaft und die Bela­stung des Ein­zel­nen gehen Hand in Hand. Aber das Skan­da­lon bleibt: Die Welt ist schlecht ein­ge­rich­tet und unge­recht, vor allem, wo sie doch gar nicht mehr von einem Schöp­fer­gott, son­dern ein­zig und allein von Men­schen zu ver­ant­wor­ten ist. Die Theo­di­zee ist zur Sozio­di­zee gewor­den und auf die­se folgt nun die Psy­cho­di­zee. Auf die Ankla­ge Got­tes und dem Ver­such sei­ner Recht­fer­ti­gung, folg­te zunächst die Ankla­ge der Gesell­schaft und schluß­end­lich die Bela­stung der Psy­che. — So kehrt die Höl­le im Inne­ren wie­der zurück, wir berei­ten sie uns für­der­hin selbst. Es ist, als habe sich seit Jahr­hun­der­ten kaum etwas wirk­lich ver­än­dert in den Tie­fen unse­res Selbst. Und so zeigt sich dann, war­um die Angst vor dem Jüng­sten Gericht und vor der Höl­le bis in die Gegen­wart hin­ein noch immer eine so gro­ße Rol­le spielt.

Die alles ent­schei­den­den Fra­gen wer­den inzwi­schen syste­ma­tisch über­gan­gen, etwa die, wer uns nach dem Tod Got­tes noch unse­re ›Sün­den‹ ver­gibt, wenn und wo wir es selbst noch immer nicht kön­nen. Das wie­der­um bringt zuneh­men­de Bela­stun­gen für die Psy­che mit sich, wor­auf nun ver­stärkt mit dem Ein­satz von Psy­cho­phar­ma­ka reagiert wird. Es ist aber ver­hee­rend, über die­se Höhen und Tie­fen ein­fach hin­weg­zu­ge­hen, denn dann wird fast schon wie im Mär­chen auch noch die eige­ne See­le ver­kauft. — Wo die eige­nen Gefüh­le syste­ma­tisch mani­pu­liert wer­den, dort fal­len wei­te­re Anpas­sungs­lei­stun­gen bis hin zur Gewis­sen­lo­sig­keit immer leich­ter. Unge­hemmt kommt dann die für so vie­le Spar­ten obli­ga­to­ri­sche Skru­pel­lo­sig­keit zum Zuge, als Aus­hän­ge­schild einer nega­ti­ven Iden­ti­tät, deren Ethos dar­in besteht, kei­nes zu haben.

Es ist bestechend, wie Max Weber mit spe­ku­la­ti­ven Beschrei­bun­gen die­ser Ten­den­zen sei­ner­zeit schon die mög­li­chen Vari­an­ten der wei­te­ren Ent­wick­lung ein­zu­krei­sen ver­stand. Sol­che Vor­her­sa­gen über lang­fri­sti­ge gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen sind sehr wohl mög­lich und haben nichts mit Pro­phe­tie zu tun. Nun hat sich Max Weber dabei auf Nietz­sche gestützt, und wir dürf­ten den bei­den Den­kern daher erschei­nen, wie jene letz­ten Men­schen, von denen im Zara­thu­stra die Rede ist. Es ist die schlech­te­ste aller mög­li­chen Ent­wick­lungs­va­ri­an­ten, mit denen nicht nur Nietz­sche son­dern auch Weber und Freud bereits rechneten.

Wir wer­den also dem ›letz­ten Men­schen‹ tat­säch­lich immer ähn­li­cher? Eines ist jeden­falls gewiß, wir sind sehr viel näher dran, als es noch in der Epo­che von Fried­rich Nietz­sche, Max Weber und Sig­mund Freud mög­lich gewe­sen wäre. Man­che der Fort­schrit­te dürf­ten daher in Wirk­lich­keit eher Rück­schrit­te gewe­sen sein. — Was bei Weber das stäh­ler­ne Gehäu­se der Hörig­keit aus­macht, schil­dert Nietz­sche als Zukunfts–Diagnose im Zara­thu­stra und Freud sieht die Bela­stungs­gren­zen der Psy­che voraus.

Schluß­end­lich kommt es zum Zynis­mus und zur Bor­niert­heit die­ser ›letz­ten Men­schen‹, die allen Ern­stes von sich behaup­ten, das Glück erfun­den zu haben, wohl­ge­merkt, nicht ge– son­dern erfun­den, und genau­so sieht es dann auch aus, die­ses Glück in aller gei­sti­gen Beschei­den­heit: »Wir haben das Glück erfun­den« — sagen die letz­ten Men­schen und blin­zeln, heißt es in Zara­thu­stras Vorrede.

Kör­per, Psy­che, See­le und Geist, alles scheint aufs bequem­ste zurecht gerückt wor­den zu sein. Und man möch­te glau­ben, alles sei das­sel­be. Da wird dann die Psy­che zum stö­ren­den Bei­werk, um von See­le und Geist ganz zu schwei­gen. Wir sind eine rein tech­nisch unver­schämt erfolg­rei­che Spe­zi­es von Raub­af­fen, die inzwi­schen nur noch das Kör­per­li­che gel­ten las­sen. Woher soll da noch der Geist kom­men? — Nietz­sche rech­net mit dem Zeit­geist der Moder­ne ab.

Die unge­heu­er­li­che Pro­phe­tie ist längst zum Klas­si­ker gewor­den, so daß eine jede Zeit, die spät gewor­den ist, ihr Spie­gel– und Zerr­bild dar­in wie­der­fin­den kann:

Man hat sein Lüst­chen für den Tag und sein Lüst­chen für die Nacht: 

aber man ehrt die Gesundheit. 

»Wir haben das Glück erfun­den« — sagen die letz­ten Men­schen und blinzeln.


Wenn seelenlose Sachen zum Leben erwachen

Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia. Pygmalion, ein Künstler in Zypern, ist maßlos enttäuscht von den Frauen und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Unbewußt erfüllt er sich seinen Traum durch eine von ihm erschaffene Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht und dabei seinem Ideal entspricht. Das Abbild behandelt er mehr und mehr wie einen echten Menschen und schließlich verliebt er sich in seine Kunstfigur. Zypern ist die Heimat von Venus, daher fleht der Künstler die Göttin der Liebe an ihrem Festtag inbrünstig an, wenn schon seine Statue nicht zum Menschen werden könne, so sei ihm wenigstens vergönnt, daß seine künftige Frau so sei wie diese. — Als er dann aber von den Feierlichkeiten für die Göttin wieder nach Hause zurückkehrt und die Elfenbeinstatue zu liebkosen beginnt, erwacht diese langsam zum Leben.

Jean–Léon Gérô­me: Pyg­ma­li­on et Gala­tée. Metro­po­li­tan Muse­um of Art, New York. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Pyg­ma­li­on, ein Künst­ler in Zypern, ist maß­los ent­täuscht von den Frau­en und lebt nur noch für sei­ne Bild­haue­rei. Unbe­wußt erfüllt er sich sei­nen Traum durch eine von ihm erschaf­fe­ne Elfen­bein­sta­tue, die wie eine leben­di­ge Frau aus­sieht und dabei sei­nem Ide­al ent­spricht. Das Abbild behan­delt er mehr und mehr wie einen ech­ten Men­schen und schließ­lich ver­liebt er sich in sei­ne Kunstfigur.

Zypern ist die Hei­mat von Venus, daher fleht der Künst­ler die Göt­tin der Lie­be an ihrem Fest­tag inbrün­stig an, wenn schon sei­ne Sta­tue nicht zum Men­schen wer­den kön­ne, so sei ihm wenig­stens ver­gönnt, daß sei­ne künf­ti­ge Frau so sei wie die­se. — Als er dann aber von den Fei­er­lich­kei­ten für die Göt­tin wie­der nach Hau­se zurück­kehrt und die Elfen­bein­sta­tue zu lieb­ko­sen beginnt, erwacht die­se lang­sam zum Leben.

***

Es ist aus­schließ­lich das Pri­vi­leg der Göt­ter, dem was leben soll, die See­le ein­zu­hau­chen. Im Sin­ne der magi­schen Welt­auf­fas­sung kön­nen See­len aller­dings beein­flußt wer­den. Gleich­wohl zielt der hin­ter alle­dem ver­bor­ge­ne Wunsch­traum zielt genau dar­auf ab, die­se Dif­fe­renz­zwi­schen Vor­stel­lung und Wirk­lich­keit immer klei­ner wer­den zu las­sen. — Bei aller Mühe, erscheint es dann wie ulti­ma­ti­ves Künst­ler­glück, wenn die Wer­ke tat­säch­lich täu­schend echt wir­ken oder viel­leicht sogar zum Leben erwachen.

Dar­auf zie­len letzt­lich sowohl die Magie, als auch die Kunst und die Phi­lo­so­phie: Es gilt, das abso­lu­te Wort, das ulti­ma­ti­ve Werk oder die voll­kom­me­ne Ein­sicht zu fin­den, zu schaf­fen oder zu rea­li­sie­ren. Die­ser nicht sel­ten mit Hybris ein­her­ge­hen­de Wil­le zum Werk legt es tat­säch­lich dar­auf an, daß sich die Sachen von selbst ›bewe­gen‹ und tat­säch­lich zu leben begin­nen. Auch der Traum des Phä­no­me­no­lo­gen steht dem in nichts nach: Mögen die Sachen von sich aus zu spre­chen begin­nen, so daß wir nicht mehr mit Unter­stel­lun­gen, Annah­men und Ver­mu­tun­gen arbei­ten müs­sen, son­dern ein­fach nur zuhö­ren, zuse­hen und mit­er­le­ben können.

ean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

Jean–Léon Gérô­me: Pyg­ma­li­on et Gala­tée. Metro­po­li­tan Muse­um of Art, New York. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Hybris, das bedeu­tet Grenz­über­schrei­tung und zwar in einem über­aus magi­schen Sin­ne, etwa wenn eine eigent­lich unbe­seel­te Pup­pe wie Pinoc­chio, eine Skulp­tur wie die Gala­tée des Pyg­ma­li­on oder wenn ein Kunst­werk wie Das Bild­nis des Dori­an Gray zum Leben erwacht. Auch das ent­ge­gen­ge­setz­te Ver­fah­ren ist hoch pro­ble­ma­tisch, etwa wenn die See­le in ihrer emo­tio­na­len Beweg­bar­keit, in der sie eben ›gerührt‹ wer­den kann, ein­fach aus­zu­schal­ten, wenn sie durch einen kal­ten Stein ersetzt wird, wie in Das kal­te Herz von Wil­helm Hauff — Mit alle­dem gehen größ­te Befürch­tun­gen ein­her, die kos­mi­sche Ord­nung könn­te fun­da­men­tal gestört und viel­leicht sogar zer­stört wer­den. Es sind womög­lich bald schon kei­ne Ein­zel­fäl­le mehr, wenn so etwas auch nur ein ein­zi­ges Mal unge­straft mög­lich gewor­den ist.

Die Fas­zi­na­ti­on bei der Vor­stel­lung über die Macht magi­scher Wor­te ver­kehrt sich in gera­de Gegen­teil ange­sichts der Hor­ror­vor­stel­lun­gen, die sich sogleich ankün­di­gen, wenn auch nur einen Augen­blick dar­an gedacht wird, so etwas könn­te tat­säch­lich und wirk­lich mög­lich sein. Nicht nur die Gren­ze zwi­schen Wunsch und Wirk­lich­keit wäre dann nicht mehr von Bedeu­tung. Damit aber wür­den fun­da­men­ta­le Ori­en­tie­rungs­wei­sen unmög­lich gemacht, so daß sich zeigt, wor­um es bei sol­chen Hor­ror­vor­stel­lun­gen wirk­lich geht: Wo Arte­fak­te leben­dig wer­den, wo Sachen selbst zu spre­chen begin­nen, wo fun­da­men­ta­le Gren­zen nicht mehr gel­ten, dort wür­de die Ord­nung der Din­ge bis in die Fun­da­men­te erschüttert.

Es geht dabei aller­dings weit weni­ger um die Natur der Sachen selbst, als viel­mehr um den Bestand der Kul­tur. Alle rele­van­ten Ori­en­tie­rungs­mu­ster set­zen auf sol­che Unter­schei­dun­gen, daher kann es gar nicht denk­bar sein, daß die Gren­zen zwi­schen dem Leben­den und dem Toten, dem Unbe­seel­ten und dem Beseel­ten oder zwi­schen dem Künst­li­chen und dem Natür­li­chen nach Belie­ben über­schrit­ten wer­den. Das ist dann auch der Grund für das Grau­en, den Abscheu aber auch die Fas­zi­na­ti­on und das heim­li­che Inter­es­se an der Magie als schwar­ze Wis­sen­schaft oder auch ein­fach nur als Zauberkunst.

Aus­zug aus: https://​www​.nen​nen​-online​.de/​e​m​p​a​t​h​ie/


Das erschöpfte Selbst

Lucas Cra­nach der Älte­re: Melan­cho­lie. Natio­nal­ga­le­rie,
Kopenhagen.<fn>Public domain via Wiki­me­dia Commons.</fn>

Erläuterungen zur Psychogenese


Der Hafen–Philosoph

Gedanken aus einem
indianischen Winnebago an Münsters Hafenufer

Von Tobi­as Wink­ler, wink­ler­wir­red

Der Karls­ru­her Hoch­schul­leh­rer für Phi­lo­so­phie, Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen, steht regel­mä­ßig mit sei­nem ame­ri­ka­ni­schen Wohn­mo­bil in Mün­sters Hafen. Denn das Leben dort schreibt sei­ne Vor­le­sun­gen. In den Pau­sen lädt er als „ambu­lan­ter Phi­lo­soph“ zur klei­nen Den­ker­run­de übers Denken.

In den frü­hen Mor­gen­stun­den, so gegen fünf Uhr, da fin­det er es hier am schön­sten. „Wenn sich der Hafen im glat­ten, stil­len Was­ser spie­gelt“, erzählt er ver­träumt, „da erlebt man die­sen klei­nen Mikro­kos­mos gleich dop­pelt.“ In die­se „klei­ne eige­ne Welt“ zie­he er sich seit fast vier Jah­ren ger­ne zurück. Heinz-Ulrich Nen­nen arbei­tet als Hoch­schul­leh­rer an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he. Aber sein mobi­les Büro steht immer wie­der an Mün­ster Hafenufer.

Ein ame­ri­ka­ni­scher „Win­ne­bago“. Es ist ein groß­räu­mi­ges, sil­ber­nes Wohn­mo­bil: Bau­jahr 1988, mehr als elf Meter lang, geparkt direkt am Kanal­ufer gegen­über der bun­ten Gastro- und Fla­nier­mei­le des alten Mün­ste­ra­ner Indu­strie­ha­fens. Es ist ein schö­nes, statt­lich aus­ge­bau­tes Modell mit allem Schnick und Schnack an Bord. „Ich will mich hier kom­plett hei­misch füh­len und auf nichts ver­zich­ten“, erklärt Heinz-Ulrich Nen­nen. „Ich habe lan­ge nach die­sem Wohn­mo­bil gesucht. Es ist das ein­zi­ge Modell, das die­sen Luxus bie­tet.“ Nun ist der Win­ne­bago sein „klei­nes Denk­bü­ro“, wie er ihn lie­be­voll nennt. Er ist sein mobi­les Schneckenhaus.

Fertighaus auf Rädern

Oft steht die­ses nahe­zu sta­tio­när wie ein Fer­tig­haus auf Rädern auf den aus­ge­dien­ten Glei­sen neben einem alten Hafen­kran, der längst demon­tiert ist und an ein reges Leben der Hafen­ar­bei­ter erin­nert. Oder im Wohn­mo­bil­ha­fen eines benach­bar­ten Cam­ping­plat­zes. Denn das mäch­ti­ge Gefährt frisst zu viel Sprit, um dar­in stän­dig unter­wegs zu sein. Will Nen­nen wirk­lich mobil sein, steigt er auf ein ande­res Ver­kehrs­mit­tel um. In Mün­ster selbst ist er oft mit dem Fahr­rad oder dem Auto unter­wegs. „Nur zu Fuß gehe ich ungern“, fügt er hin­zu. Geht es wei­ter weg, nimmt er die Bahn. Bis ins süd­li­che Karls­ru­he sind es immer­hin mehr als vier­hun­dert Kilo­me­ter, die Nen­nen – zumin­dest in der war­men Jah­res­zeit – nahe­zu jede Woche zurück­legt. Die Hälf­te der Woche phi­lo­so­phiert er mit sei­nen Stu­den­ten, die ande­re Hälf­te sucht er neu­es phi­lo­so­phi­sches Fut­ter am mün­ster­schen Kanalufer.

„Gegen halb sechs bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Ganz lang­sam kommt sie her­ein“, führt er fort. „Man kann zuschau­en, wie sie kommt, vor­bei­läuft, vom ande­ren Ende wie­der zurück­kommt – und dann geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Wor­te mit sei­ner tie­fen, ein­fühl­sa­men Stim­me poin­tiert betont vor­trägt. Dabei tippt Heinz-Ulrich Nen­nen mit sei­nen Fin­gern gefühl­voll eini­ge Töne in die Luft. Es scheint als diri­gie­re er sei­ne Gedan­ken, es scheint als spie­le er auf sei­nem Luft­kla­vier die Melo­die des mün­ster­schen Hafenlebens.

Sehnsucht nach Stille

Dabei mag man eine gewis­se Sehn­sucht nach Stil­le in sei­nen dun­kel­grü­nen, stets offe­nen Augen erken­nen. Aber Nen­nen ist kei­ner, der das Leben scheut. An die­sem Tag kommt er gera­de vom Haupt­bahn­hof. Er war den gan­zen Tag über auf einer Phi­lo­so­phen-Tagung in Essen. Erst seit weni­gen Minu­ten ist er „zuhau­se“. Er sitzt an sei­nem klei­nen Schreib­tisch. Den Fuß­bo­den unter ihm ziert echt anmu­ten­des Buchen-Lami­nat. Zwi­schen den Fen­stern hän­gen gol­di­ge Lam­pen­hal­ter mit Falt­schirm­chen, dane­ben bau­meln klei­ne Stoff-Gar­di­nen und an den Wän­den hän­gen Schrän­ke in Eiche mas­siv. Ein biss­chen US-gelei­te­ter Bie­der­mei­er, ein wenig moder­ne Spät­ro­man­tik oder doch deut­sche Hoch­klas­sik? Der Ein­rich­tungs­stil ist nicht gleich klar.

„Die Wohn­mo­bi­le wer­den von den Nach­kom­men der India­ner gebaut“, berich­tet Nen­nen. „Eigent­lich bin ich kein Eiche-Mas­siv-Typ. Ich ste­he eher auf unter­kühl­te Moder­ne mit Selbst­iro­nie.“ Auch wenn die Innen­ein­rich­tung durch­aus ande­res erah­nen lässt, äußer­lich hat Nen­nen offen­bar das per­fek­te Heim gefun­den: Der india­ni­sche Win­ne­bago erin­nert in sei­ner Form an ame­ri­ka­ni­sche Kühl­schrän­ke. Die­se klo­bi­gen, bun­ten oder metall-far­be­nen, rund­lich-abge­run­de­ten, quad­er­för­mi­gen Exem­pla­re, die nicht für die Mon­ta­ge in der gut bür­ger­li­chen west­fä­li­schen Ein­bau­kü­che geeig­net sind. Sie müs­sen frei ste­hen. Und damit das Bild voll­ends per­fekt ist, müss­ten Magne­te an allen Sei­ten haf­ten. Mit Notiz-Zet­tel­chen, Fotos und Erin­ne­run­gen der schnelllebi­gen Welt dort drau­ßen. Aber, so Nen­nen: „Ent­schei­dend für den ame­ri­ka­ni­schen Auto­mo­bil­bau war die Eisen­bahn und für die­se wie­der­um der Schiffs­bau. Dort hat sich das Auto nicht aus der Kut­sche, son­dern aus dem Wag­gon­bau ent­wickelt. Daher ist die Spur, sind die Wagen brei­ter und grö­ßer als in Alt-Europa.“

„Ich kann hier zehn Tage lang autark leben.“

Nen­nen kennt sein Gefährt – und er legt Wert auf eine gepfleg­te Erschei­nung. Das ist das erste, was auf­fällt. Der Hafen-Phi­lo­soph trägt aus­schließ­lich schwarz. Aus dem Aus­schnitt des wol­li­gen Knopf-Pul­lis suchen sich dunk­le Brust­haa­re ihren Weg ans Tages­licht. Mit weit geöff­ne­ten Augen schaut er über sei­nen grau-melier­ten Voll­bart hin­weg. Auch in sei­nem dunk­len Haar schim­mern immer wie­der hel­le­re, manch­mal dün­ne­re, manch­mal dicke­re Sträh­nen. Er kocht Tee und erzählt. Auf dem für ein Wohn­mo­bil durch­aus gro­ßen Tisch steht noch das letz­te, nicht ganz aus­ge­trun­ke­ne Rot­wein­glas, direkt dane­ben die aus­ge­brann­ten Tee­lich­ter von ver­gan­ge­ner Nacht. Es war eine der län­ge­ren Näch­te. Die kom­men häu­fi­ger vor.

Dann sitzt der Phi­lo­soph immer an sei­nem schwar­zen IBM-Lap­top und beob­ach­tet durch die gut geputz­ten Fen­ster­schei­ben die Welt außer­halb sei­nes mobi­len Denk­bü­ros. Schnell erkennt man: Nen­nen ist kein Cam­per. Auch nicht der Typ, der roman­tisch am Lager­feu­er grillt. Nen­nen ist viel­mehr ein Feld­for­scher mit mobi­lem Wohn­bü­ro – aus­ge­stat­tet mit UMTS-Lap­top, Satel­li­ten-TV, Navi­ga­ti­ons-Touch­screen, Schlaf­zim­mer, Dusche und eige­nem Strom­ge­ne­ra­tor. Außer Spül- und Wasch­ma­schi­ne ist alles an Bord. Nen­nen: „Ich kann hier zehn Tage lang aut­ark leben. Dann sind die Wasser‑, Gas- und Ben­zin­tanks leer.“

Partygänger am anderen Ufer

Aus die­sen eige­nen vier, siche­ren und mobi­len, Wän­den beob­ach­tet er in dunk­len Näch­ten die Par­ty­gän­ger auf der ande­ren Ufer­sei­te des Kanal­ha­fens. Er schaut, wie die Men­schen an ver­schie­de­nen Wochen­ta­gen gehen oder wie sie in Gesprä­chen gesti­ku­lie­ren. Dann denkt er sich Geschich­ten dazu aus. „Die Men­schen gehen jeden Tag anders“, berich­tet er. „Am Sonn­tag fla­nie­ren sie gelas­sen an den Cafés und Knei­pen vor­bei. Sehen und gese­hen wer­den – das ist wie auf der Pro­me­na­de in Vene­dig.“ Wochen­tags hin­ge­gen sei der Gang hek­ti­scher. Die Leu­te sei­en dann gar nicht dort, wo sie gera­de sind, son­dern in Gedan­ken bereits sehr viel wei­ter. „Sie neh­men die Umge­bung gar nicht rich­tig wahr, weil sie nur Distan­zen über­win­den. Das ist beim Fla­nie­ren ganz anders.“

Sein phi­lo­so­phi­sches Denk­werk hat Heinz-Ulrich Nen­nen an der West­fä­li­schen-Wil­helms-Uni­ver­si­tät in Mün­ster gelernt. Bereits im Teen­ager-Alter tauch­te der gebür­ti­ge Rhei­nen­ser in der Dom­stadt auf, er ging hier zur Schu­le, stu­dier­te und pro­mo­vier­te vor knapp zwan­zig Jah­ren an der phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät. „Mit sum­ma cum lau­de“, betont er nicht arro­gant oder prot­zend, aber durch­aus wis­send. Wohl wis­send und bedacht um den gesell­schaft­li­chen Dok­to­ren-Sta­tus, aber durch­aus mit der Lebens­er­fah­rung, dass ein „Dr.“ im Lebens­lauf nicht all­mäch­tig macht. Nach sei­ner Pro­mo­ti­on dach­te er, die Arbeits­welt reißt sich um ihn. Aber sie dreh­te sich auch ohne ihn weiter.

Atomkraftwerke und Klimawandel

Die erste Zeit war er arbeits­los und auf der Suche. Dann unter­rich­te­te er an der Dort­mun­der Fach­hoch­schu­le für öffent­li­che Ver­wal­tung ange­hen­de Poli­zi­sten in Ethik und forsch­te für zehn Jah­re für die Stutt­gar­ter Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung rund um die Aus­wir­kun­gen der Atom­kraft und des Kli­ma­wan­dels. Zwei The­men, die den gesell­schafts­po­li­ti­schen Dis­kurs bis heu­te prä­gen. „Sie waren bereits in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren ein bren­nen­des phi­lo­so­phi­sches The­ma“, erzählt Nen­nen. Schließ­lich habi­li­tier­te er über die Slo­ter­di­jk-Debat­te: „Das war Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Ich habe alles aus dem Moment her­aus ana­ly­siert. Ein phi­lo­so­phi­schen Expe­ri­ment, um zu zei­gen, dass so etwas mög­lich ist.“

Die­ses Prin­zip hat er sich bis heu­te zu eigen gemacht. Es sind immer wie­der klei­ne Momen­te und win­zi­ge Augen­blicke des All­tags und deren Men­schen, die ihn inspi­rie­ren. Sie sind ein klei­ner Teil eines phi­lo­so­phi­schen Ana­ly­se-Patch­works. „Ich schrei­be mei­ne Vor­le­sun­gen jede Woche neu“, erklärt er. Es geht immer um das, was ihn gera­de treibt – und um das, was sich um ihn her­um in Mün­sters Hafen treibt. Wis­sen­schaft­lich aus­ge­drückt: „Empa­thie“, „Psy­che“, „Selbst­ver­stän­di­gung“, „Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie“ oder „Psy­cho­ge­ne­se“. Das sind die Berei­che, die Nen­nen in For­schung und Leh­re der Karls­ru­her Uni haupt­säch­lich übernimmt.

„Der Hafen ist unberechenbar.“

Zwi­schen­durch grü­ßen Spa­zier­gän­ger und Hafen­mei­ster. Die Leu­te hier ken­nen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohn­mo­bil beob­ach­tet er das Trei­ben, kommt ins Den­ken und fin­det den Stoff für sei­ne Stu­den­ten. Nen­nen: „Der Hafen ist unbe­re­chen­bar. Mal sind Schwim­mer im Was­ser, dann sind Tri­ath­lon-Wett­be­wer­be. Mal ist Hafen­fest, dann legt die ‚MS Wis­sen­schaft‘ an, um Baum­stäm­me zu ver­la­den. Mal setzt die Hal­le Mün­ster­land still­ge­leg­te Gleis­ma­schi­nen für eine Aus­stel­lung auf die alten Schie­nen, dann kommt plötz­lich doch noch ein Güter­zug.“ Dabei sind die Glei­se neben dem alten Hafen­kran seit Jah­ren längst ver­waist. Als grün ver­wach­se­ne, rostig-röt­li­che Lini­en zie­hen sie sich unter Nen­nens Wohn­mo­bil her. Sie füh­ren die Spa­zier­gän­ger und ihre Hun­de und wei­sen ihnen einen gerad­li­ni­gen, par­al­le­len Weg zum wel­li­gen Was­ser im Hafenbecken.

Es ist wohl die Abwechs­lung, das stän­dig Neue, was der Phi­lo­soph braucht. Vor allem ist es aber das Unvor­her­seh­ba­re und das Unvor­her­ge­se­he­ne. Das scheint ihn in sei­ner Phi­lo­so­phie anzu­trei­ben. Dazu gehört auch der gewohn­te, aber nicht zwangs­läu­fi g gleich­mä­ßi­ge Takt der Tanz­jün­ger im „Hea­ven“, einem Sze­ne­club, der eini­ge Dut­zend Meter Luft­li­nie ent­fernt am ande­ren Ufer des Kanals liegt. Wenn Nen­nen am Wochen­en­de oder nach Mün­sters stu­den­ti­schem Par­ty­mitt­woch spät nachts in sei­nem Denk­bü­ro hockt, hört er wie sie den Beat zur frü­hen Tages­stun­de erhö­hen. Unwill­kür­lich denkt er an Kin­der von Fließ­band­ar­bei­tern: „Die­ser Sound wirkt, als such­ten sie das Band als Lebens­rhyth­mus. Um drei Uhr wird immer der Arbeits­takt erhöht.“

„Ich brauche den Rummel.“

Aller­dings nicht nur bei den Tän­zern – auch im Wohn­mo­bil: „Ich brau­che den Rum­mel um mich her­um. Der inspi­riert mich“, bestä­tigt Nen­nen. Nach­denk­lich stützt er den Kopf auf die Hand. Irgend­wann ist es dann wie­der fünf Uhr, dann ist es sechs. Er schaut aus dem klei­nen Fen­ster sei­nes Win­ne­bagos. Irgend­wann kehrt Ruhe ein, dann bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Heinz-Ulrich Nen­nen krault durch sei­nen ergrau­ten Bart. Sie kommt, läuft vor­bei, kehrt vom ande­ren Ende wie­der zurück. Sie kommt, sie geht und haucht dem klei­nen Hafen­kos­mos Leben ein. Nen­nen trinkt einen Schluck Tee. Da ist sie, die näch­ste Idee.

Szenenwechsel

Es ist nicht ganz zwölf Mona­te spä­ter. Dies­mal ver­ab­re­den wir uns am ande­ren Ufer des Hafens gegen­über von Nen­nens Wohn­mo­bil. Bes­ser gesagt: gegen­über vom gewohn­ten Platz des Win­ne­bagos. Denn der steht an die­sem Tag nicht dort. Nen­nen hat an die­sem Tag im nahen Fues­trup am Kanal­über­gang einen ande­ren Hafen für sein Denk­bü­ro gefun­den. Die­ser klei­ner Umstand hält ihn aller­dings kei­nes­wegs vom Den­ken ab. Ganz im Gegenteil.

An einem Gelän­der schließt Heinz-Ulrich Nen­nen sein gemüt­li­ches Fahr­rad ab. Der Rah­men hat eine äußerst außer­ge­wöhn­li­che Form. Das ele­gant, leich­te Modell erin­nert an Omas altes Hol­land­rad, aber irgend­wie hat es auch etwas von einem die­ser moder­nen Crui­ser-Bikes. Der Rah­men aus gera­dem, schwar­zen Rohr ist mehr­fach ver­strebt. Sei­ne Win­kel bil­den die Sil­hou­et­te eines schwe­ben­den Dra­chens, der wäh­rend der Fahrt zügig und knapp über den Boden fliegt. „Die­ses Modell ist bereits Ende des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts gebaut wor­den“, erklärt Nen­nen. Das gilt zwar nicht für sein Exem­plar, aber zumin­dest für das Patent: „Das Peder­sen ist ein um 1890 von dem Dänen Mika­el Peder­sen ent­wickel­tes Rad, das drei Jah­re spä­ter zum Patent ange­mel­det und spä­ter in Chri­stia­nia, einer alter­na­ti­ven Wohn­sied­lung in Kopen­ha­gen, wie­der­ent­deckt wur­de. Man hat damals über­legt, ob es mög­lich ist, Fahr­rä­der aus Bam­bus zu bau­en, was fast funk­tio­niert hätte.“

Unscheinbare Augenblicke

Auch bei die­sem sei­ner Ver­kehrs­mit­tel weiß Nen­nen um die Histo­rie. Der Win­ne­bago als india­ni­sches, groß­räu­mi­ges Lebens­do­mi­zil und eine däni­sche, geschichts­träch­ti­ge Lee­ze – für Phi­lo­soph Nen­nen sind sie nicht nur Gebrauchs‑, son­dern auch Luxus­ge­gen­stän­de. Sie unter­schei­den den land­strei­chen­den Glo­be­trot­ter, den gril­len­den Lam­pi­on-Cam­per und Heinz-Ulrich Nen­nen ein­mal mehr ganz deut­lich von­ein­an­der. Geklei­det ist er wie beim ersten Tref­fen: Wie­der trägt er einen schwar­zen, ele­gan­ten Woll­pul­li zu einem dezent gestreif­ten Sak­ko. Der Bart sieht nicht bedeu­tend grau­er aus, die Haa­re auch nicht. Nen­nen schrei­tet über die alten Güter­schie­nen, die ihn gera­de­aus mit Blick in Rich­tung der bun­ten Leucht­re­kla­me des Kinos führen.

„Wir sind sehr mäch­tig im Kulis­sen­schie­ben“, mur­melt er durch sei­nen Voll­bart. „Es sind unschein­ba­re Augen­blicke, die wir schnell über­se­hen. Augen­blicke, die eine ent­schei­den­de Wei­che im Leben stel­len. Beson­ders span­nend sind Irr­tü­mer“, sagt der Phi­lo­soph. „Wir irren uns in Momen­ten, die wir uns gar nicht bewusst machen, und bau­en dar­auf unser kom­plet­tes Leben auf. Wir bau­en unse­re Büh­ne so, wie wir es wol­len. Das birgt eine gewal­ti­ge Gefahr.“ Wer führt da Regie? Nen­nen hält kurz inne und über­legt. Etwa wir selbst? Das gan­ze Leben ein Thea­ter? „Aber es eröff­net zugleich eine rie­si­ge Chan­ce“, fährt er fort. Aller­dings unter einer sehr ent­schei­den­den, wenn nicht not­wen­di­gen Bedin­gung: „Wir müs­sen unse­re Sou­ve­rä­ni­tät behal­ten! Nur dann kann man sagen: Es sind mei­ne ganz per­sön­li­chen Erfah­run­gen, die ich mache, nicht irgend­wel­che. Ich lass’ das jetzt erst mal so lau­fen – und schaue ein­fach mal zu, was mit mir passiert.“

Philosophisches Café

Man merkt schnell, was er bereits vor die­sem Gespräch ange­kün­digt hat: Heinz-Ulrich Nen­nen hat sein phi­lo­so­phi­sches Schaf­fen in Mün­ster aus­ge­wei­tet. Er arbei­tet hier nun auch als lebens­phi­lo­so­phi­scher Weg­wei­ser. Das ein­sti­ge Phan­tom des Indu­strie­ha­fens ist zu einem Rat­ge­ber in Mün­sters all­tags­phi­lo­so­phi­scher Oper gewor­den. Denn Nen­nen hat im ver­gan­ge­nen Jahr ein neu­es Betä­ti­gungs- und Denk­feld ent­deckt. Er lädt inzwi­schen gemein­sam mit der Volks­hoch­schu­le zum sonn­täg­li­chen „Phi­lo­so­phi­schen Café“ und zieht als „ambu­lan­ter Phi­lo­soph“ durch die west­fä­li­sche Dom­stadt. Soll hei­ßen: Der Phi­lo­soph kommt zu Besuch oder man kann ihn besu­chen – in sei­nem ame­ri­ka­ni­schen Winnebago-Wohnmobil.

In einem benach­bar­ten Café bestellt er einen Pro­sec­co und plau­dert. „Ich will den Men­schen gedank­li­che Impul­se mit auf den Weg geben und das Den­ken über das eige­ne Den­ken und Tun för­dern“, erklärt er. Die Ter­min­ver­ein­ba­rung lau­fe modern per E‑Mail und an Ambu­lanz möge er die „Iro­nie des Not­dürf­ti­gen”. Denn die Phi­lo­so­phie sei gar nicht so aka­de­misch, wie vie­le Men­schen den­ken. „Sie ist in ihren Ursprün­gen vor allem eine Lebens­kunst, die auch mit Hei­ter­keit zu tun hat und die uns zum Schmun­zeln bringt. Erkennt­nis muss doch nicht weh tun. Gera­de Selbst­er­kennt­nis soll­te berei­chern!“ Der ambu­lan­te Phi­lo­soph selbst habe bereits in sei­ner revo­lu­tio­när-auf­müp­fi­gen Zeit der Puber­tät ange­fan­gen, übers Den­ken nach­zu­den­ken. „Ich habe ange­fan­gen, in Even­tua­li­tä­ten zu den­ken”, erklärt er. Er habe damals wie vie­le sei­ner Zeit­ge­nos­sen mit sei­ner Vor­stel­lung von gesell­schaft­li­chen Idea­len und mora­li­schen Regeln nicht in die­ses System und die­se Welt gepasst.

Student mit Selbstversorger–Hof

Als er als Teen­ager nach Mün­ster kam, hau­ste er zunächst in einer Wohn­ge­mein­schaft. Spä­ter mie­te­te er sich ein altes Bau­ern­haus in Asche­berg – rund fünf­und­zwan­zig Kilo­me­ter ent­fernt der Dom­stadt. Nen­nen: „Das muss­te damals ein­fach sein!” Schließ­lich war es die Zeit der länd­li­chen Kom­mu­nen, Aus­stei­ger und Selbst­ver­sor­ger. Nen­nen selbst war für hun­dert­fünf­zig Deut­sche Mark Mie­te aller­dings ganz bewusst allein zu Haus. Mög­lichst viel lesen, medi­tie­ren und dis­ku­tie­ren stand auf dem Pro­gramm. Wenn der klei­ne Kot­ten im Win­ter ein­ge­schneit war, hol­te er sich sei­ne Post auch schon mal aus einem Baum an der Stra­ße. Nen­nen: „Ganz wich­tig war die täg­li­che Ber­li­ner Tages­zei­tung. Die war damals ein Muss!” Nur im tief­sten Win­ter zog es ihn von sei­nem klei­nen Selbst­ver­sor­ger-Hof in das mün­ster­län­di­sche Dom­zen­trum: „Wenn die Toi­let­ten zuge­fro­ren waren, dann hat­te man ver­lo­ren und muss­te in die Stadt.”

Heinz-Ulrich Nen­nen spielt mit einer gol­de­nen Flie­ger-Son­nen­bril­le, die er auf dem Tisch vor sich pla­ziert hat. Nach der Zeit des „pro­gram­ma­ti­schen Aus­stei­ger­tums” habe er dann den Weg in „die­se Welt” gesucht, fährt er fort: „Weg von den magisch-mysti­schen Welt­an­schau­un­gen der Hip­pie-Gene­ra­ti­on.” Mit sei­ner Hand ver­treibt er immer wie­der die Flie­gen vom süßen Kaf­fee des Inter­view­ers. Die eine oder ande­re Dro­ge habe er damals pro­biert. „Nicht zum weg­schä­deln, son­dern zur Bewusst­seins­er­wei­te­rung”, betont er in gelas­se­nem Ton­fall, aber durch­aus mit einem stimm­lich erho­be­nen Zei­ge­fin­ger. Man kön­ne schließ­lich nur solan­ge gesund phi­lo­so­phie­ren, wie man nicht psy­cho­ti­sche Züge annimmt und aus der eige­nen Umge­bung und Wirk­lich­keit davon fliegt. So hat er irgend­wann in Büchern die Welt und in der Welt wie­der­um vie­les an Phi­lo­so­phie ent­deckt. Denn Phi­lo­so­phie­ren ist eine Fra­ge der Perspektiven.

Viele verschiedene Kameraperspektiven

So hat er sich gesetz­ten Alters offen­bar gut mit die­ser Welt arran­giert – mög­li­cher­wei­se gar ver­söhnt: „Wir kön­nen uns aus vie­len ver­schie­de­nen Kame­ra­per­spek­ti­ven betrach­ten. Der gesell­schaft­li­che Dis­kurs betont immer wie­der, dass wir ein­stim­mig sein sol­len. Dabei besitzt jeder Mensch doch so man­nig­fal­ti­ge Per­spek­ti­ven auf sich selbst, dass er auch unter­schied­li­chen Stim­men fol­gen kann.” Da kom­me es dar­auf an, „Herr der eige­nen Viel­falt” zu sein. Das bedeu­te nicht, sich an vagen Lia­nen durch den sozia­len Groß­stadt­dschun­gel zu han­geln, son­dern viel­mehr, die rich­ti­ge Lia­ne zu suchen, bevor man auf die wei­te­re Lebens­rei­se geht. Nen­nen: „Wir soll­ten in jeder Situa­ti­on ganz genau aus­lo­ten, wel­cher Stim­me wir bewusst fol­gen wol­len. Zunächst kommt es aber dar­auf an, alle die­se Stim­men wirk­lich zu vernehmen.”

Das bewusst­seins­er­wei­tern­de Hilfs­mit­tel der Dro­gen war ihm dabei immer schon suspekt. Das glei­che gilt sowohl für die Schul­me­di­zin, als auch die Arbeit mit Pati­en­ten, Kli­en­ten oder Kran­ken. So ist Nen­nen bewusst nicht Heil­prak­ti­ker gewor­den. Als ambu­lan­ter Phi­lo­soph will er nicht hei­len, son­dern der eige­nen Sou­ve­rä­ni­tät zum Auf­trieb ver­hel­fen. „Im inspi­rie­ren­den Dia­log“, betont er. Er habe die Dro­gen bewusst für sein Bewusst­sein ein­ge­setzt. Aber er habe immer dar­über nach­ge­dacht, wie sie ihn ihrer­seits beein­flus­sen, ihn hin­ters Licht füh­ren und an sei­nen Strip­pen zie­hen, um ihn mög­li­cher­wei­se aufs Kreuz zu legen. „Vie­le Men­schen han­deln wie Mario­net­ten, die sich in Erwar­tun­gen und Idea­len ver­wickelt haben”, gibt er zu beden­ken. Weil sie nicht über ihr Den­ken nach­den­ken, sei­en vie­le Mit­men­schen ver­strickt und gefan­gen in Erwar­tun­gen, Idea­len und sozia­len Net­zen, die sich häu­fig als ver­fehlt her­aus­stel­len, sobald das Den­ken dar­über in Gang kommt.

Weniger Antworten als Fragen

Das Gespräch hat gar etwas von einem Besuch beim Psy­cho-Doc. Oder ist es eine typi­sche Semi­nar­si­tua­ti­on, wie Nen­nen sie regel­mä­ßig mit sei­nen Stu­den­ten teilt? Die Wahr­heit bewegt sich wohl irgend­wo dazwi­schen. Ganz trenn­scharf sind die Lini­en zwi­schen Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie ohne­hin nicht immer, gibt auch der Phi­lo­soph zu. Der Unter­schied zwi­schen bei­den ist wohl der Grad an Frei­heit. Ein Psy­cho­lo­ge behand­le eher Stö­run­gen, die einen Men­schen in sei­nem Leben ein­schrän­ken, dif­fe­ren­ziert Nen­nen. Als ambu­lan­ter Phi­lo­soph hin­ge­gen will er im Men­schen selbst das Hand- und Denk­werk­zeug wecken, sich in sei­ner sozia­len Umwelt zu fin­den und zu ver­or­ten: „Das ist Selbst­pro­gram­mie­rung”, sagt Nen­nen. „Phi­lo­so­phie­ren kostet Zeit. Wer es aus­ge­las­sen tut, ent­la­stet sich nicht, son­dern bela­stet sich zusätz­lich.” Denn die Phi­lo­so­phie beher­ber­ge weni­ger kon­kre­te Ant­wor­ten als immer mehr Fra­gen, die man an sich selbst, sein Leben und die Gesell­schaft stel­len kann. Nen­nen: „Daher braucht es den Phi­lo­so­phen als Rat­ge­ber in die­sen Fra­gen. Wie einen Pfad­fin­der, der Wege kennt, die durch das Dickicht der Gedan­ken, Idea­le und Gefüh­le hin­durch führt.”

So müs­sen sei­ne Gesprächs­part­ner auch die Kosten für die ein­stün­di­ge Win­ne­bago-Den­ker­run­de von fünf­zig Euro selbst bezah­len. Einen Psy­cho­lo­gen zahlt im Regel­fall die Kran­ken­kas­se. Davon, dass das deut­sche Gesund­heits­sy­stem auch die phi­lo­so­phi­sche „Ori­en­tie­rung zur Selbst­ori­en­tie­rung”, wie Nen­nen sie nennt, bezahlt, sind wir wohl noch ein Stück­chen ent­fernt. Der gesell­schaft­li­che Trend zum Nach­den­ken übers Den­ken sei Jahr­tau­sen­de nach Pla­ton aller­dings wie­der auf dem Weg zurück ins all­ge­mei­ne Bewusst­sein, stellt er fest: „War­um bekommt Richard David Precht sonst eine eige­ne Fern­seh­sen­dung?” Die Phi­lo­so­phie scheint gera­de in der Kri­se und in einer Über­gangs­zeit an Bedeu­tung zu gewin­nen. Denn gera­de dann suchen die Men­schen nach etwas Neu­em, wor­an sie sich fest­hal­ten kön­nen. Dabei soll­ten sie doch viel bes­ser dar­über nach­den­ken, wie sie sich selbst vor allem auch von neu­en Sei­ten ken­nen ler­nen und selbst ori­en­tie­ren kön­nen, mahnt Nennen.

Postmoderne Zersplitterung

Nur all­zu­oft sieht der ambu­lan­te Phi­lo­soph unse­re Idea­le mehr als nur zwie­späl­tig. „Ich habe den begrün­de­ten Ver­dacht, vie­le unse­re Idea­le könn­ten gar falsch sein”, streut er auf ein­mal und ein wenig plötz­lich ein. „Wir tref­fen Ent­schei­dun­gen ohne dar­über nach­zu­den­ken, was wir uns dabei gedacht haben. Wir spie­len Rol­len, ohne zu wis­sen, war­um wir sie so und nicht anders spie­len. Und das Schlimm­ste ist: Die mei­sten Men­schen glau­ben, sie wüß­ten, was sie den­ken und tun!” Kurz­um: Wir machen frem­de Idea­le zu unse­ren eige­nen – ohne zu wis­sen, war­um. Ein­fach so. Ohne jemals dar­über nach­ge­dacht zu haben. Es ist die sozia­le Ent­frem­dung und post­mo­der­ne Frag­men­ti­sie­rung, die der Phi­lo­soph beklagt.

Das Leben gestal­tet sich zuneh­mend kom­ple­xer. Es ist soviel da, aber alles nur bruch­stück­haft. Die Zivi­li­sa­ti­on und Ver­städ­te­rung habe die Men­schen zu ver­spreng­ten, zer­split­ter­ten Indi­vi­du­en gemacht, sagt Nen­nen. Bei allen posi­ti­ven Facet­ten der Indi­vi­du­li­tät han­del­ten die Men­schen aller­dings bei wei­tem noch nicht genü­gend selb­stän­dig und aus sich selbst her­aus. Denn gera­de das ist eine nicht immer wohl­schmecken­de Pil­le – vor allem für die, die in der Lage sind, sou­ve­rän zu denken.

Denken wie eine freischwebende Feder

Heinz-Ulrich Nen­nen ist ein Frei­den­ker. Er ver­gleicht die Phi­lo­so­phie ger­ne mit einer frei­schwe­ben­den Feder: „Ziel des Phi­lo­so­phie­rens ist es, die Feder stets in der Schwe­be zu hal­ten.” Sie darf nicht her­un­ter­fal­len, aber sie darf sich auch nicht mit dem näch­sten Wind­stoß so ein­fach ver­ab­schie­den. Nen­nen denkt bei die­sem Bild ins­be­son­de­re an die Ur-Phi­lo­so­phie eines Pla­ton: Solan­ge alles in der Schwe­be bleibt, ist der phi­lo­so­phi­sche Dis­kurs, der eige­ne Geist und damit auch das eige­ne Leben in Bewe­gung. Aller­dings offen­bart die Schwe­be-Phi­lo­so­phie – nicht zuletzt in Per­son eines Fried­rich Nietz­sche – gewiss auch ein enor­mes Absturz­po­ten­ti­al. Stän­dig das eige­ne, im unend­li­chen Raum schwe­ben­de Selbst zu suchen und zu fin­den, kann auch eine ewi­ge Jagd zwi­schen Hase und Igel sein. Phi­lo­so­phie kann feder­leicht beflü­geln, aber sie kann auch schwer­mü­tig fes­seln – bis zum Exzess.

Gera­de in Zei­ten einer all­ge­mei­nen sozia­len Ver­un­si­che­rung ist der Schwe­be­zu­stand logi­scher­wei­se beson­ders pre­kär. Men­schen brau­chen Ori­en­tie­rung. Vie­le Jahr­hun­der­te lang waren die Kir­che und der Glau­be an Gott dafür zustän­dig. Es gibt Göt­ter, sie ver­kör­pern unse­re Idea­le aber auch unse­re Äng­ste, das steht auch für den Phi­lo­so­phen außer Fra­ge. Nen­nen: „Sie waren und sind seit Jahr­tau­sen­den das, wonach die Men­schen stre­ben.“ In Zei­ten, in denen es Reli­gi­on und Kir­che schwer haben, über­neh­men aller­dings zuneh­mend ande­re deren Auf­ga­be. Micha­el Jack­son etwa. Nen­nen meint Ido­le, an denen sich die Men­schen aus­rich­ten – ohne dass die­se Ido­le noch ech­te Men­schen wären. Denn sie sind ledig­lich Bil­der, ein „Ima­go”, wie Nen­nen sagt. Sie bil­den das popu­lä­re Image als ver­mensch­lich­ten Lebens­geist ab.

Jacksons Fehler war Nietzsches Fehler

Bis zur Selbst-Auf­ga­be habe der „King of Pop” den Men­schen etwas dar­bie­ten wol­len. „Dabei hät­te es doch gereicht, wenn er ein­fach nur dage­we­sen wäre”, bedau­ert Nen­nen. „Jack­son muss­te kaum mehr etwas dafür tun, dass die Mas­sen außer sich gerie­ten.” So habe er ein Kon­zert durch minu­ten­lan­ges Still­ste­hen begon­nen, wor­auf die Fans jede noch so gerin­ge ruck­ar­ti­ge Bewe­gung fre­ne­tisch fei­er­ten. „Auch bei der neu­en Tour­nee hät­ten die Fans ihn ver­göt­tert”, denkt Nen­nen. Aber Jack­son habe zu viel gewollt: „Er woll­te bes­ser sein als Micha­el Jack­son und hat damit den glei­chen Feh­ler gemacht wie Nietz­sche.” Wäh­rend der Pop­star im Alter von ein­und­fünf­zig Jah­ren an einer Über­do­sis von Schmerz­mit­teln starb, hielt es Phi­lo­soph Nietz­sche zwar noch eine Hand­voll Jah­re län­ger aus. Aber auch er stürz­te ab.

Er habe sei­ne Feder zu hoch flie­gen las­sen, sagt Nen­nen, sich dar­aus sehr vage Flü­gel gebaut. Er hät­te sich am Rat sei­nes Vaters Daeda­lus ori­en­tie­ren sol­len, stets in der Mit­te zwi­schen dem kal­ten Meer und der hei­ßen Son­ne zu flie­gen. Aber er soll­te bekannt­lich der Son­ne zu nahe kom­men und mit gebro­che­nen Flü­geln abstür­zen. Er ist zu lan­ge zu hoch geflo­gen, um die gött­li­che Son­ne sei­nes eige­nen Selbst zu suchen. Dann aber sind die gewach­sten Trag­flä­chen sei­ner See­le ver­brannt. Er starb schließ­lich im Alter von sechs­und­fünf­zig Jah­ren. „Irgend­wann löst sich bei den Stars unse­rer Tage das pro­mi­nen­te Göt­ter­bild ab und beginnt ein Eigen­le­ben zu füh­ren”, erläu­tert Phi­lo­soph Nen­nen. „Da kommt es auf den Cha­rak­ter hin­ter der Kunst­fi­gur kaum mehr an. Die Leu­te wol­len den Men­schen dahin­ter gar nicht mehr sehen. Sie ken­nen ihn schließ­lich über­haupt nicht, son­dern spie­geln ledig­lich ihre eige­nen Idea­le auf ein uner­reich­ba­res Bild.”

Ergebnisoffene Wege

Sie ver­ehr­ten anstel­le des­sen ein kun­ter­bun­tes Pot­pour­ri ihrer eige­nen Gefüh­le und Sehn­süch­te, wie sie etwa in einem Gott Jack­son deut­lich inten­si­ver zu Tage tre­ten, als sie es jemals in der Per­son hin­ter der Pop-Iko­ne könn­ten. Daher wer­de in den Regen­bo­gen­me­di­en so gern der so genann­te „Mensch dahin­ter” insze­niert, was den Wider­spruch nur noch wei­ter ver­schär­fe. So stellt Nen­nen fest: „Göt­ter müs­sen sich nicht recht­fer­ti­gen. Wir aber müs­sen das.” Dabei sei doch jeder Irr­tum das Größ­te, das man an und in sich ent­decken kann: „Gera­de der Unter­schied zwi­schen Mensch und Gott ist das, wor­auf es ankommt. Wenn ein Irr­tum auf­fliegt, lachen wir doch sehr oft auch. Dann sind wir fröh­lich – und sogar über­aus glück­lich.” Kein Irr­tum sei es wert, sich dar­über zu ärgern. Man soll­te nur erken­nen und dar­um wis­sen, dass man eine „syste­ma­tisch fal­sche Metho­de” benutzt hat. Ande­res Denk­in­stru­ment – neue Chan­ce. Was für Nen­nen zählt, ist der „ergeb­nis­of­fe­ne Weg” – nicht eine vor­ei­li­ge Ent­schei­dung oder ein vor­schnel­les Urteil.

Heinz-Ulrich Nen­nen schaut aus dem gro­ßen Fen­ster des Cafès auf das wel­li­ge Was­ser des Kanals und die alten, ver­wai­sten Bahn­schie­nen, die davor durchs wild gewach­se­ne Gras schim­mern. „Wenn wir die Wei­che fin­den, vor der wir noch alle Optio­nen hat­ten, kön­nen wir nur dar­aus ler­nen”, sagt er. Dann ver­ab­schie­det er sich für die­sen Tag. Der ambu­lan­te Phi­lo­soph hat noch einen Ter­min. Er krault noch ein­mal durch sei­nen Bart, steigt auf sein gemüt­li­ches Peder­sen-Dra­chen­rad und fährt über die holp­ri­gen alten Wasch­be­ton­plat­ten davon. Aber schon bald, kommt er wie­der. Das ist sicher. Zum Den­ken übers Den­ken in sei­nem india­ni­schen Winnebago.

Bio

Dr. Heinz-Ulrich Nennen

Bis 1989 stu­dier­te Heinz-Ulrich Nen­nen Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie und Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten an der Uni Mün­ster. Er pro­mo­vier­te über „Öko­lo­gie im Dis­kurs“, habi­li­tier­te 2003 über die „Slo­ter­di­jk-Debat­te“ und arbei­tet nun als Hoch­schul­leh­rer an der Uni Karls­ru­he. Zuhau­se aber fühlt er sich noch immer in Münster.