Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Utopie

Die Vernunft, die Musen und das Glück

Über Momente des Glücks, für die zu leben sich lohnt

In der Medi­zin set­zen nicht-inva­si­ve Ein­grif­fe inzwi­schen neue Maß­stä­be. Der­weil betreibt die Poli­tik noch immer hemds­är­me­li­gen Inter­ven­tio­nis­mus. Ver­nunft oder gar Geist sind unerwünscht.

So ist die Homöo­pa­thie die­ser Tage gestri­chen wor­den von den Fort­bil­dun­gen für Ärz­ten. Sie paßt nicht mehr in die­se selbst­ver­lieb­te Zeit. Man glaubt, grö­ße­re Pro­ble­me nur mit schwe­ren Waf­fen „lösen“ zu kön­nen. – Es wäre aber zu emp­feh­len, mehr über Sozia­le Syste­me zur Kennt­nis zu nehmen.

Die Maul­af­fen-Per­for­mance aus Coro­nas Zei­ten wird unbe­irrt wei­ter fort­ge­setzt. Dabei ist die Welt längst aus dem Rhyth­mus gera­ten, weil Poli­ti­ker in vie­len Län­dern allen Ern­stes mein­ten, sie könn­ten auf Hand­steue­rung umschal­ten. Grö­ßen­wahn inmit­ten einer Kri­se ist das Dümm­ste, was pas­sie­ren kann.

Es gibt näm­lich gar kein Cock­pit, kei­ne Brücke mit Kapi­tän und Steu­er­mann. Sozia­le Syste­me haben alle ihren eige­nen Auto­pi­lo­ten. Sie steu­ern sich selbst, ganz im Sin­ne ihrer inter­nen Codes, ob Poli­tik, Wis­sen­schaft, Gesund­heit, Recht, Reli­gi­on, Kunst oder Lie­be. – Es gibt kei­ne Hebel der Macht. Das sind naï­ve Vor­stel­lun­gen, die eigent­lich nie der Wirk­lich­keit entsprachen.

Aller­dings gibt es mehr oder min­der gro­ße Dumm­hei­ten, die anfangs noch naiv, dann aber fahr­läs­sig und bald schon unver­ant­wort­lich wer­den. „Gut gemeint“ ist nicht „gut gemacht“, bei­lei­be nicht.

Wer sich kei­nen Kopf macht, kann ihn auch nicht ver­lie­ren, das glau­ben wohl man­che von denen, die immer vor­ne­weg sind:

„So tu doch was!“

„Was soll ich denn tun?“

„Das weiß ich auch nicht. -

Aber tu doch end­lich irgendwas!“

Auch das 9 Euro-Ticket ist wie­der so eine pre­kä­re Mei­ster­lei­stung. Es ist über­haupt kei­ne gute Idee, gleich gan­ze Syste­me zu maro­die­ren, so wie zuvor noch die Kli­ni­ken in der Coro­na-Kri­se. Inzwi­schen sit­zen alle erdenk­li­chen Leu­te spa­ßes­hal­ber im Zug und neh­men denen die Plät­ze weg, die nur zur Arbeit fah­ren. – Das Bahn-Bas­hing ist jetzt zur Frei­zeit­un­ter­hal­tung geworden.

Oder der staat­li­che Tan­kra­batt, der nicht wirk­lich an der Tank­säu­le ankommt, weil er vor­her abge­fischt wird. Und dann regen sich alle wie­der auf über die bösen Spe­ku­lan­ten. – Es war sei­ner­zeit eine Freu­de, als man­che davon kalt erwischt wur­den im Lockdown.

Sie hat­ten gro­ße Kon­tin­gen­te an Sprit in Ter­min­ge­schäf­ten erwor­ben aber gar kei­ne eige­nen Lager­ka­pa­zi­tä­ten. Als sie die Ware zum erhöh­ten Preis abneh­men soll­ten, muß­ten man­che drauf­zah­len, damit ihnen irgend­wer das Zeug zum Dum­ping­preis noch vor der Lie­fe­rung abkauft.

Was kann Poli­tik? Wenn sie klug, viel­leicht sogar ver­nünf­tig oder even­tu­ell auch geist­reich wäre, dann könn­te sie eini­ges bewir­ken. Aber nicht durch Södern, Flick­schu­ste­rei und Popu­lis­mus. Jetzt mal eben eine Über­ge­winn­steu­er zu beschlie­ßen, ist bereits am wis­sen­schaft­li­chen Dienst geschei­tert. Das geht glück­li­cher­wei­se nicht auch noch, weil ein paar Grund­ge­set­ze im Wege stehen.

Wir haben Pri­vat­wirt­schaft und die­se setzt sich selbst ihre Zie­le, wie jedes ande­re System auch. – Schlech­te Poli­tik bringt aber die Syste­me der­art aus der Rou­ti­ne, so daß Desa­ster nicht mehr aus­ge­schlos­sen sind. So war und ist der Umgang des Staa­tes mit Bahn, Bil­dung und Gesund­heit ein­fach nur kata­stro­phal. Mal eben Kin­der­gär­ten und Schu­len schlie­ßen, das war auch wie­der so eine Meisterleistung.

Ins Gesund­heits­we­sen hat die Poli­tik der­art krass hin­ein­re­giert, so daß der eigent­li­che Zweck längst ins Hin­ter­tref­fen gera­ten ist. Geht es wirk­lich noch um Gesund­heit, wo die Fall­pau­scha­len alles beherrschen?

Neu­er­dings sind bereits die ersten Inve­sto­ren auf beson­ders lukra­ti­ve Arzt­pra­xen auf­merk­sam gewor­den? Kran­ken­häu­ser sind bereits Spe­ku­la­ti­ons­ob­jek­te, die natür­lich nur noch vor­hal­ten, was sich ren­tiert, nicht gesund­heit­lich, son­dern eben öko­no­misch. – Und die Vor­fi­nan­zie­rung teu­rer Gerä­te für Fach­arzt­pra­xen ist offen­bar die näch­ste Stufe.

Aber die Pati­en­ten spie­len mit und las­sen sich brav von Ter­min zu Ter­min schicken. Es pas­siert ja was, es wird ja was getan. Auf den Dos­siers der Labor­un­ter­su­chun­gen fin­den sich Hand­rei­chun­gen für den wer­ten Leser, für die man kei­nen Arzt mehr braucht. – Es ist aus­ge­wie­sen, was als “nor­mal” gilt und was gemes­sen wur­de. Aber die Nor­ma­li­tät wur­de als sol­che oft aus ganz ande­ren Grün­den beschlos­sen, die mit Gesund­heit selbst nichts zu tun hat. So sind die Wer­te für Blut­druck immer wie­der gesenkt wor­den und die Zahl der Pati­en­ten stieg. Die wun­der­sa­me Ver­meh­rung gibt es also auch in der Medizin.

Wer wird sich da noch ver­trau­ens­voll in die Hän­de sol­cher Weiß­kit­tel bege­ben? – Aber die Leu­te ver­trau­en doch nur zu gern, um die eige­nen Ver­ant­wor­tung nicht spü­ren und schon gar nicht tra­gen zu müs­sen. Wir leben in Zei­ten eines neu­en Paternalismus.

Die Aller­mei­sten kon­su­mie­ren ihre eige­ne Unmün­dig­keit. Sie wol­len mit der eige­nen Erkran­kung höchst­selbst eigent­lich nichts zu tun haben. Also sind sie auch nicht wirk­lich bei der Sache, dabei soll­te es doch eigent­lich um Hei­lung gehen.

Krank­heit ist dann kein Weg mehr, son­dern nur wie Kalk im Was­ser­kes­sel, der weg­ge­macht wer­den soll. Wenn ein Lei­den “nur” psy­chisch bedingt ist, dann ist es eher so etwas wie pure Ein­bil­dung. – Nur, was sich mes­sen läßt, hat ein Recht dar­auf, über­haupt ernst genom­men zu wer­den. Kann man Geist­lo­sig­keit messen?

Der neue Dis­kurs über Depres­si­on, der inter­es­san­ter­wei­se von nam­haf­ten Come­di­ans wie Schmidt, Strä­ter und Krö­mer ange­sto­ßen wur­de, dürf­te aller­dings nicht ohne Wir­kung blei­ben. – Es gibt zu den­ken, daß aus­ge­rech­net die Lustig­sten unter den Mit­men­schen die erfor­der­li­che Elo­quenz auf­brin­gen, end­lich zu sagen, daß der Clown hin­ter sei­ner Mas­ke weint und wie ihm dabei zu Mute ist.

Wir leben in beweg­ten Zei­ten. Es ist Cha­os genug, mehr geht eigent­lich nicht. – Im Hin­ter­grund steht eine Medi­en­re­vo­lu­ti­on, die ihres­glei­chen sucht. Nur noch die Erfin­dung des Buch­drucks kann der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on, die nun ansteht, über­haupt noch das Was­ser reichen.

Unter die­sen Umstän­den ver­än­dert sich auch die Rol­le von Poli­ti­kern ganz radi­kal. Daher rüh­ren auch die fort­wäh­ren­den Ver­su­che, das Netz der Net­ze unter Kon­trol­le zu bekom­men. – Aber so viel läßt sich jetzt schon mit Gewiß­heit sagen: Es wird nicht gelin­gen. Wenn es eine Ener­gie­quel­le gibt, von der die Kul­tur­ge­schich­te ange­trie­ben wird, dann ist es die Sehn­sucht nach Indi­vi­dua­li­tät und indi­vi­du­el­ler Anerkennung.

In die­sen Zei­ten ist ein „Tal der Ahnungs­lo­sen“, wie noch in der DDR, als die Anten­nen bei Dres­den nicht hoch genug sein konn­ten, um West­fern­se­hen zu emp­fan­gen, gar nicht mehr denk­bar. In den hin­ter­letz­ten Win­keln der Welt wis­sen alle, daß woan­ders ein ande­res Leben geführt und ande­re Wer­te gelebt wer­den. Die dog­ma­ti­sche Begrün­dung der „Hir­ten“, Tugend­wäch­ter und Gesin­nungs­wäch­ter, ver­fängt ein­fach nicht mehr. Es gibt immer Alternativen!

Auch im gar nicht mehr ganz so frei­en Westen zei­gen sich Ver­än­de­run­gen. Die Dis­kur­se fin­den nicht mehr nur in der „System­pres­se“ statt, son­dern über­all. Und sie wer­den der­art divers, so daß sich man­che Ver­tre­ter der Pres­se in Mis­sio­na­re ver­wan­delt haben, die wie vor Zei­ten in frem­den Län­dern den „Aber­glau­ben“ bekämpf­ten, um ihre „fro­he Bot­schaft“ vor­zu­be­rei­ten. – Ganz so froh war die Bot­schaft für die Nati­ves dann doch nicht, wenn man bedenkt, daß außer­eu­ro­päi­schen Kul­tu­ren ein­fach der eige­nen Iden­ti­tät beraubt wur­de, um sie unter die Fuch­tel frem­der Herr­schaft zu zwin­gen und Geschäf­te auf ihre Kosten zu machen.

Der Westen hat unend­li­ches Leid über alle erdenk­li­chen Kul­tu­ren gebracht. Schwei­gen wir hier von den Nie­der­lan­den, von Bel­gi­en oder Frank­reich. Um nur ein Bei­spiel zu brin­gen: Die Bri­ten haben wäh­rend ihrer Besat­zungs­zeit den Indern die Sin­nen­freu­de aus­ge­trie­ben, weil sie bei sich zuhau­se gera­de ihren Vik­to­ria­nis­mus hat­ten und den Frau­en gar kei­ne und schon gar kei­ne eige­ne Lust zuge­ste­hen moch­ten. – Noch heu­te zei­gen sich die trau­ma­ti­schen Spät­fol­gen in Indi­en anhand von Gewalt­ver­bre­chen mit sexu­el­lem Hintergrund.

Die frem­de Herr­schaft ist zwar abge­zo­gen, man hat aber seit­her kei­nen eige­nen Umgang mit Sin­nen­freu­den mehr, son­dern eine repres­si­ve Scheu und ein Scham­emp­fin­den, unter dem es bro­delt und kocht. – Die Kul­tur wur­de mut­wil­lig zer­stört, nur um Geschäf­te zu machen. Es fehlt der Respekt vor dem Geist, wo immer nur aufs Mate­ri­el­le gestarrt wird.

Man den­ke nur an den Opi­um­han­del in Chi­na. Das geschah, um die eigent­lich sta­bi­le Kul­tur in Chi­na emp­find­lich zu schwä­chen und das Land mit­hil­fe die­ser Sucht in die Kniee zu zwin­gen. – Der Westen möge sich also bit­te nicht so auf­spie­len, er soll­te erst ein­mal Buße tun, im Geden­ken an die­se Ver­bre­chen. Und wenn man bedenkt, daß ein Gut­teil der Lan­des­gren­zen von den Bri­ten gezo­gen wur­de, in Afri­ka und in Asi­en, bewußt mit­ten durch Stam­mes­ge­bie­te, weil man den Hader immer wie­der für eige­ne Zwecke instru­men­ta­li­sie­ren wollte.

Man kann inzwi­schen erstaun­lich viel über mie­se Machen­schaf­ten wis­sen. Das mei­ste davon ist nicht ein­mal mehr geheim, son­dern läßt sich im Zwei­fels­fall mit Links sehr schnell doku­men­tie­ren. Das ist es, was das Netz aus­macht. – So war es eine Stern­stun­de, als die Pla­ne­s­pot­ter an ver­schie­de­nen Flug­hä­fen der Welt ihre Beob­ach­tun­gen unter­ein­an­der abstimm­ten und dann publik wur­de, daß es regel­rech­te Fol­ter­flü­ge im Auf­trag der CIA gab und daß die USA in Euro­pa gehei­me Gefäng­nis­se betreibt.

Wir ste­hen erst am Anfang einer neu­en, unüber­seh­bar mäch­ti­gen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on. So etwas dau­ert meh­re­re Gene­ra­tio­nen und das Netz läuft sich gera­de erst warm.

Auf eine Medi­en­re­vo­lu­ti­on folgt immer eine Kul­tur­re­vo­lu­ti­on, weil ja nun noch mehr Men­schen mit­ein­an­der ins Gespräch kom­men, ohne daß sich Herr­scher oder Prie­ster noch dazwi­schen­schal­ten könnten.

Zuvor ent­schied die Kir­che, ob und wie ein Text das Licht der Öffent­lich­keit erblick­te. Aber der Buch­druck mach­te die Kon­trol­le der Kom­mu­ni­ka­ti­on durch die Kir­che unmög­lich. Fort­an ent­schie­den schnell nam­haft wer­den­de Drucker, was sie drucken woll­ten, aus ganz eige­nen Moti­ven her­aus. – Dar­auf ging die Zen­sur von der Kir­che an den Staat über.

Mar­tin Luther hielt nicht viel vom Buch­druck, aber bös­ar­ti­ge Kari­ka­tu­ren über Papst und Kir­che brach­ten sei­ner Refor­ma­ti­on erst den rich­ti­gen Schwung. Der Papst als Schwein mit der drei­fa­chen Kro­ne, das konn­ten auch Leu­te ver­ste­hen, die noch nicht des Lesens mäch­tig waren.

Dar­auf kam die Zei­tungs­pres­se und mit ihr kamen Par­la­men­te, Par­tei­en und Poli­ti­ker. Und mit dem Radio kamen tota­li­tä­re Syste­me auf, wie Faschis­mus oder Sozia­lis­mus. Neue Medi­en sind zu vie­ler­lei ein­setz­bar, im Guten wie auch im Bösen. – Der­weil split­tet „die“ Öffent­lich­keit sich immer wei­ter auf. Es gibt nicht mehr die ein­zig wah­re herr­schen­de Mei­nung aller Wohl­mei­nen­den und Wohlinformierten.

Man­che unter den Poli­ti­kern kom­men in ihrer neu­en Rol­le gar nicht mehr an. Sie kön­nen sich nicht mehr als „Reprä­sen­tan­ten“ ver­ste­hen, als Volks­ver­tre­ter, weil das „Volk“ selbst mün­dig gewor­den ist und nie­man­den mehr braucht, der noch das Wort stell­ver­tre­tend ergreift.

Die Zei­ten sind ver­gan­gen, als Poli­ti­ker noch in aller Eitel­keit beton­ten, sie sei­en die näch­ste Woche wie­der in der Haupt­stadt. Dort wür­den sie dann tur­nus­mä­ßig auf irgend­ei­ne Wich­tig­keit von Mensch tref­fen, um bei Gele­gen­heit das gemein­sa­me Anlie­gen umso dring­li­cher vor­zu­tra­gen. – Man soll­te sich auf­ge­ho­ben, ernst genom­men, ver­stan­den und ver­tre­ten fühlen.

Jetzt braucht es sie nicht mehr, die­se Form der Reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie, weil sich alle selbst aus­drücken und inso­fern auch reprä­sen­tie­ren kön­nen. Es gilt, end­lich mehr Demo­kra­tie zu wagen. – War­um wäh­len wir den Bun­des­prä­si­den­ten nicht online? Wahl­män­ner braucht es nicht mehr, also auch nicht mehr eine Bundesversammlung.

Die Rol­le von Reli­gi­ons­für­sten, Prie­stern und „Hir­ten“ ist vakant gewor­den. Daher ist es auch kein Skan­dal mehr, wenn sich ein Bischof aus dem Ruhr­ge­biet vor etwa 10 Jah­ren in vol­ler Über­zeu­gung noch gegen die gleich­ge­schlecht­li­che Eltern­schaft aus­sprach, von wegen, das sei „wider­na­tür­lich“, Kin­der bräuch­ten nun ein­mal Vater und Mut­ter. Das ist inzwi­schen ein­fach nur noch eine belie­bi­ge Mei­nungs­äu­ße­rung. – Rosa von Praun­heim saß mit in der Dis­kus­si­ons­run­de und sag­te baff nicht ohne Schmun­zeln: Daß er das noch mal erle­ben dürfte!

Es ist alles auch ein biß­chen viel, was sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten so alles radi­kal gewan­delt hat. Und Man­chen geht es noch immer nicht schnell genug. Dage­gen hilft eine Sen­tenz von Niklas Luh­mann: Vie­le wür­den immer­zu noch mehr Ver­än­de­run­gen ver­lan­gen, ohne aber zu beden­ken, „wie schnell wir schon fahren“.

Jede Inter­ven­ti­on führt zu Gegen-Reak­tio­nen von Sei­ten der Sozia­len Syste­me, die sich ihrer­seits auf die ver­än­der­ten “Umwelt­be­din­gun­gen” ein­stel­len, wie die Mine­ral­öl-Spe­ku­lan­ten, die bei der Gele­gen­heit ganz außer­or­dent­li­che Gewin­ne erwirt­schaf­ten wer­den. – Das stützt übri­gens auch einen schlim­men Ver­dacht, dem bedin­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men gegenüber.

Im Prin­zip kann man nur für ein Grund­ge­halt sein, wenn es denn wirk­lich so kom­men wür­de, wie es im Traum erscheint: Eine Gesell­schaft, in der Men­schen ein­an­der durch Krea­ti­vi­tät beglücken, die sich end­lich dar­auf ver­stün­de, die vie­len schlum­mern­den Talen­te in vie­len von uns zu erwecken. Wäre das nicht wirk­lich lebens­wert und sogar lie­bens­wert? – Aber wie beim Tan­kra­batt wür­de schluß­end­lich nur eines die Fol­ge eines sol­chen Grund­ein­kom­mens sein: Die Mie­ten wür­den stei­gen, weil Ver­mie­ter nun ein­mal mit Miet­wohn­raum spe­ku­lie­ren, um mög­lichst hohe Gewin­ne zu erzielen.

Nein, die Welt ist über­haupt nicht ein­fach. Das Getue von Poli­ti­kern mit ihrem Hang zum Inter­ven­tio­nis­mus ist Buden­zau­ber. Des­we­gen hat man den Tan­kra­batt auch nicht an dem Groß­han­del gege­ben, dann wäre er an den Tank­stel­len ange­kom­men. Auf den Hype kam es an, auf die Show, what ever it costs.

Die Reli­gi­on soll die­ser Tage durch eine deter­mi­ni­sti­sche Wis­sen­schaft ersetzt wer­den, die päpst­li­cher sein soll als der Papst. – „Fol­low the Sci­ence?“, da fragt sich nur wohin. Im übri­gen, gibt es etwas Düm­me­res als die­sen Spruch?

Man kann eine Hür­de auch neh­men, indem man sie nicht etwa über­springt, son­dern “unter­bie­tet”, wie Trump, John­son, Erdo­gan, Putin, Jong-un oder auch wie die Tali­ban. Wenn man nur die Frau­en oder auch die Anders­den­ken­den aus vor­ge­scho­be­nen Glau­bens­grün­den mög­lichst radi­kal unter­drückt, dann wird alles wie­der gut. – Sor­ry, wel­cher Gott soll­te dar­an Gefal­len finden?

Um abzu­len­ken wer­den Pro­ble­me zur Not auch künst­lich erzeugt und dann „gelöst“. Im Hin­ter­grund ste­hen zumeist tie­fer lie­gen­de Res­sen­ti­ments gegen die Moder­ne, gegen jede Eman­zi­pa­ti­on und vor allem gegen Ver­nunft und Geist. Alles soll so blei­ben wie es ist, bes­ser noch, alles soll so wer­den, wie es ein­mal war, als alles angeb­lich noch gut war. – Aber auch das funk­tio­niert mit Sicher­heit nicht.

Der trei­ben­de Fak­tor im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on ist Indi­vi­dua­li­sie­rung. Alle suchen so gut sie kön­nen nach sich selbst, wol­len sich spü­ren und sehen las­sen kön­nen in ihrer Ein­zig­ar­tig­keit. Aber die Wenig­sten wis­sen von sich, wer sie eigent­lich sind oder sein wol­len, ganz unab­hän­gig vom Sol­len. – Was hilft?

Phi­lo­so­phie kann hel­fen, wenn es dar­um geht, mehr Boden unter die Füße zu bekom­men. Man kann nicht alles zugleich anzwei­feln und soll­te schon gar nicht den Ast absä­gen, auf dem man sitzt. Der Rei­he nach, also mit Metho­de geht das durch­aus. – Wich­tig und wesent­lich ist aber vor allem eines, daß gere­det wird. Es braucht Dia­lo­ge und Dis­kur­se vor allem über das, was pein­lich sein könn­te, über Äng­ste, Gefüh­le, Sehn­süch­te, Gelü­ste, Unsi­cher­hei­ten, Rol­len­kon­flik­te. Wenn immer mehr Men­schen ein­an­der authen­tisch begeg­nen, dann kön­nen Dia­lo­ge ent­ste­hen, die den Hori­zont wirk­lich erwei­tern. Dann könn­te es auch sein, daß man­che die­ser Bann­flü­che bre­chen, mit denen wir uns und unse­res­glei­chen immer­zu klein machen und klein halten.

Der­zeit ist jedoch allent­hal­ben ein Man­gel an Geist, an Beschei­den­heit und ein Man­gel an Gelas­sen­heit zu ver­zeich­nen. Man glaubt ernst­haft, über­all hin­ein­pfu­schen zu kön­nen, ohne wirk­lich eine Ahnung zu haben von dem, was da eigent­lich vor sich geht in den Systemen.

Wer hat denn die Endo­kri­no­lo­gie wirk­lich so auf dem Schirm, daß die Wir­kung künst­li­cher Hor­mon­ga­ben nicht nur so unge­fähr ver­stan­den wird, son­dern in ihrer gan­zen Wech­sel­wir­kung bis hin­auf zur See­le, zur Psy­che und bis hin zum Geist beur­tei­len zu kön­nen? – Es müß­te schon ein Uni­ver­sal­ge­nie sein, daß es so nicht mehr geben kann. Also braucht es den Streit der Fakul­tä­ten, aber kei­ne Ein­heits­par­tei, kei­ne Ein­heits­wis­sen­schaft und auch kei­nen Einheitsbrei.

In der Tat steht ein Kurs­wech­sel an, der Aus­stieg aus dem Car­bon-Zeit­al­ter und der Ein­stieg in die Welt der rege­ne­ra­ti­ven Ener­gie. – Poli­tik kann im Namen des Staa­tes die Rah­men­be­din­gun­gen schaf­fen oder auch ver­än­dern. Popu­lis­mus ist aber kontraproduktiv.

Ein schö­nes Bei­spiel für gelun­ge­ne Poli­tik ist das Patent­recht. Ein Erfin­der wird sei­ne Erfin­dung geheim hal­ten wol­len, weil er nichts davon hät­te, wenn ande­re ern­ten, was er gesät hat. – Genau das aber wäre nicht im Sin­ne von Wirt­schaft und Gesell­schaft. Deren Inter­es­se besteht viel­mehr dar­in, daß Paten­te öffent­lich gemacht wer­den. – Also ver­bürgt sich der Staat dafür, daß die Rech­te des Urhe­bers gewahrt blei­ben. Dafür muß aber die Erfin­dung öffent­lich gemacht wer­den, und der Erfin­der erhält dar­auf sein Patent, mit dem er am Markt mit den Ver­wer­tern auf­tre­ten und ver­han­deln kann. Es braucht also eigent­lich nicht viel, um ganz gewal­tig etwas zu ver­än­dern, so daß es auf den rich­ti­gen Kurs kommt.

In der chi­ne­si­schen Phi­lo­so­phie gibt es dazu ein Prin­zip, es ist das „Wu Wei“, was bedeu­tet „Nicht-Tun“. Damit ist aber kei­nes­wegs „Nichts­tun“ gemeint, viel­mehr geht es um eine Phi­lo­so­phie der Inter­ven­ti­on. Es kommt dar­auf an, mit gering­fü­gi­gen Ein­grif­fen die ent­schei­den­den Rei­ze zu set­zen, um einen Kurs­wech­sel in die gewünsch­te Rich­tung zu bewir­ken. Das macht gute Poli­tik zur Kunst.

Das macht gute Päd­ago­gik, gute Psy­cho­lo­gie, gute Phi­lo­so­phie aus. In den Dia­lo­gen sind Men­to­ren nur anwe­send und tun dabei, rein äußer­lich betrach­tet, nicht son­der­lich viel. Sie “mode­rie­ren” und sind wie die Kata­ly­sa­to­ren in der Che­mie oder in der Bio­lo­gie. – Wenn und solan­ge sie anwe­send sind, wird aber das Unmög­li­che möglich.

Reak­tio­nen, für die eigent­lich anspruchs­vol­le Rah­men­be­din­gun­gen erfor­der­lich sind, gehen ohne Pro­ble­me von­stat­ten, als wäre ein ganz beson­de­rer Zau­ber im Spiel. – Die Meme, also gute Ideen haben etwas von sol­cher Zau­ber­kraft. Wesent­lich ist, daß ein Geist auf­kommt, der die Musen zur Hil­fe rufen kann, so daß man sich vor Begei­ste­rung vor so vie­ler guter Ein­fäl­le kaum noch erweh­ren kann.

Dann gilt es, mit bewuß­ter Unter­küh­lung die ein­zel­nen Optio­nen zu prü­fen und womög­lich ins Kon­zept zu brin­gen. Das wäre gute Poli­tik, das ist aber bereits Kunst und viel­leicht auch Phi­lo­so­phie, wenn denn das Gute, Schö­ne und Wah­re wirk­lich zusam­men­ge­bracht wer­den könnten.

Wenn sich im Dia­log die erlö­sen­den Wor­te ein­stel­len, so daß wir end­lich sagen kön­nen, was schon längst soll­te gesagt und ver­stan­den wor­den sein, erst dann kom­men wir uns selbst und ein­an­der näher in einem Ver­ste­hen, das sei­ne Basis gefun­den hat. Das sind Momen­te des Glücks, für die es zu leben sich lohnt.

Die Wirk­lich­keit selbst wird immer viel­fäl­ti­ger, nur schwarz-weiß oder wenig­sten grau zu den­ken, sie Slo­ter­di­jk anregt, ist noch immer nicht far­big. Aber das wäre viel­leicht auch ein wenig zu viel des Guten. – Dage­gen ist aber auch der kau­sal­fe­ti­schi­sti­sche Ungeist kei­nes­wegs dazu ange­tan, wirk­lich auf gute Ideen zu kommen.

Johan König: Athe­ne und die Neun Musen an der Quel­le von Hip­okre­ne (1624).

Wie wäre es, wenn sich die Ver­nunft und die Musen zusam­men­tun? – Wenn ich dar­über spe­ku­lie­re, wie die Ver­nunft es wohl macht, wenn sie ein Modell des­sen erstel­len soll, wor­auf es ins­ge­samt ankommt, dann wird es doch wohl nicht im Sin­ne der MINT-Fächer sein, nicht im Sin­ne der viel­be­ru­fe­ne “Ratio­na­li­tät” oder “Wis­sen­schaft­lich­keit”, denn es gibt so vie­le davon wie Göt­ter im Pantheon.

Der Leit­stern kann nicht der allent­hal­ben bemüh­te Kau­sal-Feti­schis­mus sein, der in der Coro­na-Kri­se schon so viel gei­sti­ge Ver­wir­rung gestif­tet hat. Nein, die Ver­nunft opti­miert sich in Hin­sicht auf Schön­heit, als Ein­heit des Wah­ren, Schö­nen und Guten. – Die­ser Meta-Dis­kurs soll­te end­lich an die Stel­le der Papst­kir­che tre­ten, um die alten Göt­ter eben­so wie die Musen dazu zu bewe­gen, ihre uralten Kämp­fe, Tän­ze und Inspi­ra­tio­nen wie­der aufzunehmen.

Nähe und Enge

Wenn es eng wird ums Herz

“Wann Krieg beginnt, das kann man wis­sen, aber wann beginnt der Vor­krieg. Falls es da Regeln gäbe, müß­te man sie wei­ter­sa­gen.” (Chri­sta Wolf: Kas­san­dra. Vor­aus­set­zun­gen einer Erzäh­lung. Frank­fur­ter Poetik–Vorlesungen; Darm­stadt, Neu­wied 1983. S. 76f.)

Es gibt einen ethisch nicht zuläs­si­gen Tier­ver­such: Zwei Rat­ten wer­den in einen Käfig gesperrt, der eine ziem­lich klar defi­nier­te Grö­ße unter­schrei­tet. Dann gehen sich bei­de augen­blick­lich an die Gur­gel, bis nur noch eine übrig bleibt. 
Auf mehr­tä­gi­gen Ver­an­stal­tun­gen gibt es die­sen magi­schen 3. Tag. Auch da gehen sich Teil­neh­mer aus einem inne­ren Zwang her­aus an, weil irgend­ei­ne Geduld am Ende ist und man vom vie­len Weg­lä­cheln all­mäh­lich Gesichts­krämp­fe bekommt. — Es ist auch komisch, wenn gleich ganz vie­le wie auf ein gehei­mes Kom­man­do ziem­lich unver­mit­telt und auf­grund von Nich­tig­kei­ten plötz­lich auf­ein­an­der losgehen.
Wenn man als Refe­rent spä­ter dazu kommt und wis­sen möch­te, wie die Stim­mung so ist, kann man sehr gut Teil­neh­me­rin­nen befra­gen. Frau­en haben es wie selbst­ver­ständ­lich auf dem Schirm, wer mit wem, war­um nicht und wes­we­gen. — Ich bin da immer bass erstaunt, wie leicht frau Grup­pen­dy­na­mik dur­schau­en kann, weil ich dazu mit Bord­mit­teln ziem­lich lan­ge brau­che, bis ich es auch sehe.

Jérô­me-Mar­tin Lang­lois: Cas­san­dra fleht Miner­va an, sich an Ajax zu rächen (1810).

Es ist über­aus wich­tig, hin­ter die Kulis­sen zu schau­en. Das ist auch der Sinn von Höf­lich­keit, denn es gilt, ande­ren zuvor­kom­mend zu begeg­nen, so daß sie gar nicht erst Beklem­mun­gen bekom­men, son­dern sich wohl­füh­len, ver­stan­den, geach­tet, gewür­digt. — Das läßt sich sehr schön bei Knig­ge stu­die­ren, dem es mit­nich­ten um den Ein­satz des Fisch­mes­sers geht. 
Tat­säch­lich ist Gesell­schaft immer auch Thea­ter. Wir spie­len unse­re Rol­len und dabei uns selbst und ande­ren etwas vor. Aber was wäre die Alter­na­ti­ve? — Der Unter­ti­tel bei Knig­ge lau­tet, vom Umgang mit Men­schen. Dabei geht es um eine Diplo­ma­tie, die alles ande­re ist als Schmei­che­lei oder Mani­pu­la­ti­on. Aller­dings ist dazu ein wenig Lebens­art und Lebens­er­fah­rung erfor­der­lich und vor allem ein huma­ni­sti­scher Geist. 
Das Rol­len­spiel ist ja selbst wie­der ein Medi­um, eine Spra­che, mit der wir uns dar­stel­len. Das wird einem klar bei einer Emp­feh­lung, die Knig­ge gibt: Sei­ner­zeit war die Bewe­gungs­frei­heit nicht so wie heu­te. Nur Ade­li­ge und Hand­werks­ge­sel­len durf­ten und muß­ten rei­sen, um sich in der wei­ten Welt zu bewei­sen. In der Tat lernt man sich selbst am besten in der Frem­de ken­nen und vor allem dann, wie man mit dem Unbe­kann­ten umge­hen muß. 
Wenn man in der Stadt eine Kut­sche gemie­tet hat und die Kut­scher wie ver­rückt los­fah­ren, soll­te man sich kei­nes­wegs dar­über beschwe­ren. Es geht nur um eine Bela­stungs­pro­be. Wenn näm­lich die Räder schwach sind, dann soll­ten sie hier und jetzt bre­chen – aber nicht im Wald, wo bekannt­lich die Räu­ber sind. 
Die mei­sten Pro­ble­me ent­ste­hen durch nicht the­ma­ti­sier­tes Miß­ver­ste­hen. Es ist fal­sche Höf­lich­keit, irgend­ei­ne Form zu wah­ren, aber nicht auf das zu spre­chen zu kom­men, was wirk­lich von Bedeu­tung ist, um ein­an­der zu ver­ste­hen. — Das ist vor­aus­set­zungs­rei­cher als gedacht. Zunächst müß­te man erst ein­mal sich selbst ver­ste­hen und dann auch den Ande­ren. Dann braucht man eine gemein­sa­me Gesprächs­grund­la­ge, wie es schon im Jar­gon der Diplo­ma­ten heißt. Das alles ver­langt der Spra­che der­art viel ab, so daß vie­le lie­ber alles weg­lä­cheln und Meta–Toleranz–Gepflogenheiten vor sich her­tra­gen oder auch Par­tei­nah­men, je nach Tages­be­fehl, was 
noch mehr Pro­ble­me bereitet.
Die Welt ist in der Tat abhän­gig vom Wil­len und von der Vor­stel­lung, die man sich dar­über macht oder auch nur machen läßt. Das hat die Coro­na-Kri­se leid­lich unter Beweis gestellt. Die Gren­zen zwi­schen dem Öffent­li­chen und dem Pri­va­ten, zwi­schen Gesell­schaft und Gemein­schaft, wur­den stän­dig ver­letzt. Man hat sich in eine Stim­mung aus Panik, Furcht und Bedro­hung ver­set­zen und dau­er­haft hal­ten lassen.
Und jetzt erscheint es so, als wäre Coro­na nur eine Art Vor­krieg gewe­sen. Die Pola­ri­sie­rung der Gesell­schaft, der Kul­tur, man­cher Gemein­schaf­ten und das Gefühl, im Ande­ren eine infek­tiö­se Bedro­hung zu sehen und Nähe gene­rell fürch­ten zu müs­sen, sich auf nichts mehr ver­las­sen zu kön­nen, schon gar nicht auf das eige­ne Immun­sy­stem, das hat alles sehr viel mehr Scha­den ange­rich­tet, als man­che bereit wären, sich zuzugestehen.
Auch ist es kein Zufall, daß nun­mehr mit mög­lichst gro­ßer Öffent­lich­keit die­ses toxi­sche Männ­lich­keits­geh­abe wie­der fröh­li­che Urstän­de fei­ert. — Wie war es noch, als Deut­sche in den Krieg fuh­ren? Das taten sie ja nur, um dort mit ihrer neu­en, fran­zö­si­schen Gelieb­ten auf der Chaus­see de Ely­see fla­nie­ren zu gehen. Zurück kamen sie, wenn über­haupt, zutiefst traumatisiert.
Die Welt­krie­ge haben die­se Schat­ten­fi­gu­ren des pre­kä­ren Mas­ku­li­nis­mus erzeugt, einen manisch-depres­si­ven Män­ner­typ, der nicht spre­chen kann über die Scheuß­lich­kei­ten, die nicht wie­der ver­schwin­den wol­len. Also liegt er den gan­zen Tag auf der Couch, bekommt aber ein­mal am Tag sei­nen Anfall, die gan­ze Fami­lie zu vermöbeln.
Das gegen­wär­ti­ge, affen­haf­te Brust­klop­fen der Macho­ma­nie ist ja nur das, was im Vor­krieg demon­striert wird. Spä­ter wird sich die Gesell­schaft in gro­ßer Dank­bar­keit für die erbrach­ten Opfer von die­sen Hel­den nur noch ange­wi­dert abwen­den. Also was soll das?
Es ist kein Kunst­stück, gegen den Krieg zu sein, gegen jeden, weil das ein­fach für nichts gut ist. Außer­dem befand man sich schon immer in der bes­se­ren Gesell­schaft mit denen, die sich ein eige­nes Urteils­ver­mö­gen zutrau­en und auch zumu­ten moch­ten. — Zwi­schen der Zustim­mung zur Imp­fung und der Zustim­mung zum Krieg gibt es eine gespen­sti­sche Gemeinsamkeit.
I am not con­vin­ced. — Wo kommt nur das Bedürf­nis nach Haß her? Ist es nicht eine viel zu spä­te Reak­ti­on dar­auf, daß man sich wie­der ein­mal hat viel zu viel Duld­sam­keit abver­langt, zu viel Nähe zuge­mu­tet und zu wenig Ver­ste­hen auf­ge­bracht hat? War­um weh­ren sich so weni­ge gegen Über­grif­fe und lächeln sich weg? War­um kommt es dazu, daß man irgend­wann ein­fach platzt, wenn es bereits zu spät ist? Das ist fal­sche Höf­lich­keit, das ist Feig­heit, Unbe­darft­heit, Unselbst­stän­dig­keit, Unsi­cher­heit, Unmündigkeit.
War­um haben so vie­le die Gele­gen­heit zum Bas­hing nicht ver­strei­chen las­sen, um auch mal ganz kräf­tig aus­zu­tei­len? — Die Grün­de lie­gen woan­ders, in einem all­ge­mei­nen Unglück­lich­sein, das mit dem eigent­li­chen Anlaß kaum etwas zu tun hat. 
In einem Man­gel an Den­ken und Spra­che lie­gen die eigent­li­chen Grün­de. Daher lau­fen die Kon­flik­te völ­lig aus dem Ruder nach dem Mot­to: Und was ich Dir über­haupt immer schon mal sagen woll­te…! — Macht­wor­te sind Ver­laut­ba­run­gen einer Ohn­macht, aus Grün­den der Spra­che, des Den­kens und aus Man­gel an Geist.
Als Etho­lo­gen einem Volk ohne Fern­se­her vom Welt­krieg erzähl­ten, haben sich die­se zunächst köst­lich amü­siert. So etwas bräuch­ten sie auch mal. Offen­bar dach­ten sie an eine zünf­ti­ge Wirts­haus­schlä­ge­rei, die sie auch noch nicht kann­ten. — In einem Sci­ence Fic­tion las ich mal über eine frem­de Spe­zi­es, sie sei­en ursprüng­lich sehr krie­ge­risch gewe­sen, dann aber hät­ten sie sich selbst immer wei­ter pazi­fi­ziert. Aber von Zeit zu Zeit bräuch­ten sie noch eine Drang­wä­sche, ein bemer­kens­wer­tes Wort für das, was da gera­de vor sich geht.
Es ist vie­len zu eng gewor­den. Es wäre aber bes­ser, ein­an­der mehr Raum zu gewäh­ren. Raum gewäh­ren kann man auch durch mehr Ver­ständ­nis, etwa für die, die sich gera­de völ­lig ver­un­si­chert in den Geschäf­ten bewe­gen, daß jetzt kei­ne Mas­ken­pflicht mehr herrscht. Aber wo kom­men wir da jetzt hin, wenn jeder wie­der macht was er oder sie will! – Genau das ist das Pro­blem, die­ses unaus­ge­spro­che­ne Miß­trau­en, der ver­bor­ge­ne Selbst– und Menschenhaß.
Der Libe­ra­lis­mus steht einer rechts­ka­tho­li­sche Tie­fen­ge­sin­nung gegen­über und einer Rei­he von selbst­über­zeug­ten Bes­ser­wis­sern, die in sich das Poten­ti­al zum guten Dik­ta­tor ver­spü­ren. Nicht nur Krieg, son­dern auch Dik­ta­tur scheint wie­der machbar.
Aber der Libe­ra­lis­mus hat den Huma­nis­mus auf sei­ner Sei­te. Er kann sagen, war­um wir uns in unse­rer Frei­heit selbst fin­den und ent­wickeln müs­sen. Nur so wird aus Men­schen das, was sich aus ihrer Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schich­te längst her­aus­le­sen läßt, Wesen indi­vi­du­el­ler Weis­heit, Selbst­ver­ant­wor­tung, Empa­thie, Authen­ti­zi­tät und einem immens gestie­ge­nen Verbalisierungsvermögen.
Erst wenn wir sagen kön­nen, was mit uns und der Welt nicht stimmt, wenn wir auch in der Bewegt­heit noch die Con­ten­an­ce bewah­ren kön­nen, um uns gleich­wohl nicht unter­but­tern zu las­sen, erst dann sind wir auf dem rich­ti­gen Weg. — Dabei ist die Bezeich­nung Homo sapi­ens bis­lang nur eine Anmaßung.
Die letz­te aller Kom­pe­ten­zen ist die schwer­ste von allen, das ist in jeder Ent­wick­lung so. Sich selbst mode­rie­ren zu kön­nen, freund­schaft­lich, ver­ständ­nis­voll und hoff­nungs­voll, das ist ein­zig das, was zählt. Der Staat hat über­haupt nicht das Recht, sich da ein­zu­mi­schen. Er hat nicht die Auf­ga­be, über die Gesell­schaft zu herr­schen, er hat ihr zu die­nen, um sie dar­in zu unter­stüt­zen, zu sich selbst zu kom­men. — In Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie ist das der sta­te of the art, alle Eltern wis­sen das.

EPG II b (online und Block)

Ober­se­mi­nar

EPG II b (Online)

Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

SS 2022 | Beginn: 30. Juni 2022 | Ende: 14. August 2022 | Online und Block
Ab 30. Juni 2022: 5 Semi­na­re online | don­ners­tags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
3 Work­shops im Block: 12., 13., 14. August 2022 | 14–19 Uhr | Raum: 30.91–110

Zum Kommentar als PDF

Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

Stichworte für Themen

#„ADHS“ #Auf­merk­sam­keit #Bewer­tung in der Schu­le #Cyber­mob­bing #Digi­ta­li­sie­rung #Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Eltern­ge­sprä­che #Erzie­hung und Bil­dung #Gen­der­di­ver­si­ty #Hel­den­rei­se und Per­sön­lich­keit in der Schu­le #Inklu­si­on #Interesse–Lernen–Leistung #Inter­kul­tu­rel­le Inklu­si­on #Isla­mis­mus #Kon­flik­te mit dem Islam in der Schu­le #Kon­flikt­in­ter­ven­ti­on durch Lehr­per­so­nen #Leh­re­rIn sein #Leh­rer­ge­sund­heit #Medi­en­ein­satz #Medi­en­kom­pe­tenz #Mit­be­stim­mung in der Schu­le #Mob­bing #Online-Unter­richt #Poli­ti­cal Cor­rect­ness #Pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis #Pro­jekt­un­ter­richt #Puber­tät #Refe­ren­da­ri­at #Respekt #Schu­le und Uni­ver­si­tät #Schul­fahr­ten #Schul­ver­wei­ge­rung #Sexua­li­tät und Schu­le #Stra­fen und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Zivi­ler Ungehorsam

Studienleistung

Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.


Schuld: Eine mächtige Kategorie

Johann Hein­rich Füss­li: Lady Mac­beth, schlaf­wan­delnd, (um 1783). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Gewissensbisse, die zum Wahnsinn führen

Der Dich­ter und Maler Johann Hein­rich Füss­li war der­art fas­zi­niert von den Wer­ken des Wil­liam Shake­speare, so daß er sich schon in jun­gen Jah­ren an Über­set­zun­gen ver­such­te. — Als Maler schuf er einen gan­zen Bilder–Zyklus mit berühm­ten Sze­nen, in denen die phan­ta­sti­sche Stim­mung ein­ge­fan­gen ist.

So insze­nier­te er auch die dra­ma­ti­sche Sze­ne: Lady Mac­beth V,1 von Wil­liam Shake­speare. Die tra­gi­sche Hel­din wird von Alp­träu­men geplagt und fin­det ein­fach kei­ne Ruhe mehr. Sie träumt mit offe­nen Augen und beginnt zu schlaf­wan­deln. — Und es scheint, als woll­te sie sämt­li­che Pla­ge­gei­ster ver­trei­ben, die Zeu­gen ihrer Unta­ten, von denen sie ver­folgt und um den Schlaf gebracht wird.

Die Sze­ne­rie führt das schlech­te Gewis­sen der Lady Mac­beth vor Augen. — Ihr Mann war zunächst dem König treu­er­ge­ben. Aber drei Hexen pro­phe­zei­en ihm, selbst zum König zu wer­den. Um dem ver­hei­ße­nen Schick­sal nun auf­zu­hel­fen, schrecken Mac­beth und sei­ne Lady selbst vor einem heim­tücki­schen Königs­mord nicht zurück.

Bei­de sind von blin­dem Ehr­geiz getrie­ben und ver­lie­ren im Ver­lauf der Ereig­nis­se auf­grund ihrer Ver­bre­chen zuerst ihre Mensch­lich­keit, dann ihr Glück und schließ­lich auch noch den Ver­stand, von ihrem See­len­heil ganz zu schwei­gen. — Dabei wirkt die Frau skru­pel­lo­ser als der Mann. Ähn­lich wie auch die Medea, setzt eine sehr viel ent­schie­de­ne­re Frau wirk­lich alles aufs Spiel, wäh­rend der Mann eher zag­haft erscheint. Dahin­ter dürf­te die Pro­ble­ma­tik ste­hen, daß Frau­en lan­ge Zeit nicht direkt auf­stei­gen konn­ten, nur über ihre Rol­le als Ehe­frau und Mutter.

Es kommt im fünf­ten Akt zu der im Bild von Füss­li dar­ge­stell­ten Sze­ne. Wäh­rend sich Mac­beth auf Burg Dun­si­na­ne mehr und mehr zum ver­bit­ter­ten, unglück­li­chen Tyran­nen wan­delt, wird Lady Mac­beth immer hef­ti­ger von Gewis­sens­bis­sen geplagt, denn die Schuld am Mord von King Dun­can ist unge­sühnt. — Alp­träu­me kom­men auf, sie beginnt im Schlaf zu wan­deln und die Phan­ta­sie nimmt Über­hand, bis sie schließ­lich den Ver­stand ver­liert und sich das Leben nimmt.

Das Gefühl, sich womög­lich gleich am gan­zen Kos­mos ver­sün­digt zu haben, durch eine Fre­vel­tat, dürf­te sehr früh auf­ge­kom­men sein. Es gibt vie­le Bei­spie­le dafür, daß durch ein Sakri­leg eine ›hei­li­ge Ord­nung‹ gestört wird, was nicht so blei­ben kann. — Bei­spie­le sind Sisy­phos, ein Trick­ster, der nicht ster­ben will und den Tod immer wie­der hin­ters Licht führt, oder Ixi­on, der erst­mals einen Mord an einem Ver­wand­ten beging.

Es gibt eine Klas­se von Mythen, die sich als Urzeit­my­then klas­si­fi­zie­ren las­sen. Väter ver­schlin­gen ihre Kin­der, die Welt bleibt im Cha­os, sie gewinnt gar kei­ne Gestalt. Tita­nen herr­schen, wobei der Ein­druck ent­steht, als wären sie die Ver­kör­pe­rung jener Gei­ster, mit denen die Scha­ma­nen der Vor­zeit noch umge­hen konn­ten. — Die klas­si­schen Mythen sind inso­fern auch ein Spie­gel der Zivi­li­sa­ti­on, weil sie die angeb­lich bar­ba­ri­schen Zei­ten zuvor als abso­lut bru­tal in Sze­ne setzen.

Erynnien, Furien, Rachegötter und Plagegeister

Fran­cis­co de Goya: Saturn ver­schlingt sei­nen Sohn (1820f). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Das sind auch Ammen­mär­chen der Zivi­li­sa­ti­on, die Rede ist dann von fin­ste­ren Zei­ten. Zugleich set­zen sich Mythen damit als Auf­klä­rung in Sze­ne, schließ­lich kün­den sie von der Über­win­dung die­ser Schreck­lich­kei­ten. Nicht nur der tech­ni­sche, zivi­li­sa­to­ri­sche Fort­schritt spielt bei alle­dem eine beträcht­li­che Rol­le, son­dern auch die Psy­cho­ge­ne­se. — Ver­mut­lich kommt Indi­vi­dua­lis­mus erst all­mäh­lich auf, eben­so wie das Bedürf­nis, sich selbst zu beobachten.

Die klas­si­schen Mythen insze­nie­ren nicht nur das Sakri­leg, sie errich­ten zugleich auch die Tabus dage­gen, indem man die Ereig­nis­se in eine viel frü­he­re Urzeit abschiebt und zugleich demon­striert, wie ent­setz­lich die Fol­gen mög­li­cher Tabu­brü­che tat­säch­lich sind.

Wenn etwas Unge­heu­er­li­ches gesche­hen ist, dann tre­ten bald schon Unge­heu­er auf den Plan. Als wür­de die Welt selbst dar­um rin­gen, in den Zustand der ›vor­ma­li­gen Har­mo­nie‹ wie­der zurück­zu­keh­ren. — Aber irgend­wie muß das Ver­ge­hen gesühnt wer­den. Es muß erst wie­der aus der Welt geschafft wer­den durch Buße, weil erst dann die ›hei­li­ge Ord­nung‹ wie­der her­ge­stellt wer­den kann.

Zugleich sind die Göt­ter selbst im Pro­zeß der Theo­ge­ne­se. Eine Göt­ter­dy­na­stie folgt auf die näch­ste. — Inter­es­sant sind die Reflek­tio­nen dar­über. So hat Kro­nos durch fort­ge­setz­te Kinds­tö­tung der Gaia vor­ent­hal­ten, was Müt­ter wol­len, die Kin­der auf­wach­sen sehen.

Der Mythos schil­dert in die­ser Vor­stu­fe einen Zustand, in dem nicht wirk­lich Ent­wick­lung statt­ha­ben konn­te. — Erst in der Ära von Zeus wird die Welt auf die Mensch­heit zen­triert. Dann tre­ten die glück­li­chen Göt­ter Athens sogar frei­wil­lig zurück, um im Zuge des Prometheus–Projektes der Mensch­heit die Welt zu überlassen.

Die Entstehung des Gewissens

Fran­çois Chiff­lart: Das Gewis­sen. 1877, Mai­sons de Vic­tor Hugo, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Es ist ver­mut­lich der aus Ägyp­ten durch den Tem­pel­prie­ster Moses beim Aus­zug der Juden mit auf den Exodus genom­me­ne mono­the­isti­sche Gott, der bereits bei den Ägyp­tern mit einem all­se­hen­den Auge sym­bo­li­siert wur­de. Auch die Idee vom Jen­seits­ge­richt stammt aus Ägyp­ten, was zur bemer­kens­wer­ten Tra­di­ti­on der Ägyp­ti­schen Toten­bü­cher geführt hat, das Leben als Vor­be­rei­tung auf den Tod zu betrachten.

Mit der Bedro­hung durch das Jüng­ste Gericht des Lebens kommt eine Psy­cho­ge­ne­se in Gang, die eine syste­ma­ti­sche Selbst­be­ob­ach­tung erfor­der­lich macht. — Wenn ein all­ge­gen­wär­ti­ger und all­wis­sen­der Gott ohne­hin alles ›sieht‹, so daß man ihm nichts ver­ber­gen kann, dann scheint es ange­ra­ten zu sein, sich ein Gewis­sen zuzu­le­gen, um sich genau zu beob­ach­ten und ggf. zu kontrollieren.

Dem­entspre­chend ist Kain auf der Flucht vor dem ›all­se­hen­den Auge‹, weil er ›ver­ges­sen‹ hat, sich bei­zei­ten ein Gewis­sen zu ›machen‹. — Das ist aber nur eine, noch dazu weni­ger anspruchs­vol­le Deu­tung des ver­meint­li­chen Bru­der­mords. Aus Grün­den der Eth­no­lo­gie kön­nen Acker­bau­ern und Hir­ten kei­ne ›Brü­der‹ sein. Offen­bar hat sich der hier ver­ehr­te Gott, der das Opfer des Bau­ern ›ablehnt‹, noch nicht damit arran­giert, daß die Tier­op­fer sel­te­ner und die Opfer von Getrei­de und Früch­ten zuneh­men werden.

Kain auf der Flucht

Erst mit der Urba­ni­sie­rung erhält der Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on sei­ne ent­schei­den­de Dyna­mik. Der alles ent­schei­den­de Impuls geht mit die­ser Got­tes­idee ein­her, mit der ganz all­mäh­lich auf­kom­men­den Vor­stel­lung eines Got­tes, der alles ›sieht‹. — Dem­entspre­chend illu­striert Fer­nand Cor­mon die Flucht des Kain unmit­tel­bar nach der Tat. Das Werk ist durch Vic­tor Hugo inspi­riert und schil­dert die Sze­ne auf gro­tes­ke Weise.

Der Plot selbst ist zutiefst para­dox: Kain ist Bau­er. Er lebt von den Früch­ten der Erde, fürch­tet sich jedoch schreck­lich vor dem neu­en tran­szen­den­ten Gott, der im Him­mel über den Wol­ken schwebt und der alles ›sieht‹. — Er ver­liert im Opfer­wett­streit, erschlägt sei­nen Kon­tra­hen­ten, ist aber von die­sem mis­sio­na­ri­schen Hir­ten offen­bar längst bekehrt wor­den, denn er fürch­tet sich fort­an wie wahn­sin­nig vor die­sem Gott. Dar­auf beginnt er eine hals­bre­che­ri­sche Flucht, um sich dem all­se­hen­den, all­wis­sen­den, all­ge­gen­wär­ti­gen Auge die­ses Got­tes doch noch zu entziehen.

Fer­nand Cor­mon: Kain. 1880, Musèe d’Orsay, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.


Psyche und Seele

Über Unterschiede, die wieder das Ganze in den Blick nehmen

Man glaubt, die Natur­wis­sen­schaf­ten an die Stel­le der Kir­che set­zen zu kön­nen und “alles” ist gut. Wis­sen­schaft kann aber Reli­gi­on gar nicht erset­zen. Außer­dem gehör­ten dann auch die Gei­stes­wis­sen­schaf­ten dazu.

Da man dann aber selbst den­ken und sich bil­den müß­te, bleibt man lie­ber auf der “siche­ren” Sei­te, bei “den” Fak­ten und ver­paßt letzt­lich alles, was Wert wäre, gelebt, emp­fun­den, gefei­ert, geliebt und sogar gehei­ligt zu werden. 

Die Natur­wis­sen­schaf­ten haben die Welt nur ent­zau­bert und eine lee­re Welt geschaf­fen, in der dann ein nihi­li­sti­scher Natu­ra­lis­mus die Leu­te erschreckt. Wich­tig wäre, daß Natur­wis­sen­schaft­ler nicht über Sachen reden, für die sie nicht zustän­dig sind. – Wie Juri Gaga­rin, der erste Kos­mo­naut, der getreu sei­ner Par­tei ver­laut­ba­ren ließ. Er wäre nach ein paar Erd­um­run­dun­gen nun schon ziem­lich weit im Kos­mos her­um­ge­kom­men, Gott habe er jedoch nicht gese­hen. – Hei­li­ge Einfalt!

Es gibt nicht nur Mate­rie, son­dern auch Geist, und wie man sieht, auch die Dis­zi­plin der Geist­lo­sig­keit. – Es gibt nicht nur natur­wis­sen­schaft­li­che Fak­ten, son­dern auch Nar­ra­ti­ve. Das ist übri­gens das, was in ande­ren Kul­tu­ren als der “Geist der Ahnen” bezeich­net wird. Es sind die Nar­ra­ti­ve, in denen die­ser “Geist” auf­be­wahrt wird, so daß man ihn jeder­zeit zu Rate zie­hen kann, in den alten Geschichten. 

Es gibt nicht nur Kör­per und Psy­che, son­dern auch Leib und See­le. Und dann gibt es auch noch den Geist. 

Vor allem der Unter­schied zwi­schen Psy­che und See­le hat es mir in letz­ter Zeit ange­tan. Um die Coro­na-Kri­se über­haupt noch ver­ste­hen zu kön­nen, habe ich gute alte Begrif­fe wie­der reak­ti­viert, so daß ich sie nun aktiv ver­wen­de. Es sind die Begrif­fe “Leib, See­le” und “Geist”.

Ich ver­mu­te näm­lich, daß die Psy­che wohl eher ein Teil unse­res Mas­ken­spiel ist. Sie ist also nicht so authen­tisch, wie wir glauben. 

Die Psy­che ist eher wie das “schlech­te Pferd” in Pla­tons See­len­wa­gen. – Wenn die­se Hypo­the­se stimmt, dann wäre die Psy­che ein Teil der “Mas­ke”, wie wir sie tra­gen, um uns selbst und ande­ren etwas vorzumachen. 

Wäh­rend die Psy­che viel Wert legt auf Äußer­lich­kei­ten, ob die Insze­nie­rung stimmt und den Vor­bil­dern aus maß­geb­li­chen Film­sze­nen “gerecht” wer­den kann. Legt die See­le, wenn man wie­der­um Pla­ton folgt, gro­ßen Wert auf das, was der Psy­che oft nur nach­ge­sagt wird, ech­te Gefüh­le, wirk­li­che Ver­bun­den­heit, wah­re Authen­ti­zi­tät, tie­fes Verstehen. 

Das ist alles nicht schlimm son­dern völ­lig in Ord­nung: Wir brau­chen alles, Mecha­nik, Mate­rie, Natur­wis­sen­schaf­ten, Fak­ten, Nar­ra­ti­ve, Psy­che, See­le und Geist. – Man soll­te nur eben immer auch wenig­stens ahnen, wor­auf es jeweils ankom­men könn­te, auf wel­cher Ebe­ne ein Phä­no­men ange­spro­chen wer­den muß. 

Wenn man in die­sen Ange­le­gen­hei­ten etwas bes­ser unter­schei­den möch­te, dann emp­feh­le ich Pla­ton. – Es ist berückend, wenn er im “Phai­dros” erklärt, was mit der See­le ist. 

Das wird ein­mal ver­an­schau­licht durch einen See­len­wa­gen, der von zwei Pfer­den gezo­gen und von einem Wagen­len­ker geführ­ten wird. Dabei wird die Bedeu­tung von Schön­heit und Lie­be für die See­le und deren Wie­der­ge­burt zur Dar­stel­lung gebracht.

Ein­mal in tau­send Jah­ren bre­chen die Göt­ter zum Tri­umph­zug über das Fir­ma­ment, über die Milch­stra­ße, auf, um bis an die Gren­zen die­ser Welt vor­zu­drin­gen, um im Jen­seits vom Jen­seits die Ideen zu schau­en. Mit dabei sind auch Men­schen, die aber Mühe und Not haben, gewis­se, schwie­ri­ge Him­mel­s­pas­sa­gen zu mei­stern, mit einem guten und einem schlech­ten Pferd. – Das ist der Plot.

Ich habe schon oft dar­über phi­lo­so­phiert, geschrie­ben und Vor­trä­ge gehal­ten, aber das Ori­gi­nal ist eben Pla­ton. – Es ist schön zu sehen, was er gese­hen hat.


Demut schützt vor Hybris

Hochmut kommt vor dem Fall

Es ist mehr als nur eine Geste der Beschei­den­heit, es ist auch eine Ver­nei­gung, wenn man kon­sta­tiert, bei aller Grö­ße sei man selbst nun auch nicht vor­aus­set­zungs­los. — Wie irre muß man eigent­lich sein, das als Demü­ti­gung zu emp­fin­den. Tat­säch­lich geht es um die Wür­de der Gesellschaft.

Ähn­lich irre mei­nen ja auch Ver­tre­ter der Wirt­schaft, daß sie der Gesell­schaft von Nut­zen sei, ein­fach weil sie Geschäf­te macht, um dabei die Infra­struk­tur, die Bil­dung, das Recht­sy­stem und die Infra­struk­tur ein­fach kosten­los zu nut­zen. Wie­so soll man sich denn an den Vor­aus­set­zun­gen beteiligen?

Das ist auch die wirk­lich gemein­ge­fähr­li­che Visi­on der Super­rei­chen, die offen­bar dabei sind, genau die­se Dys­to­pie wirk­lich wer­den zu las­sen. — Die Gated com­mu­ni­ty, die geschlos­se­nen und bewach­ten Wohn­an­la­gen, in denen Pri­vat­recht herrscht, sind bereits das erste Zei­chen die­ser unheil­vol­len Ent­wick­lung. Dort gibt es ja schon Pri­vat­po­li­zei, wie wäre es denn mit einem eige­nen Rechtssystem?

Es ist ein Gebot von Demut und Beschei­den­heit, gene­rell anzu­er­ken­nen, daß das, was man ist, kann und gelei­stet hat, ob Gewinn oder Ver­lust, Sieg oder Nie­der­la­ge, im Zwei­fels­fall den Göt­tern oder son­sti­gen höhe­ren Mäch­ten zu ver­dan­ken ist. Wo das nicht geschieht, dort wird es immer gefähr­li­cher, denn dann kommt Hybris auf. Das ist nicht nur Hoch­mut, son­dern Dumm­heit, weil man sich und die eige­nen Kom­pe­ten­zen dabei ganz erheb­lich über­schätzt. Natür­lich muß es dann zu Kata­stro­phen kommen.

Die Demuts­for­mel von den „Vor­aus­set­zun­gen, die man selbst nicht geschaf­fen hat“, muß wirk­lich von Her­zen kom­men. Denn dann ver­steht man sich als das, was man ist, ein ziem­lich klei­nes Teil eines reich­lich gro­ßen Gan­zen, das man nicht nur nicht in der Hand hat, son­dern zumeist nicht ein­mal ver­steht. Ich emp­feh­le zunächst eine Roß­kur mit Luhmann–Lektüre gera­de für Welt­ver­bes­se­rer, wie ich selbst einer bin. Und dar­über hin­aus muß auf jeden Fall sehr viel mehr Phi­lo­so­phie in die öffent­li­chen Debat­ten, denn es ist ein­fach ganz schreck­lich, was da so tag­ein tag­aus an Böcken geschos­sen wird. Als wür­de neu­er­dings man­geln­des Den­ken belohnt.

Es besteht die Gefahr, daß man mit dem besten Wil­len und noch bes­se­ren Absich­ten ganz schlim­mes Unheil anrich­ten kann. — Daher hat man die Gewal­ten­tei­lung erfun­den und den Mono­the­is­mus auf der Ebe­ne von Staats­theo­rie und Rechts­phi­lo­so­phie schon seit lan­gem über­wun­den. Nur, daß die Leu­te es nicht ver­ste­hen, weil sie größ­ten­teils noch in Mär­chen­wel­ten leben. Immer­zu wird gequatscht, wie im Kin­der­gar­ten, es soll­ten für alle die­sel­ben Regeln herr­schen, das müs­se doch alles zen­tra­li­stisch, aus einem Guß, ohne Aus­nah­men, selbst­ver­ständ­lich mit har­tem, här­te­stem, ach, dra­ko­ni­schen Maß­nah­men. Seufz. — Nein!

Das Gegen­teil ist rich­tig. Auch Schwarm­in­tel­li­genz braucht erst ein­mal Zeit, sich zu ent­wickeln und eine gute Päd­ago­gik, die Gele­gen­hei­ten schafft, daß sie sich auch ent­fal­ten kann.

Was tut man, das Gegen­teil. Jetzt soll auch noch tele­gram ver­bo­ten wer­den, so wie es den tota­li­tä­ren Staa­ten nun auch nicht gefällt, daß die Leu­te ein­fach so, also unkon­trol­liert mit­ein­an­der reden. Sor­ry, geht es noch?

Das Gegen­zeit ist rich­tig! Es soll eine arg­wöh­ni­sche und eifer­süch­ti­ge Feind­schaft zwi­schen den staat­li­chen Gewal­ten herr­schen! Es soll, darf und kann nicht alles in einer Hand lie­gen. – Die­se Lek­ti­on soll­ten alle aus der Geschich­te längst bezo­gen haben.

Wie­so kommt das Gesund­heits­amt in Mainz die­ser Tage einer Bit­te der Poli­zei nach und simu­liert einen Infek­ti­ons­fall, um an Daten der Luca-App zu kom­men, um eine Straf­tat auf­zu­klä­ren? Ich habe mei­ne Teil­nah­me nun­mehr deinstal­liert. — Wer „prag­ma­tisch“ wird, ist nur ein Mensch ohne Prin­zi­pi­en und soll­te gar nicht in Staats­dien­ste über­nom­men wer­den. Wo zum Prag­ma­tis­mus auf­ge­for­dert wird, wol­len Leu­te pfu­schen und nur das. War­um, weil sie die Demuts­for­mel nicht beherrschen.

Das Leben ist kom­pli­zier­ter und auch das Ver­hält­nis zwi­schen Staat, Gesell­schaft, Gemein­schaft und Iden­ti­tät ist es. Es ist ein­fach gro­ber Unfug, wenn so getan wird, Gesell­schaft und Staat, das alles sei das­sel­be. Nein, ist es über­haupt nicht! – Im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on haben Köni­ge klei­ne Häupt­lings­tü­mer unter­wor­fen und in Gesell­schaf­ten gezwun­gen. So sind die ersten Staa­ten entstanden.

Staa­ten sind in die­sem Sin­ne noch immer die Unter­drücker gan­zer Gesell­schaf­ten und die Unter­jo­cher von Gemein­schaf­ten, die dann als Min­der­hei­ten titu­liert und dar­über hin­aus ver­un­glimpft und ent­mensch­licht wer­den. Das sieht man allent­hal­ben aber nun auch immer unver­blüm­ter im angeb­lich frei­en Westen. Im Westen galt bis­her noch ein gewis­ser Stil.

Der Staat lebt nicht für, son­dern von der Gesell­schaft, eben­so wie die Wirt­schaft. Sie ist die Kuh, die alle besit­zen, mel­ken und am lieb­sten schlach­ten würden. 

Im wohl­ver­stan­de­nen eige­nen Inter­es­se ist jedoch wärm­stens zu emp­feh­len, sich die Demuts­for­mel zu Her­zen zu neh­men. Denn ein Para­sit ohne Wirt sieht alt aus. Es wäre viel klü­ger, wenn der Para­sit zum Sym­bi­onten wird. Genau das steckt ja auch hin­ter der Gewal­ten­tei­lung. Und die­ses Thea­ter wird auch schon häu­fig insze­niert. Es kommt aber noch immer nicht von Herzen.

Die uralte Bru­ta­li­tät, die übri­gens erst mit der Zivi­li­sa­ti­on in die Welt gekom­men ist, schlägt noch immer durch. — Daher nun mal kein histo­ri­scher Ver­gleich, son­dern eine Allegorie.

Der Staat ist ein Schlä­ger, immer schon, ein bru­ta­ler Aus­beu­ter und nicht eben ein Freund der Gesell­schaft, son­dern ihr Unter­drücker, eigent­lich ihr Zuhäl­ter. Natür­lich ist die­sem am Wohl­erge­hen sei­ner „Lieb­ste“ gele­gen. — Aber wie macht man dar­aus all­mäh­lich ein aus­ge­wo­ge­nes Verhältnis?

Wie oft ist es allein in den letz­ten 200 Jah­ren dazu gekom­men, daß der Staat die Gesell­schaft miß­braucht, geschän­det, ver­kauft, geschä­digt, aus­ge­beu­tet, ernied­rigt und auf den fal­schen Weg geführt hat? Her­aus aus dem Glück und der Hoch­kul­tur in der Auf­bruch­stim­mung um 1900, hin­ein in den Krieg. War­um? Weil eine „Éli­te“ kei­ne Demo­kra­ti­sie­rung woll­te. — Moder­ne ja, aber nur nach mili­ta­ri­sti­scher Manier, spä­ter dann als Faschis­mus. Man will die Vor­zü­ge, aber nicht die Nacht­tei­le, näm­lich „mehr Demo­kra­tie“ wagen.

„Das Geheim­nis des Glücks ist die Frei­heit, und das Geheim­nis der Frei­heit ist der Mut.“ (Peri­kles, um 500 – 429 v. Chr., athe­ni­scher Poli­ti­ker und Feld­herr, Quel­le: Thuky­di­des, Geschich­te des Pelo­pon­ne­si­schen Krieges.)

Genau das spiel­te sich damals ab im alten Athen, als die Grie­chen sich gegen die über­mäch­ti­gen Per­ser weh­ren muß­ten. Sogar das Ora­kel von Del­phi lag falsch. Natür­lich war es unwahr­schein­lich, daß die Grie­chen das durch­stün­den. Aber es gab da einen Mann namens Peri­kles, ein begna­de­tet Stra­te­ge und Rhe­tor, der dafür sorg­te, daß der gemei­ne Mann auf eige­ne Kosten mit in den Krieg zog und nicht nur der Adel, der ja im Zwei­fels­fal­le doch ein wenig schwach ist, wenn es wirk­lich dar­auf ankommt. 

Aber und das ist der Gag: Also for­der­te der gemei­ne Mann dann aber auch bei der Herr­schaft im Staat mit­zu­wir­ken. So ent­stand die erste Demo­kra­tie, in der nicht in Ämter gewählt wur­de, son­dern sie wur­den ver­lost und es war Pflicht, dem nach­zu­kom­men. Man soll­te viel­leicht wie­der das Los ent­schei­den las­sen, dann hät­te das Glück wenig­stens eine Chance.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt trägt den größ­ten Teil der Ver­ant­wor­tung für den Nie­der­gang der Demo­kra­tie in der Corona–Krise, für die Spal­tung der Gesell­schaft und dafür, daß die Poli­tik inzwi­schen über Hecken und Zäu­ne geht. Es wäre an der Zeit gewe­sen, die Demuts­for­mel in Erin­ne­rung zu rufen und zu kon­sta­tie­ren, daß der Zweck die Mit­tel nicht hei­li­gen kann, wenn es gegen Grund­ge­set­ze geht und ein­fach alles, was hei­lig ist.

Franz von Stuck: Dis­so­nanz (1910).

Hät­te das nicht mehr ehren­wer­te Gericht doch die Poli­tik in Gren­zen ver­wie­sen. Das hät­te die Poli­tik ent­la­stet, denn sie hät­te immer sagen kön­nen, es sei­en ihr nun mal die Hän­de gebun­den. Sie kön­ne nur und müs­sen daher mehr Eigen­ver­ant­wor­tung wagen, der Staat wäre dar­auf ange­wie­sen, daß die Gesell­schaft ihm Vor­aus­set­zun­gen schafft, die er nicht her­bei­zwin­gen kann.

Schön wäre es gewe­sen, wir hät­ten dann eine Zivil­ge­sell­schaft mit Ach­tung vor dem Gesetz und der Gesell­schaft und vor Anders­den­ken­den bekom­men. Wir hät­ten eine Soli­dar­ge­mein­schaft, die heu­te nur noch ange­führt wird, um Druck gegen Anders­den­ken­de zu erzeu­gen. Wir hät­ten den Schritt vom Obrig­keits­staat in die Zivil­ge­sell­schaft geschafft, das wäre nach 1989 so etwas gewe­sen wie eine Meta­mor­pho­se. Aus der häß­li­chen Rau­pe der Deut­schen wäre ein Schmet­ter­ling geworden…

Klingt das zu naiv, nun, naiv sind vor allem die Mora­li­sten die­ser Tage, denn sie geben vor, alles abzu­wä­gen, dabei sind sie nur Denk­ver­wei­ge­rer. Und so fragt man sich: Was ist schlim­mer, Quer­den­ken oder Nichtdenken?


Berühren verboten!

Aber Gedanken sind frei

Der Ver­lust an Nähe ist das eigent­li­che Pro­blem. Ein Eis­berg, von man die Tie­fen nur ahnen kann.

Seit Ischgl wis­sen wir, es kommt auf die Virus­last an. Man infi­ziert sich kaum im Vor­bei­ge­hen, auf die Gefah­ren der Nähe kommt es an.

Kul­tur ist am Feu­er ent­stan­den. Vor­ne wird man gut ange­bra­ten und von hin­ten friert es. Also rückt man noch näher anein­an­der und reibt sich gegen­sei­tig den Rücken. Und dazu wer­den berau­schen­de Sub­stan­zen gereicht. Man starrt wie hyp­no­ti­siert ins Feu­er, öff­net sich dem Ande­ren, dann wird erzählt…

So sind die ersten Geschich­ten der Mensch­heit aus­ge­tauscht wor­den. Und wäh­rend man da so sitzt, krei­sen drum­her­um die Unge­heu­er. Woh­li­ge Schau­er lau­fen über den Rücken. Das ist Geborgenheit.

Und dann steckt man die Köp­fe zusam­men. Wie oft saßen wir näch­te­lang schwit­zend bei­ein­an­der. Im Nebel aller erdenk­li­cher Kör­per­aus­dün­stun­gen.  Men­schen sind Säu­ge­tie­re, sie machen sehr viel mit der Nase. Auch die Wahl von Part­nern und Freun­den geht über den Geruch.

Aber jetzt traut man sich nicht ein­mal mehr, die Nasen­flü­gel zu blä­hen. Es liegt womög­lich Coro­na in der Luft. Also bes­ser nicht all­zu tief und frei atmen. Als wäre Nähe inzwi­schen nur noch etwas für Lebensmüde. 

John Col­lier: Cir­ce (1885).

Was der Ver­lust an Nähe mit den Men­schen macht, dürf­te eben­so gefähr­lich sein, wie die Äng­ste, die Kin­der in den Sui­zid trei­ben. Wie soll man Kin­dern, Demen­ten und Ster­ben­den erklä­ren, daß Nähe gefähr­lich gewor­den ist.

Es ist, wie eine Umpro­gram­mie­rung. Man soll Nähe zulas­sen, sich berüh­ren las­sen, empa­thisch sein, ande­re auch gern ein­fach umar­men, weil es mehr ist als eine Geste, es ist ein Bekennt­nis der Mit­mensch­lich­keit.  Und jetzt?

Das ist wohl der Grund, war­um der Haß immer grö­ßer wird.

Berüh­ren ver­bo­ten! Nähe ist ver­däch­tig geworden.

Kul­tur ist Nähe, also gefähr­lich. Den­ken sowieso.

Aber Phi­lo­so­phie fin­det im Kopf statt. Die Gedan­ken sind frei.


Verstehen

Über Sacha Lobos „Denkpest“

und die Steingärten des Denkens

Han­nah Are­ndt stell­te sich im Inter­view mit Gün­ther Gaus vor mit dem Satz: „Ich will ver­ste­hen!“ Das spricht mir aus dem Her­zen. Ich muß, was ich ver­ste­hen will, über­haupt nicht tei­len und der­sel­ben Mei­nung sein. Ich muß es nur nach­voll­zie­hen kön­nen, denn Ver­ste­hen ist eine Art Mit–Sein. Nicht–Verstehen, Unver­ständ­nis, Falsch­ver­ste­hen, Miß­ver­ste­hen, das alles ist pro­ble­ma­tisch und gewis­ser­ma­ßen unphilosophisch. 

Soll­ten wir näm­lich auf fal­scher Grund­la­ge zu einem Urteil oder zu einer Reak­ti­on gelan­gen, ist das alles natür­lich auch falsch. Wir hät­ten dann ja rein gar nichts ver­stan­den, glaub­ten aber den­noch, dar­über auch noch abschlie­ßend urtei­len zu kön­nen.  Die Kunst des Zuschau­ers ver­langt daher, ohne Ansicht der Per­son, der Par­tei und auch ohne Anse­hen der eige­nen Vor­ur­tei­le mög­lichst alles in Betracht zu ziehen. 

In der Denk­pra­xis ist das binä­re Kodie­ren, wonach alles ent­we­der ganz wahr oder ganz falsch ist, natür­lich völ­lig naiv. Es gibt immer irgend­ein Fünk­chen Wahr­heit und sei es noch so klein.

Ein Wort von Sacha Lobo die­ser Tage läßt tief durch­blicken und erah­nen, wie mili­tant Par­tei­lich­keit prak­ti­ziert wird. Er spricht allen Ern­stes von der „Denk­pest“ die­ser Tage. Er meint wohl, ande­re sol­len nicht so viel nach­den­ken, es sei denn, man däch­te das Den­ken der Vor­be­ter, wie er einer ist. Den­ken ist aber nun mal kein Nachbeten.

Ich habe mehr­fach in mei­nem Buch ernst­haf­te Ver­su­che unter­nom­men, den Gip­fel der Ver­schwö­rungs­theo­rien zu erklim­men, den QAnon-Mythos. Der Mega–Plot hat was, denn wir leben ja angeb­lich darin.

Das ist ja alles auch span­nend: Also, in der Nähe des ein­zig wah­ren Prä­si­den­ten Trump soll sich ein gewis­ser Herr Q auf­hal­ten, der wie ein guter Geist die­sem geschei­te­sten aller Prä­si­den­ten dabei hel­fen soll, den „Deep Sta­te“, den Sumpf einer ver­schwo­re­nen Éli­te und das gan­ze Macht­kar­tell ihrer Pri­vi­le­gi­en aus­zu­trock­nen. Anwei­sung von der Regie: Bit­te nicht dar­auf ach­ten, daß Trump doch selbst einer von denen ist…

Gene­ral­an­wei­sung der Regie: Gene­rell bit­te nicht zu sehr auf Wider­sprü­che und vor allem nicht auf Selbst­wi­der­sprü­che ach­ten. Auch das Ock­hams Rasier­mes­ser, also das Prin­zip der Den­k­öko­no­mie, darf vor­erst nicht zum Ein­satz kom­men! Es gibt eine gan­ze Rei­he phi­lo­so­phi­scher Metho­den, die bei die­sem Selbst­ver­such nicht zum Ein­satz kom­men dür­fen, will man den Gip­fel die­ser Ver­schwö­rung erklimmen.

Die Kunst des Zuschau­ers macht es erfor­der­lich, jede belie­bi­ge Per­spek­ti­ve ein­neh­men zu kön­nen, also auch sol­che. Es ist aller­dings aben­teu­er­lich, dort über­haupt hin­zu­ge­lan­gen. Am besten ver­sorgt man sich gleich zu Beginn die­ses Weges mit pas­sen­den Alle­go­rien. Zum Bei­spiel wirkt der Weg, um auf den Berg die­ser Ver­schwö­rung zu kom­men, eher mär­chen­haft. Es scheint, als wäre es eine ver­rück­te Welt, bes­ser noch, als wäre es nicht wirk­lich die­se Welt, son­dern eine mit sehr viel Phan­ta­sie und Absurditäten.

Das fiel mir auf, als ich heu­te einen Arti­kel las über die­sen QAnon–Schamanen beim Sturm auf das Kapi­tol. Ich habe sodann ver­sucht, mir  aus sei­ner Per­spek­ti­ve  sei­ne Moti­ve zu eige­nen zu machen, ohne sie zu tei­len. Ich will ein­fach nur ver­ste­hen, wie man ticken muß, um wie er zu sein.

Es sei kein Angriff auf die­ses Land gewe­sen, das sei nicht sein Motiv, sag­te Jake Ange­li dem US-Sen­der CBS News in sei­nem ersten Inter­view nach sei­ner Ver­haf­tung. „Ich habe ein Lied gesun­gen, das ist Teil des Scha­ma­nis­mus. Es geht dar­um, posi­ti­ve Ener­gie in einer hei­li­gen Kam­mer zu erzeu­gen“. Sei­ne Absicht sei es gewe­sen, „Gott zurück in den Senat zu brin­gen“. Des­we­gen habe er dort „ein Gebet gespro­chen.“ Nun das klingt sub­jek­tiv glaubwürdig. 

Er wuß­te also, daß er einen Ort mit gro­ßer Bedeu­tung doch eigent­lich als Unbe­ru­fe­ner ein­fach so besetzt und damit doch viel­leicht eher selbst ent­weiht hat. Ich hät­te nicht übel Lust auf einen Dis­put mit ihm genau darüber.

Übri­gens kom­men jetzt gewiß bei eini­gen Nicht–Facklern und Durch­grei­fern die übli­chen For­mu­lie­run­gen auf wie: „Spielt doch kei­ne Rol­le, was er sich dabei gedacht hat. Ab ins Gefäng­nis und Schluß mit der Debatte!“

Vor­sicht, das Bild die­ses sin­gen­den QAnon–Schamanen ist zur Iko­ne gewor­den, viel­leicht auch, weil es das schlech­te Gewis­sen bedient, den india­ni­schen Urein­woh­nern gegen­über. Die­se Bil­di­ko­ne ist in aller Köp­fe und wirkt, auch auf die stol­zen Besit­zer von Stein­gär­ten des Den­kens, in denen garan­tiert nichts mehr wächst.

Aber genau dar­um geht es doch eigent­lich: Gedan­ken anzu­züch­ten wie in der Infek­tio­lo­gie, um zu sehen, was sie eigent­lich für wel­che sind. Und natür­lich tref­fen auch Phi­lo­so­phen ihre Schutz­maß­nah­men.  Ich muß zuge­ben, daß das Ver­ste­hen-Wol­len manch­mal etwas zu viel wird. Mir ist mehr­fach wie bei einem kollos­sa­len System­feh­ler das gan­ze Den­ken zusam­men­ge­bro­chen. Rat­sam wäre es, wenig­stens nicht auch noch an den Ästen sägen, auf denen man gera­de sitzt.

Nun macht das Ver­schwö­rungs­den­ken ja des­we­gen so gro­ße Pro­ble­me, weil man es „nach­woll­zie­hen“ will, um es aus sei­ner Per­spek­ti­ve zu ver­ste­hen, weil aber immer­zu behaup­tet wird, das alles sei wirk­lich wirk­lich wirk­lich. Also das mit der Piz­ze­ria, in deren Kel­ler klei­ne Kin­der ver­kauft wer­den, das mit der Schup­pen­haut von “Bill Gates”, den ich in sei­ner Rol­le als ange­maß­ter Welt­ge­sund­heits­mi­ni­ster völ­lig inak­zep­ta­bel fin­de, das mit dem “Deep Sta­te” oder auch das mit dem “Gre­at Reset”, also dem „Men­schen­aus­tausch“. 

Alle die­se Theo­re­me brin­gen den­ke­risch ganz erheb­li­che Bela­stun­gen mit sich, es sind Attacken, die schnell zur System­über­la­stung füh­ren, so daß zusam­men­bre­chen muß, was eigent­lich obli­ga­to­risch wäre. Das macht die Gesprä­che mit akti­ven Verschwörungstheorie–Anhängern so schwie­rig, weil man schnell kon­fus wird dar­über, daß sie von eins aufs ande­re kom­men. Alles hängt mit allem zusam­men, gewiß, nur sieht man es auch beim besten Wil­len nicht. 

Mein Lieb­lings­satz aus der Etho­lo­gie lau­tet fol­gen­der­ma­ßen: Der Scha­ma­ne Kat­ka sieht auf einem Baum eine Hexe. Ich sehe, wie Kat­ka die Hexe sieht, sehe aber selbst die Hexe nicht. Nun damit soll­te man schon klar­kom­men, als Eth­no­lo­ge und auch als Philosoph.

Mit dem hypo­the­ti­schen Für-Wahr-Hal­ten ist das so eine Sache. Da irren die Stein­gar­ten-Besit­zer nicht. Und die Denk­pest von Sacha Lobo for­dert tat­säch­lich ihre Opfer, wenn man denn kei­ne Metho­den hat und noch dazu die Hosen voll. Es könn­te sich ja irgend­was Unge­heu­er­li­ches als wahr her­aus­stel­len und was dann? Daher die Stein­gär­ten, in denen gleich gar nichts wächst. 

Aber ich habe mich nie damit zufrie­den­ge­ge­ben, nur über Ver­schwö­rungs­theo­rie zu reden und mich dar­über bil­lig zu amü­sie­ren. Ich habe es mehr­fach und immer wie­der anders ver­sucht, obwohl so ein Break­down ziem­lich viel kostet. Es dau­ert, bis man danach eini­ger­ma­ßen auf der Höhe ist und sich wie­der selbst über den Weg trau­en kann, von wegen: All Systems Running.

Ich hat­te bereits bei vor­an­ge­gan­ge­nen Unter­su­chun­gen fest­stel­len kön­nen, daß man­che der Ereig­nis­se, von denen in den Verschwörungs–Theoremen gespro­chen wird, tat­säch­lich in der Mensch­heits­ge­schich­te vor­ge­kom­men sind, wie etwas der “Menschen–Austausch”, etwa mehr­fach durch die Pest oder auch durch die Sint­flut, also den Ein­bruch des Schwar­zen Mee­res, was inzwi­schen nach­weis­bar gewor­den ist. 

Mit der Hypo­the­se, daß wir das alles prä­sent haben im kol­lek­ti­ven Unbe­wuß­ten, läßt sich dann auch nach­voll­zie­hen, war­um die­se Hor­ror­vor­stel­lun­gen prä­sen­ter erschei­nen als sie es sind. Das ist dann auch der ent­schei­den­de Aspekt, daß so etwas statt­fin­den kann und auch bereits gesche­hen ist, daß man aber  jetzt kommt Ock­hams Rasier­mes­ser doch zum Ein­satz nicht ohne wei­te­res behaup­ten darf, daß bei­spiels­wei­se jetzt der “Gre­at Reset” wie­der unmit­tel­bar bevorstünde.

Man macht die­se Behaup­tung gern fest anhand eines Appells von Klaus Schwab, dem Lei­ter des Bon­zen­fe­sti­vals in Davos, genannt Welt­wirt­schafts­fo­rum. Auch da läßt sich die Per­spek­ti­ve durch­aus über­neh­men. Es ist vom „Gre­at Reset“ die Rede, weil es um die men­schen­ge­mach­te Welt öko­lo­gisch, öko­no­misch und poli­tisch über­haupt nicht gut­steht. Es braucht in der Tat einen Kurs­wech­sel, ein Update, einen Reboot, um die Meta­pher voll zur Gel­tung zu brin­gen. Aber nun anzu­neh­men, es käme dabei auf einen Gen–Austausch etc. an, ist reich­lich bei den Haa­ren her­bei­ge­zo­gen und bedürf­te daher eigens einer hin­rei­chen­den Begrün­dung, war­um das denn doch gel­ten soll, war­um die­se Behaup­tung glaub­haft sein soll.

So weit so gut. Das genügt mir aber noch nicht, denn es ist noch nicht hin­rei­chend für das Ver­ste­hen. Bis ich heu­te dar­auf kam, wie man auch und ganz bewußt mit Ver­schwö­rungs­theo­rien umge­hen könnte.

Es sind Träu­me. Daher haben sie alle Rech­te von Träu­men und so gut wie kei­ne Pflich­ten. Denn Träu­me machen ja nun wirk­lich, was sie wol­len. Und dabei regen wir uns auch nicht dar­über auf, daß sie wirr sind, unrea­li­stisch, blöd­sin­nig und sonst­wie für den hemds­är­me­li­gen Intel­lekt ein­fach ein Ärger­nis, weil er nicht weiß, wie und wo er anpacken soll.

Anders geht damit jedoch unser Geist um, über den wir auch ver­fü­gen soll­ten, falls wir kei­ne stol­zen Steingarten–Besitzer sind und auch nicht Sacha Lobo hei­ßen. Der Geist kann mit­un­ter Träu­me deu­ten, und das ist die Lösung des Pro­blems. Es sind „Träu­me“, zumeist Hor­ror­träu­me, oft ohne Sinn und Bot­schaft aber auch das ist ja nun etwas, das wir den Träu­men zuge­ste­hen müs­sen. Wir soll­ten die Zei­chen dar­in sehen und erken­nen, um ihnen die Bedeu­tung zuzu­ge­ste­hen, wie wir sie manch­mal auch Träu­men geben, wenn sie uns etwas zu Ver­ste­hen geben, zumeist auf sym­bo­li­scher Ebene. 

Am Ende kommt es dar­auf an, was der Zuschau­er im Rücken des Zuschau­ers sieht. Was er glaubt, ganz all­mäh­lich ver­ste­hen und dann sogar auch in eige­nen Wor­ten ver­tre­ten zu kön­nen. Das ist dann wie­der­um der Abstieg aus den mas­si­ven Gebir­gen unse­rer Phan­ta­sien, die wer weiß wo in den unend­li­chen Wei­ten unse­res Unbe­wuß­ten zu besu­chen sind, denn dort sind sie in der Tat „real“. 

Es liegt an den Gren­zen der Spra­che, denn zumeist feh­len ein­fach die Wor­te. Und im übri­gen regelt die Gram­ma­tik das Pri­vi­leg der Phä­no­me­ne gene­rell, ob sie für die Wirk­lich­keit über­haupt in Fra­ge kom­men. Wir kön­nen aber nun unser Den­ken nicht erwei­tern, wenn wir uns von der Gram­ma­tik das Denk­mög­li­che vor­be­ten las­sen. Die deut­sche Spra­che hat eini­ge Ent­wick­lun­gen noch nicht genom­men. Sie ver­fügt über kei­nen Irrea­lis als eigen­stän­di­gen Modus, jedoch über das Konzept. 

Der Kon­junk­tiv II kann dazu benutzt wer­den, einen Irrea­lis der Gegen­wart und einen Irrea­lis der Ver­gan­gen­heit zu bil­den, der als irrea­les bzw. uner­füll­ba­res Kon­di­tio­nal­ge­fü­ge erscheint:

Wenn ich gedank­lich reich wäre, also kei­nen Stein­gar­ten des Den­kens hät­te und auch nicht Sacha Lobo hie­ße, böten sich mir mehr Mög­lich­kei­ten des Ver­ste­hens. (Irrea­lis der Gegen­wart, mit Kon­junk­tiv II)


Georg Stefan Troller zum Hundertsten

Sich auf das Verstehen verstehen

Er hat mich geprägt, denn er zeigt immer wie­der, wie Ver­ste­hen mög­lich ist und wie fan­ta­stisch es sein kann. Dabei ist sein Ver­ständ­nis oft etwas mut­wil­lig her­ge­holt, aber genau damit wird er zum Vorbild. 

Ja, man kann ver­ste­hen, muß sich aber nicht gleich­ma­chen. Aber viel­leicht war und ist es ja auch “nur” die Son­ne in sei­nem Her­zen und das bei die­sem Lebens­weg, – viel­leicht auch gera­de deswegen.

Die­ses Niveau ist ein­ma­lig. Der freund­li­che, leicht iro­ni­sche Unter­ton, das stets bereit­wil­li­ge Under­state­ment, das zur Not auch betont hemds­är­me­lig daher­kommt, von wegen, es müs­se doch wohl so sein…  Das ist höch­ste Kunst der Begeg­nung. Dabei kommt alles so leicht­sin­nig und fla­neurhaft daher, aber es wer­den Tie­fen erreicht, die oft nicht ein­mal erahnt werden.
Es ist schon bestechend, dabei zu sein, um mit­zu­er­le­ben, wie leicht man auf wirk­lich Wich­ti­ges kommt ohne die­se strom­li­ni­en­för­mi­ge Ober­fläch­lich­keit, die nur so tut, als wäre da Tie­fe. Dann die­ser Ton mit einer ver­locken­den Kom­pli­zen­schaft für den Zuschau­er, der mit ihm gern auf Erkun­dung. Man ver­traut sich gern an.
Da weiß einer sehr viel zu erzäh­len und ver­steht sich auf das Ver­ste­hen und das auch noch in gro­tes­ken Begeg­nun­gen. Man spürt, wie eine Zeit auf die ande­re folgt im Sau­se­schritt. Stets sind es berei­chern­de Begeg­nun­gen und Erfah­run­gen, die sogleich ein Teil wer­den, als hät­te man es selbst erlebt. 
Trol­ler tut das, was die Mythen immer schon woll­ten: Welt­ver­trau­en schaf­fen auf der Grund­la­ge eines Under­state­ments, das es sich lei­sten kann, sich zu riskieren.
Herz­li­chen Glück­wunsch, Georg Ste­fan Troller!

Kunst, Künstler und Gesellschaft

Video: Anmerkungen zum Projekt Hawerkamp

Seit 1988/89 hat sich auf dem ehe­ma­li­gen Gewer­be­ge­län­de „Am Hawerk­amp“ in Mün­ster mit städ­ti­scher Dul­dung bzw. Unter­stüt­zung ein „Kul­tur­ge­län­de“ ent­wickelt. Dort fin­den sich Ate­liers für Künst­ler, Clubs, Büh­nen, Werk­stät­ten und Initiativen.

Der Video­künst­ler Jür­gen Hil­le hat mit „Pro­jekt Hawerk­amp“ im Früh­som­mer 2021 an die­sem Ort mit einer Rei­he von Inter­views und Film­sze­nen auf sei­ne Wei­se eine „Rea­li­täts­for­schung“ betrie­ben, um den Geist des Ortes zu charakterisieren.

Mei­ne „Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz“ fin­det sich in Sicht­wei­te, weni­ge Pro­jek­te, wie etwa mein „Public Wri­ting“ haben ich auch schon dort insze­niert.  Also wur­de ich zum Inter­view gebe­ten. Dabei nahm ich die Gele­gen­heit wahr, ein­mal das Ver­hält­nis zwi­schen Kunst, Künst­ler­tum und Gesell­schaft zur Spra­che zu bringen.

Jür­gen Hil­le: Rea­li­täts­for­schung, 2021. 

Der Ursprung von Kunst hat immer etwas Sakra­les. Sie dient dem Aus­druck einer Schön­heit, hin­ter der etwas Hei­li­ges steht.  Im Hin­ter­grund steht der wie­der­keh­ren­de Wunsch nach Begeg­nun­gen mit dem Hei­li­gen. In die­ser Tra­di­ti­on, in die­sen Dien­sten ste­hen die Kün­ste von Anfang an.

Je wei­ter der Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on vor­an­schrei­tet, umso wei­ter kommt es zur Ent­zau­be­rung der Welt. Umso mehr brau­chen wir die Kün­ste, weil sie etwas bewah­ren, was Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen auf­ge­ben, weil es jen­seits der Gren­ze zwi­schen Zivi­li­sa­ti­on und Wild­nis liegt.

Inso­fern sind Künst­ler ganz beson­de­re, nicht sel­ten eigen­ar­ti­ge Men­schen, die gern über den Zaun schau­en. Inso­fern ist es die Auf­ga­be von Kunst­wer­ken, daß sich Geheim­nis­se auf­decken.  Auf die­se beson­de­ren Begeg­nun­gen mit dem Geheim­nis­vol­len kommt es an. Daher sind sol­che Sozio­to­pe von immenser Bedeutung.

Aber unse­rer Gesell­schaft fehlt inzwi­schen bereits sehr viel mehr. Eine Welt, die nur auf Geld aus ist und glaubt, sich See­len­heil erkau­fen zu kön­nen durch Selbst­in­sze­nie­run­gen, die ohne Herz und See­le sind, ist kaum mehr zu ret­ten und eigent­lich auch nicht der Ret­tung wert.  Was die Kunst als Arbeits- und Lebens­welt vor Augen führt, ist das gera­de Gegen­teil der Auf­spal­tung in Lebens­welt und Arbeits­welt, in Leben und Gegenleben.

Die Arbeits– und Lebens­wel­ten sind offen­bar nur erträg­lich, wenn es immer wie­der „Urlaub“ von alle­dem gibt. Nur ist die­se Tren­nung selbst das Pro­blem. Wir haben Lebens­kon­zep­te, die eigent­lich gar nicht zum Leben da sind, son­dern dazu, daß wir arbei­ten und kon­su­mie­ren sol­len.  Daher ist es so schön, daß es Künst­ler gibt, die ein­fach von die­sen vor­ge­fer­tig­ten Lebens­we­gen abwei­chen, die das Ihre tun und der Gesell­schaft vor­füh­ren, was alles anders sein kann.