Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Zeitgeist

Die Sehnsucht nach der Sehnsucht

Nur wer die Sehnsucht kennt

Goethe-Lotte-Werther

Goe­the Lot­te Wert­her. Stadt– und Indu­strie­mu­se­um, Wetz­lar 2014. — Quel­le: 3StepsCrew, Gie­ssen, Ger­ma­ny via Wiki­me­dia, Lizenz: CC-BY-SA‑2.0.

Mit sei­nem Wert­her trifft Goe­the das epo­cha­le Lebens­ge­fühl jun­ger Leu­te im Span­nungs­feld zwi­schen der neu­en Emp­find­sam­keit und einer über­kom­me­nen Moral, die eigent­lich alles Per­sön­li­che im Keim erstick­te. Dage­gen grün­de­te sich die sei­ner­zeit als Lese­sucht bezeich­ne­te Suche nach den Moti­ven einer neu­en Sehn­sucht auf Indi­vi­dua­li­tät und auch auf Nar­ziss­mus. So ent­stand der neue Zeit­geist mit einem Hang zum sen­ti­men­ta­li­schen Cha­rak­ter, der erst in der Roman­tik ganz zum Aus­druck kom­men und auch sei­ne Schat­ten­sei­ten ent­wickeln sollte.

Das neu her­an­brau­sen­de Zeit­al­ter der Emp­find­sam­keit war selbst­ver­ständ­lich höchst umstrit­ten, denn damit wur­de ein ganz bedeu­ten­der Schub in der Psy­cho­ge­ne­se aus­ge­löst. Anstel­le der stets so tugend­haft und alter­na­tiv­los hin­ge­stell­ten Füg­sam­keit, sich den Anfor­de­run­gen eines über­kom­me­nen Kon­ven­tio­na­lis­mus klag­los zu über­ant­wor­ten, wur­de nun der Aus­druck eines neu­en Indi­vi­dua­lis­mus mög­lich, der Welt­schmerz und Melan­cho­lie zum Aus­druck brach­te und dabei bis zum Nar­ziss­mus füh­ren konn­te. — Die Figur des Wert­her war dabei der Pro­to­typ eines neu­en Zeit­ge­nos­sen, der mit sei­ner unstill­ba­ren Sehn­sucht, sei­nem über­bor­den­dem Nar­ziss­mus und mit sei­ner Melan­cho­lie an der herr­schen­den Moral ein­fach scheitert.

Das war eine, wenn nicht die erste ›Jugend­be­we­gung‹. Wei­te­re Reak­tio­nen in Kunst und Lite­ra­tur lie­ßen nicht auf sich war­ten. Mas­si­ve Ver­än­de­run­gen im Selbst­ver­ständ­nis und im Selbst­ver­hält­nis gin­gen damit ein­her. Es kam zur Vor­bild­funk­ti­on, zur Iden­ti­fi­ka­ti­on, zur Nach­ah­mung der Haupt­fi­gur und schließ­lich zum Werther–Kult mit einer Rei­he von Sui­zi­den oder Sui­zid­ver­su­chen. — Das war nicht nur ein Bruch mit der Tra­di­ti­on der Fremd­be­stim­mung, son­dern eine Demon­stra­ti­on des Anspruchs auf Indi­vi­dua­li­tät jen­seits der her­kömm­li­chen Moral. Und so wur­de dann auch der Selbst­mord die­ses tra­gi­schen Hel­den nicht mehr als Sün­de tabui­siert, son­dern als ›Frey­tod‹ betrach­tet, als Aus­druck einer indi­vi­du­el­len Frei­heit, sich gegen gesell­schaft­li­che Zwän­ge zu behaup­ten, indem man sich dem Wei­ter­le­ben ›ent­zieht‹.

Im Wil­helm Mei­ster wird die­se träu­men­de Sehn­sucht wei­ter zum Aus­druck gebracht, aber auch eine Nai­vi­tät, die zustan­de kommt, wo Empa­thie ohne Theo­rie ein­fach nur auf eine neue Sehn­sucht zielt, von der nicht inhalt­lich gesagt wer­den kann, was denn nun die Sehn­sucht die­ser Sehn­sucht sein soll:

Er ver­fiel in eine träu­men­de Sehn­sucht, und wie ein­stim­mend mit
sei­nen Emp­fin­dun­gen war das Lied, das eben in die­ser Stun­de Mi-
gnon und der Harf­ner als ein unre­gel­mä­ßi­ges Duett mit dem herz-
lich­sten Aus­drucke sangen:

Nur wer die Sehn­sucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh’ ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwin­delt mir, es brennt
Mein Ein­ge­wei­de.
Nur wer die Sehn­sucht kennt,
Weiß, was ich leide!

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Wil­helm Mei­sters Lehrjahre.

In: Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 7. S. 240f.)

So träumt dann Wil­helm Mei­ster noch in träu­men­der Sehn­sucht, kommt aber aus dem Lei­den am Lei­den nicht her­aus. Es bleibt bei der Sehn­sucht nach dem, was der Sehn­sucht wert ist. Und so geht Goe­thes Faust weit dar­über hin­aus: Er greift wirk­lich nach den Ster­nen und macht dabei die­je­ni­gen Welt– und Selbst–Erfahrungen, die dazu ange­tan sind, für sich selbst bes­ser wahr­neh­men zu kön­nen, was denn gewollt wer­den sollte.

Faust ist rast­los, uner­füllt, umtrie­big und vol­ler Sehn­sucht nach einer Sehn­sucht, deren Beweg­grün­de ihm selbst aber unbe­kannt sind. Er täuscht sich dar­über, was und wo denn nun das Land sei­ner Träu­me liegt, was das Ziel aller Seh­süch­te sein soll. — Im Dia­log mit der Sor­ge, die sehr melan­cho­li­sche Züge trägt, erläu­tert er die zuneh­men­de Ruhe der Weis­heit, die mit der Erfah­ren­heit einhergeht:

FAUST.
Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genüg­te, ließ ich fahren,
Was mir ent­wisch­te, ließ ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und aber­mals gewünscht und so mit Macht
Mein Leben durch­ge­stürmt; erst groß und mächtig,
Nun aber geht es wei­se, geht bedächtig.
Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
Nach drü­ben ist die Aus­sicht uns verrannt;
Tor, wer dort­hin die Augen blin­zelnd richtet,
Sich über Wol­ken sei­nes­glei­chen dichtet!
Er ste­he fest und sehe hier sich um;
Dem Tüch­ti­gen ist die­se Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewig­keit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wand­le so den Erden­tag entlang;
Wenn Gei­ster spu­ken, geh’ er sei­nen Gang,
Im Wei­ter­schrei­ten find’ er Qual und Glück,
Er, unbe­frie­digt jeden Augenblick!
SORGE.
Wen ich ein­mal mir besitze,

Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ewi­ges Düst­re steigt herunter,
Son­ne geht nicht auf noch unter,
Bei voll­kom­men äußern Sinnen
Woh­nen Fin­ster­nis­se drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er ver­hun­gert in der Fülle; …

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Faust. Eine Tra­gö­die. In: Ham­bur­ger Ausgabe
Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 8. S. 344f.)

Faust muß in der Tat alles erst selbst in Erfah­rung brin­gen und braucht dafür einen Teu­fels­pakt mit dem genia­len Mephi­sto, der das all­um­fas­sen­de Pro­bie­ren und Stu­die­ren ihm erst mög­lich macht. — In der Faust­wet­te geht es schließ­lich um die Lösung der Fra­ge nach der Sehn­sucht der Sehnsucht:

FAUST.
Werd’ ich zum Augen­blicke sagen:
Ver­wei­le doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fes­seln schlagen,
Dann will ich gern zugrun­de gehn!
Dann mag die Toten­glocke schallen,
Dann bist du dei­nes Dien­stes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zei­ger fallen,
Es sei die Zeit für mich vor­bei! (Ebd. S. 57.)

Der­weil wirkt Mephi­sto stets so, als habe er das alles längst hin­ter sich und wüß­te um das Wesen des Men­schen, um Träu­me und Schäu­me. Die­ser Dämon spricht wie ein Nihi­list, der sich längst zum Zyni­ker gewan­delt hat, und in der Tat ist Mephi­sto bar jeder Sehn­sucht, so daß man sich fra­gen muß, woher er dann noch sei­ne Ener­gie nimmt.

Aus­zug aus: Heinz-Ulrich Nen­nen: Empa­thie. S. 148ff.


Psychodizee

Ernst-Klimt-Pan-troestet-Psyche-1892

Ernst Klimt: Pan trö­stet Psy­che. Pri­vat­be­sitz. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Die Recht­fer­ti­gung der Gesell­schaft und die Bela­stung des Ein­zel­nen gehen Hand in Hand. Aber das Skan­da­lon bleibt: Die Welt ist schlecht ein­ge­rich­tet und unge­recht, vor allem, wo sie doch gar nicht mehr von einem Schöp­fer­gott, son­dern ein­zig und allein von Men­schen zu ver­ant­wor­ten ist. Die Theo­di­zee ist zur Sozio­di­zee gewor­den und auf die­se folgt nun die Psy­cho­di­zee. Auf die Ankla­ge Got­tes und dem Ver­such sei­ner Recht­fer­ti­gung, folg­te zunächst die Ankla­ge der Gesell­schaft und schluß­end­lich die Bela­stung der Psy­che. — So kehrt die Höl­le im Inne­ren wie­der zurück, wir berei­ten sie uns für­der­hin selbst. Es ist, als habe sich seit Jahr­hun­der­ten kaum etwas wirk­lich ver­än­dert in den Tie­fen unse­res Selbst. Und so zeigt sich dann, war­um die Angst vor dem Jüng­sten Gericht und vor der Höl­le bis in die Gegen­wart hin­ein noch immer eine so gro­ße Rol­le spielt.

Die alles ent­schei­den­den Fra­gen wer­den inzwi­schen syste­ma­tisch über­gan­gen, etwa die, wer uns nach dem Tod Got­tes noch unse­re ›Sün­den‹ ver­gibt, wenn und wo wir es selbst noch immer nicht kön­nen. Das wie­der­um bringt zuneh­men­de Bela­stun­gen für die Psy­che mit sich, wor­auf nun ver­stärkt mit dem Ein­satz von Psy­cho­phar­ma­ka reagiert wird. Es ist aber ver­hee­rend, über die­se Höhen und Tie­fen ein­fach hin­weg­zu­ge­hen, denn dann wird fast schon wie im Mär­chen auch noch die eige­ne See­le ver­kauft. — Wo die eige­nen Gefüh­le syste­ma­tisch mani­pu­liert wer­den, dort fal­len wei­te­re Anpas­sungs­lei­stun­gen bis hin zur Gewis­sen­lo­sig­keit immer leich­ter. Unge­hemmt kommt dann die für so vie­le Spar­ten obli­ga­to­ri­sche Skru­pel­lo­sig­keit zum Zuge, als Aus­hän­ge­schild einer nega­ti­ven Iden­ti­tät, deren Ethos dar­in besteht, kei­nes zu haben.

Es ist bestechend, wie Max Weber mit spe­ku­la­ti­ven Beschrei­bun­gen die­ser Ten­den­zen sei­ner­zeit schon die mög­li­chen Vari­an­ten der wei­te­ren Ent­wick­lung ein­zu­krei­sen ver­stand. Sol­che Vor­her­sa­gen über lang­fri­sti­ge gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen sind sehr wohl mög­lich und haben nichts mit Pro­phe­tie zu tun. Nun hat sich Max Weber dabei auf Nietz­sche gestützt, und wir dürf­ten den bei­den Den­kern daher erschei­nen, wie jene letz­ten Men­schen, von denen im Zara­thu­stra die Rede ist. Es ist die schlech­te­ste aller mög­li­chen Ent­wick­lungs­va­ri­an­ten, mit denen nicht nur Nietz­sche son­dern auch Weber und Freud bereits rechneten.

Wir wer­den also dem ›letz­ten Men­schen‹ tat­säch­lich immer ähn­li­cher? Eines ist jeden­falls gewiß, wir sind sehr viel näher dran, als es noch in der Epo­che von Fried­rich Nietz­sche, Max Weber und Sig­mund Freud mög­lich gewe­sen wäre. Man­che der Fort­schrit­te dürf­ten daher in Wirk­lich­keit eher Rück­schrit­te gewe­sen sein. — Was bei Weber das stäh­ler­ne Gehäu­se der Hörig­keit aus­macht, schil­dert Nietz­sche als Zukunfts–Diagnose im Zara­thu­stra und Freud sieht die Bela­stungs­gren­zen der Psy­che voraus.

Schluß­end­lich kommt es zum Zynis­mus und zur Bor­niert­heit die­ser ›letz­ten Men­schen‹, die allen Ern­stes von sich behaup­ten, das Glück erfun­den zu haben, wohl­ge­merkt, nicht ge– son­dern erfun­den, und genau­so sieht es dann auch aus, die­ses Glück in aller gei­sti­gen Beschei­den­heit: »Wir haben das Glück erfun­den« — sagen die letz­ten Men­schen und blin­zeln, heißt es in Zara­thu­stras Vorrede.

Kör­per, Psy­che, See­le und Geist, alles scheint aufs bequem­ste zurecht gerückt wor­den zu sein. Und man möch­te glau­ben, alles sei das­sel­be. Da wird dann die Psy­che zum stö­ren­den Bei­werk, um von See­le und Geist ganz zu schwei­gen. Wir sind eine rein tech­nisch unver­schämt erfolg­rei­che Spe­zi­es von Raub­af­fen, die inzwi­schen nur noch das Kör­per­li­che gel­ten las­sen. Woher soll da noch der Geist kom­men? — Nietz­sche rech­net mit dem Zeit­geist der Moder­ne ab.

Die unge­heu­er­li­che Pro­phe­tie ist längst zum Klas­si­ker gewor­den, so daß eine jede Zeit, die spät gewor­den ist, ihr Spie­gel– und Zerr­bild dar­in wie­der­fin­den kann:

Man hat sein Lüst­chen für den Tag und sein Lüst­chen für die Nacht: 

aber man ehrt die Gesundheit. 

»Wir haben das Glück erfun­den« — sagen die letz­ten Men­schen und blinzeln.


Empathie

Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken. Österreichische Galerie Belvedere, Wien.

Hans Makart: Die fünf Sin­ne. Hören, Sehen, Rie­chen, Schmecken. Öster­rei­chi­sche Gale­rie Bel­ve­de­re, Wien.

Wer sich mit Äußer­lich­kei­ten zufrie­den gibt und glaubt, auf die­ser Grund­la­ge bereits umfas­sen­de Urtei­le abge­ben zu kön­nen, wird nur ange­paß­tes Den­kens zele­brie­ren. Da ist die­ser Hang, sich nie und nim­mer per­sön­lich auf die Sachen selbst ein­zu­las­sen. Es scheint, als wür­de man bereits ahnen, daß vie­le Gefah­ren damit ein­her­ge­hen, woll­te man dem Anspruch auf per­sön­li­che Urtei­le tat­säch­lich gerecht wer­den. Aber nichts der­glei­chen fin­det wirk­lich statt: Das Den­ken wird nicht auf­ge­schlos­sen, son­dern, noch ehe es über­haupt in Gang gekom­men ist, sofort wie­der still­ge­stellt und auf Üblich­kei­ten fixiert. Eige­nes Den­ken, Auf­merk­sam­keit, Empa­thie, — alles was mit hohem, höhe­rem oder höch­stem Anspruch daher­kommt, ist dann nur noch Attitüde.
Die Kunst, sich des eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen, kommt in der Regel nicht ein­mal im Ansatz zur Anwen­dung. In den herr­schen­den Dis­kur­sen geht es zumeist nur dar­um, sich gemein­schaft­lich zu erre­gen, sich an Feind­bil­dern zu ori­en­tie­ren, vor allem an jenen, die ganz gefähr­lich anders sind. Aber die eigent­li­chen Gefah­ren kom­men gar nicht von außen, son­dern von innen. Es sind Äng­ste im Spiel, die sich vor den unend­li­chen Wei­ten, vor den Unbe­re­chen­bar­kei­ten und Unge­wiß­hei­ten in der eige­nen Psy­che her­rüh­ren. Der Ungrund wird sehr wohl gespürt und geahnt, daß es gar kei­ne Gewiß­hei­ten sind, von denen wir getra­gen wer­den. — Wer sich wirk­lich auf das offe­ne Den­ken ein­läßt, wird sich selbst über­zeu­gen, über­ra­schen, ja sogar über­ho­len, wird immer weni­ger Par­tei­gän­ger, wird sich statt­des­sen auf die Äng­ste im eige­nen Inne­ren ein­las­sen müssen.

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Ökologie im Diskurs

Ökologie im Diskurs.
Studien zu Grundfragen der Anthropologie, Ökologie
und zur Ethik der Wissenschaften

Drei mög­li­che Begrün­dungs­ebe­nen las­sen sich unter­schei­den, auf die sich Moti­ve für Natur­schutz zurück­füh­ren las­sen: natur­wis­sen­schaft­li­che–, ästhe­ti­sche– und ethi­sche Begrün­dun­gen. Die­se drei mög­li­chen Per­spek­ti­ven wer­den aller­dings, anders als zu erwar­ten wäre, weder gleich­be­rech­tigt noch gleich­ran­gig ange­nom­men; es läßt sich ein Hang zur erste­ren, der natur­wis­sen­schaft­li­chen Argu­men­ta­ti­on beob­ach­ten, wenn Moti­ve fur Natur­schutz begrün­det wer­den sol­len. Gleich­falls ist eine gewis­se Scheu vor ästhe­ti­schen oder ethi­schen Kri­te­ri­en zu beob­ach­ten; letz­te­re ver­küm­mern gera­de­zu, wenn ihnen aus Grün­den, die wir prü­fen wol­len, allen­falls noch der Sta­tus von Hilfs­ar­gu­men­ten ein­ge­räumt wird.

In der Tat sind die­se drei Begrün­dungs­ebe­nen nicht gleich­ran­gig. Die allein mit ästhe­ti­schen und ethi­schen Sät­zen for­mu­lier­ba­ren Kri­te­ri­en qua­li­ta­ti­ver Natur sind, sofern sie tat­säch­lich qua­li­ta­ti­ve Momen­te aus­for­mu­lie­re, immer schon dem natur­wis­sen­schaft­li­chen und quan­ti­fi­zie­ren­den Zugriff ent­zo­gen; sie sind nicht gleich­ran­gig, weil sie auf ver­schie­de­nen Erkennt­nis­ebe­nen ope­rie­ren, aber sie sind gleich­be­rech­tigt. — Begrün­dun­gen, war­um etwa ein Baum, eine Tier­art, eine bestimm­te Land­schaft oder z.B. die Wäl­der des Ama­zo­nas zu schüt­zen sei­en, las­sen sich bei­spiel­haft für alle drei Ebe­nen ange­ben: Weil der Baum z.B. Sau­er­stoff pro­du­zie­re oder weil Abhol­zen der Amazonas–Wälder das glo­ba­le Kli­ma gefähr­de, weil der Baum und sei­ne cha­rak­te­ri­sti­sche Land­schaft dem Men­schen Erleb­nis­se äuße­rer und inne­rer Erfah­rung ermög­li­che, die unwie­der­bring­lich ver­lo­ren wären, und schließ­lich, weil es dem Men­schen nicht erlaubt sei ohne Not zu töten, weil jedes Lebe­we­sen ein allein durch sei­ne Exi­stenz ver­brief­tes Recht auf art­ge­rech­tes Leben habe und weil im Fal­le der Zer­stö­rung der Ama­zo­nas­wäl­der den dort leben­den India­nern die Exi­stenz­grund­la­ge genom­men wäre.

Cha­rak­te­ri­stisch für die natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­te Begrün­dungs­ebe­ne sind Argu­men­te, die einen bestimm­ten Zweck als not­wen­dig vor­aus­set­zen (Vor­der­satz) und dann im Rah­men einer Wenn–dann–Folge die Gefähr­dung oder mög­li­che Zer­stö­rung eines als zweck­ra­tio­nal aner­kann­ten lebens­not­wen­di­gen Zusam­men­hangs begrün­den (Schluß­satz). Ein der­ar­ti­ges Argu­men­ta­ti­ons­mu­ster insi­stiert stets auf die zwin­gen­de Not­wen­dig­keit uner­wünsch­ter Fol­gen. Weit­aus schwie­ri­ger las­sen sich Begrün­dungs­zu­sam­men­hän­ge unter ästhe­ti­schen oder ethi­schen Gesichts­punk­ten gestal­ten, wenn erwar­tet wird, sie soll­ten eben­falls Schluß­fol­ge­run­gen ermög­li­chen, die zwin­gend not­wen­dig sind. Es kann aber von Sinn­zu­sam­men­hän­gen gera­de nicht ohne wei­te­res erwar­tet wer­den, daß sie zweck­ra­tio­na­le Schluß­sät­ze begrün­den, dazu sind sie nicht prä­de­sti­niert, denn sinn­haf­te und sinn­vol­le Argu­men­te wer­den mit­un­ter gera­de durch ein Rela­ti­vie­ren von Zwecken erst möglich.

An der Not­wen­dig­keit öko­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen in den Natur­wis­sen­schaf­ten scheint nie­mand mehr ernst­haft zwei­feln zu wol­len, es kommt nun­mehr dar­auf an, auch die Gei­stes­wis­sen­schaf­ten mit ein­zu­be­zie­hen. Was ange­sichts anthro­po­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen gelang, muß auch in der Öko­lo­gie gelin­gen; not­wen­dig ist der mul­ti­dis­zi­pli­nä­re Dis­kurs der Öko­lo­gie, wobei die Zahl der hier zu betei­li­gen­den Wis­sen­schaf­ten aller­dings bedeu­tend gro­ßer wäre. Dabei muß es den ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen zunächst im Rah­men ihrer jewei­li­gen Zustän­dig­keit selbst über­las­sen blei­ben, ihre je eige­nen Kri­te­ri­en zur Bestim­mung des Öko­lo­gi­schen zu ent­wickeln. Im Vor­feld der Dis­kur­se muß die Möglich­keit zur Selbst­be­stim­mung gewähr­lei­stet sein, Über­grif­fe oder vor­schnel­le Ver­bin­dun­gen sind abzu­leh­nen; eine Begren­zung des­sen was Öko­lo­gie ist, kann nur in Abhän­gig­keit von der jewei­li­gen Fra­ge­stel­lung, also von Fall zu Fall rat­sam sein, im Grun­de aber ist die­ser Dis­kurs als mul­ti­dis­zi­pli­nä­rer offe­ner denn je. Wenn zudem noch öko­lo­gi­sche Dis­zi­pli­nen den Men­schen mit ein­be­zie­hen sol­len, und sie wer­den nicht umhin kön­nen die­ses zu tun, so tre­ten neben die Kri­te­ri­en der phy­si­schen Natur zusätz­lich sol­che der psychischen–.

Zur psy­chi­schen Natur des Men­schen gehört die Mög­lich­keit ästhe­ti­scher Erfah­rung, eine Fähig­keit, die unter bestimm­ten Umstän­den auf­tritt, die unter den Erschwer­nis­sen ent­frem­de­ter Lebens­ver­hält­nis­se die per­so­na­le Inte­gra­ti­on durch das Erle­ben von Ganzheits–Erfahrungen gewähr­lei­sten kann. So wie das Indi­vi­du­um sei­ner­seits sei­ne Ent­ste­hung einem bestimm­ten histo­ri­schen und topo­gra­phi­schen Ort ver­dankt, so ist auch die Wahr­neh­mung des Natur­schö­nen ihrer­seits an Vor­aus­set­zun­gen gebun­den, die bedingt erfüllt sein müs­sen, bevor eine Land­schaft in Abse­hung vom Zweck als schön emp­fun­den wer­den kann…

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Energie und Ethik

Leitbilder im philosophischen Diskurs

Rio de Janei­ro, Ber­lin, Kio­to und Bue­nos Aires — wei­te­re Kon­fe­ren­zen der UNO wer­den hin­zu­kom­men in dem Bemü­hen um inter­na­tio­nal ver­bind­li­che Ver­ein­ba­run­gen zum Schutz der Erd­at­mo­sphä­re. Die Ver­bren­nung fos­si­ler Ener­gie­trä­ger wie Koh­le, Gas oder Öl im der­zei­ti­gen Umfang führt zu erhöh­ten Kon­zen­tra­tio­nen von Koh­len­di­oxid in der Atmo­sphä­re, wodurch aller Vor­aus­sicht nach das Kli­ma der Erde ent­schei­dend ver­än­dert wird. Als Fol­ge erwar­ten die mei­sten Exper­ten eine Tem­pe­ra­tur­er­hö­hung und damit die Aus­deh­nung von Trocken­ge­bie­ten, eine Erhö­hung des Mee­res­spie­gels sowie die Zunah­me von Wir­bel­stür­men, Über­schwem­mun­gen und extre­men Wet­ter­la­gen. Um die damit ein­her­ge­hen­den Fol­gen abzu­mil­dern, ver­sucht die inter­na­tio­na­le Staa­ten­ge­mein­schaft, Reduk­ti­ons­zie­le für CO2 fest­zu­le­gen. So hat sich bei­spiels­wei­se Deutsch­land ver­pflich­tet, 25% bei der CO2 –Emis­si­on bis zum Jah­re 2005 ein­zu­spa­ren. Aller­dings sind die­se Maß­nah­men nicht unum­strit­ten, denn die Simu­la­tio­nen der zukünf­ti­gen Kli­ma­ent­wick­lung geben immer noch hin­rei­chend Raum für Inter­pre­ta­ti­on und Spekulation.

Heinz--Ulrich Nennen, Georg Hörning (Hrsg.): Energie und Ethik. Leitbilder im philosophischen Diskurs. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1999.

Heinz–Ulrich Nen­nen, Georg Hör­ning (Hrsg.): Ener­gie und Ethik. Leit­bil­der im phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs. Cam­pus-Ver­lag, Frank­furt am Main 1999.

Auch natür­li­che Kli­ma­schwan­kun­gen sind erheb­lich. Eis­zei­ten, Zwi­schen­eis­zei­ten, Wär­me– und Käl­te­pe­ri­oden, mit­un­ter aus­ge­löst durch Meteo­ri­ten­ein­schlag, sind immer wie­der zu ver­zeich­nen gewe­sen. Die­sen Kata­stro­phen sind gan­ze Kul­tu­ren zum Opfer gefal­len, aller­dings sind sie ohne das Hin­zu­tun des Men­schen ein­ge­tre­ten. Die Mög­lich­keit einer anthro­po­ge­nen glo­ba­len Kli­ma­än­de­rung ist dage­gen ein abso­lu­tes Novum in der Erd­ge­schich­te. Mitt­ler­wei­le befas­sen sich Ver­si­che­rungs­un­ter­neh­men in wohl­ver­stan­de­nem Eigen­in­ter­es­se ver­stärkt mit Maß­nah­men zur Vorsorge.

Selbst wenn die Welt­kli­ma­mo­del­le auf abseh­ba­re Zeit kei­ne dezi­dier­ten Vor­her­sa­gen erlau­ben soll­ten, so wäre es auch aus ande­ren Grün­den sinn­voll, nach Wegen zu suchen, den Ein­satz fos­si­ler Ener­gie zu begren­zen. Im Gegen­teil, es wäre begrün­dungs­pflich­tig, den bis­he­ri­gen Ein­satz die­ser Ener­gien im gewohn­ten Umfang bei­zu­be­hal­ten, obwohl Alter­na­ti­ven zur Ver­fü­gung ste­hen. Kon­kret stellt sich damit die Fra­ge glo­ba­ler Umwelt­ver­än­de­run­gen als Her­aus­for­de­rung an das Gestal­tungs­ver­mö­gen vor Ort. Die Moti­ve sind viel­fäl­ti­ger Natur, sie rei­chen von der Sor­ge um den Ver­lust an Lebens­qua­li­tät bis hin zu wirt­schaft­li­chen, sozia­len und ent­wick­lungs­po­li­ti­schen Anliegen.

Das Problem

Es sind nicht ledig­lich Fra­gen der Tech­nik ange­spro­chen, wenn es um die Gestal­tung zukünf­ti­ger Ener­gie­sy­ste­me geht. Das wird beson­ders dort deut­lich, wo unter­schied­li­che Ver­ständ­nis­se von Ver­zicht auf­ein­an­der tref­fen. Allein die Dif­fe­ren­zie­rung, ob es sich um ein Ver­zich­ten müs­sen oder um ein Ver­zich­ten kön­nen han­delt, ist bezeich­nend für die Ebe­ne auf der sich der Energie–Diskurs bewegt. Wel­che Tech­nik, wel­ches Ver­hal­ten und wel­cher Zukunfts­ent­wurf sind maß­geb­lich für die Gestal­tung der künf­ti­gen Ener­gie­ver­sor­gung? Die­se Aspek­te von Tech­nik­fol­gen­be­wer­tung las­sen sich in Leit­bil­dern ver­dich­ten, mit denen sich auch Gene­ra­tio­nen von­ein­an­der abgrenzen.

Unter­schied­li­che Leit­bil­der mit­ein­an­der in den Dis­kurs zu brin­gen, war Auf­ga­be des hier doku­men­tier­ten Pro­zes­ses. Es galt zu beur­tei­len, wel­ches von vier exem­pla­ri­schen Sze­na­ri­en einer zukünf­ti­gen Ener­gie­ver­sor­gung und –nut­zung zu emp­feh­len sei. Dabei wer­den unmit­tel­bar Fra­gen der Ethik auf­ge­wor­fen, ins­be­son­de­re dort, wo Grund­rech­te zur Dis­po­si­ti­on ste­hen könn­ten. Die Wahl einer der mög­li­chen Stra­te­gien zur CO2 –Reduk­ti­on stellt eine Her­aus­for­de­rung an die demo­kra­ti­sche Kul­tur dar, weil sich mit die­sen Stra­te­gien unter­schied­li­che Lebens­sti­le verbinden.

Dis­kur­se zur Ener­gie­fra­ge sind Aus­druck tie­fer­ge­hen­der gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te: Ver­schie­de­ne Ent­wür­fe eines gelin­gen­den Lebens oder einer erfolg­rei­chen und erstre­bens­wer­ten Wirt­schafts­wei­se ste­hen zur Debat­te, gera­de weil nicht ledig­lich Tech­no­lo­gien der Strom­erzeu­gung oder Nut­zungs­tech­ni­ken, wie Kern­ener­gie und 3–Liter–Auto, im Vor­der­grund ste­hen. Gesamt­ge­sell­schaft­li­che Kon­flikt­lö­sun­gen las­sen sich immer weni­ger aus der tages­po­li­tisch moti­vier­ten Zusam­men­schau iso­lier­ter Per­spek­ti­ven ablei­ten. Statt­des­sen ist eine Gesamt­schau erfor­der­lich, im Wech­sel der Per­spek­ti­ven ver­schie­de­ne, auf kon­trä­ren Leit­bil­dern beru­hen­de Optio­nen zu Ener­gie­nach­fra­ge und –ver­sor­gung zu eröffnen.

Die Bewer­tung der Optio­nen erfor­dert einer­seits den phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs sowie ande­rer­seits ein geeig­ne­tes Ver­fah­ren der Bür­ger­be­tei­li­gung, wobei ent­schei­dend ist, daß es um mehr geht, als um den iso­lier­ten Aus­druck par­ti­ku­la­rer Fach­in­ter­es­sen, wirt­schaft­li­cher Fol­gen oder gesell­schaft­li­cher Kon­se­quen­zen, son­dern um den umfas­sen­den Pro­zeß der Abwä­gung vor dem Hin­ter­grund des gesam­ten Fra­ge­spek­trums. Dazu sind ein fun­dier­tes Auf­ar­bei­ten der Sach­la­ge, die Dar­stel­lung rea­li­sti­scher Hand­lungs­op­tio­nen ein­schließ­lich der mög­li­cher­wei­se damit ein­her­ge­hen­den Kon­se­quen­zen sowie eine Refle­xi­on der gesell­schaft­lich rele­van­ten Bewer­tungs­kri­te­ri­en aus der Sicht­wei­se von Betrof­fe­nen erforderlich.

Immer häu­fi­ger wer­den auch Ethi­ker um Rat gefragt, wenn es um Fra­gen der Zukunfts­ge­stal­tung geht. Oft­mals wird dabei unter­stellt, sei­tens der phi­lo­so­phi­schen Ethik lie­ßen sich unanzwei­fel­ba­re und ein­deu­ti­ge Ant­wor­ten, ›rich­ti­ge‹ und ›all­ge­mein­gül­ti­ge‹ Lösungs– und Bewer­tungs­stra­te­gien bei kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Sach­ver­hal­ten für die ver­ant­wort­li­che und ver­ant­wort­ba­re Ent­schei­dungs­vor­be­rei­tung geben. Die­ser Erwar­tung kann nicht ent­spro­chen wer­den: Ein sol­ches phi­lo­so­phi­sches ›Macht­wort‹ kann nicht die Auf­ga­be der phi­lo­so­phi­schen Ethik sein. Vor dem Hin­ter­grund einer ange­spann­ten Welt, in der fun­da­men­ta­li­sti­sche Strö­mun­gen mit der Wis­sen­schaft um das Mono­pol der Welt­deu­tung rin­gen, kön­nen weder Ethik noch Phi­lo­so­phie zu Garan­ten letzt­ver­bind­li­cher Hand­lungs­ma­xi­men und all­ge­mein­ver­bind­li­cher Gesichts­punk­te der Bewer­tung wer­den. Auf­ga­be der Phi­lo­so­phie kann es schon gar nicht sein, vor­schnell Par­tei zu ergrei­fen. Sie kann Anre­gun­gen geben und auch advo­ka­to­risch pro­vo­zie­ren­de Posi­tio­nen ver­tre­ten — in der Hoff­nung, neue Optio­nen und Per­spek­ti­ven zu eröffnen.

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Goog­le Books


Das erschöpfte Selbst

Lucas Cra­nach der Älte­re: Melan­cho­lie. Natio­nal­ga­le­rie,
Kopenhagen.<fn>Public domain via Wiki­me­dia Commons.</fn>

Erläuterungen zur Psychogenese


Philosophie in Echtzeit

Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse

Am 17. Juli 1999 hielt Peter Slo­ter­di­jk im ober­baye­ri­schen Schloß Elmau eine Rede mit dem Titel „Regeln für den Men­schen­park“ – eine in Inhalt und Form über­aus pro­vo­kan­te Aus­ein­an­der­set­zung mit Fra­gen der Gen­tech­nik im all­ge­mei­nen und des Klo­nens im beson­de­ren. In über 1000 Arti­keln und Rund­funk­bei­trä­gen sowie zahl­lo­sen Leser­brie­fen arti­ku­lier­te sich das Unbe­ha­gen an Slo­ter­di­jks unbe­que­men, schnell unter Faschis­mus­ver­dacht gestell­ten Überlegungen.

Gera­de die­ser Skan­dal hielt sich beträcht­lich lang in der öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit. Die Eska­la­ti­on der Debat­te begann, wie so vie­le zuvor, mit einem Faschismus–Vorwurf, ver­lief dann aber doch anders und ende­te eben nicht mit der Exkom­mu­ni­ka­ti­on. Der Hype um die Sloterdijk–Debatte erreich­te sei­nen Kul­mi­na­ti­ons­punkt mit dem Philosophen–Kongreß in Kon­stanz und ende­te, als die Frank­fur­ter Buch­mes­se eröff­net wurde.

Die Kara­wa­ne öffent­li­cher Auf­merk­sam­keit war längst wei­ter­ge­zo­gen, so daß kaum Jemand ein win­zi­ges aber ent­schei­den­des Detail noch hät­te zur Kennt­nis neh­men kön­nen. — Nur wer lan­ge genug vor Ort blieb, ein­fach mit dem Gefühl, das kön­ne noch nicht alles gewe­sen sein, soll­te belohnt wer­den durch die Infor­ma­ti­on über eine Bege­ben­heit, auf die nur die Wirk­lich­keit kommt. Das Fazit ist dann auch über­ra­schend mit­ten aus dem Leben gegriffen.

Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse. Königshaus & Neumann, Würzburg 2003. [ISBN: 978-3-8260-2642-3] 650 S. 49,80 EU.

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chro­nik einer Insze­nie­rung. Über Meta­phern­fol­gen-abschät­zung, die Kunst des Zuschau­ers und die Patho­lo­gie der Dis­kur­se. Königs­haus & Neu­mann, Würz­burg 2003. [ISBN: 978–3‑8260–2642‑3] 650 S. 49,80 EU

Die­ses merk­wür­di­ge Detail war zwar schon früh­zei­tig bekannt, aber nicht ganz. Die inkri­mi­nier­te Rede war schon zwei Jah­re zuvor im Thea­ter zu Basel auf einer Sonn­tags­ma­ti­nee zu Gehör gebracht und mit Geläch­ter gou­tiert wor­den. Die Iro­nie des gan­zen Arran­ge­ments, die Spitz­fin­dig­keit die­ser Kri­tik am Huma­nis­mus, das Gro­tes­ke an der The­se, der Huma­nis­mus habe ver­sagt, man müs­se nun­mehr unter Ein­satz der Gen­tech­nik an die Ver­bes­se­rung, vul­go, an die Züch­tung des Men­schen­ge­schlechts her­an­ge­hen, war unter dem Aus­druck gro­ßer Hei­ter­keit vom Publi­kum auf­ge­nom­men wor­den. Das alles hat­te der Red­ner selbst zu Pro­to­koll gege­ben in den vie­len Inter­views die­ser Tage und Wochen.

Was er jedoch offen­bar nicht ohne Hin­ter­sinn ganz bewußt zunächst nicht publik gemacht hat, war ein eben­so win­zi­ges wie ent­schei­den­des Detail. Dar­auf hat­te nie­mand kom­men kön­nen, der nicht dabei gewe­sen ist oder, der nicht nach­re­cher­chiert hat im Thea­ter zu Basel, was es mit die­ser Mati­née auf sich gehabt haben könn­te. — Slo­ter­di­jk hat­te höchst­selbst berich­tet von die­ser Ver­an­stal­tung, in der er also anwe­send gewe­sen sein muß. Was er aber nicht aus­ge­plau­dert, son­dern mut­maß­lich ganz bewußt ver­schwie­gen hat, war die nicht uner­heb­li­che Tat­sa­che, daß die­sel­be Menschenpark–Rede von Elmau zuvor im Thea­ter zu Basel von einem Schau­spie­ler vor­ge­tra­gen wor­den war. Es waren zwar die­sel­ben Wor­te, aber Red­ner, Publi­kum und auch die Kulis­sen waren wie aus­ge­wech­selt. Die Iro­nie, die Sati­re und die huma­ne Kri­tik am Huma­nis­mus kam gar nicht mehr oder ganz anders an. Noch dazu waren Bericht­erstat­ter vor Ort, die den Skan­dal such­ten und fan­den. Sie miß­ach­te­ten dann auch die Signa­le der Iro­nie, son­dern sahen und hör­ten, was sie gese­hen und gehört haben wollen.

Es wäre ein wünsch­ba­rer Neben­ef­fekt die­ser Stu­die, wür­de es künf­tig hin und wie­der eine der­ar­ti­ge Unter­su­chung in einem ähn­li­chen „Fall“ geben, nicht zuletzt, um die Qua­li­tät der Medi­en und ihrer Ver­tre­ter ein­mal mehr einer kri­ti­schen Prü­fung zu unter­zie­hen. Dabei las­sen sich gro­ße qua­li­ta­ti­ve Unter­schie­de fest­stel­len: Es gibt durch­aus posi­ti­ve Bei­spie­le auch in die­ser Debat­te, wo Bericht­erstat­ter und Kom­men­ta­to­ren mit gutem Gespür, gro­ßem Fein­ge­fühl und nicht zuletzt auch mit Sach­kennt­nis vor­ge­gan­gen sind. Vor­ent­schie­den­heit und beflis­sent­li­che Par­tei­lich­keit, gepaart mit Unver­ständ­nis, sind dage­gen häu­fig die ent­schei­den­den Fak­to­ren für defi­ni­tiv schlech­te, fal­sche, mög­li­cher­wei­se bewußt fal­sche Bericht­erstat­tung, mit der nie­man­dem und schon gar nicht der Öffent­lich­keit gedient sein kann.

Die vor­lie­gen­de Chro­nik der Slo­ter­di­jk-Debat­te ist zugleich ein phi­lo­so­phi­sches Expe­ri­ment, den Fall einer Skan­da­li­sie­rung ein­mal bewußt syste­ma­tisch zu rekon­stru­ie­ren, um zu beob­ach­ten, wie sich Infor­ma­ti­on und Des­in­for­ma­ti­on, Insze­nie­rung und Gegen­in­sze­nie­rung zuein­an­der ver­hal­ten, wie sich Öffent­lich­keit im Zeit­al­ter ihrer Medi­en­för­mig­keit kon­sti­tu­iert, wie sich dabei die All­tags­ver­nunft aus­nimmt und wie es um die Idea­li­tät idea­ler Dis­kur­se bestellt ist, — alles wie­der­um beob­ach­tet unter Anlei­tung eines Chro­ni­sten und bewer­tet aus den wech­seln­den Per­spek­ti­ven eines Zuschau­ers, von dem ange­nom­men wird, daß die­ser sich auf etwas Beson­de­res ver­steht: „Die Kunst des Zuschau­ers“, erst all­mäh­lich her­aus­zu­be­kom­men, was eigent­lich gespielt wird.

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit @ Goog­le Books

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit @ Königs­hau­sen & Neu­mann Verlag

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­pie in Echt­zeit. @ Amazon

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Dialog und Diskurs

Schwebendes Denken

Bezau­bern­de Bil­der bezeu­gen, wie innig die Phi­lo­so­phie allem zuge­tan ist, was Flü­gel verleiht. 

Bei Hegel beginnt die Eule der Miner­va ihren Flug erst in der Däm­me­rung. – Pla­ton schil­dert das Auf­stei­gen zur Erkennt­nis mit der Alle­go­rie vom See­len­wa­gen, bei dem es dar­um geht, am Tri­umph­zug der Göt­ter über das nächt­li­che Fir­ma­ment, quer über die Milch­stra­ße bis hin zum Reich der Ideen teil­neh­men zu kön­nen. Aber den aller­mei­sten Zeit­ge­nos­sen feh­le es dabei an “Federn”, auch beherr­schen sie nicht die Selbstführung… 

Die Gedan­ken sind frei, es kommt dar­auf an, sie schwe­ben, flie­gen und auf­stei­gen zu las­sen. Es kommt dar­auf an, daß sie stets offen blei­ben, sich inspi­rie­ren zu lassen.

Phi­lo­so­phi­scher Salon Karlsruhe

Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz Karlsruhe

Phi­lo­so­phi­scher Salon | B‑Si­de-Festi­val 2019 | Mün­ster

Philosophisches Café Münster

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Wenn her­kömm­li­che Ori­en­tie­run­gen unsi­cher wer­den, dann stel­len sich Fra­gen der Selbst­ori­en­tie­rung. Neue Ant­wor­ten las­sen sich jedoch erst fin­den, wenn zuvor genü­gend Abstand genom­men wird. Erst aus der Distanz läßt sich das Gan­ze umfas­send in den Blick neh­men. – Nur so kommt das Neue ins Den­ken und dazu ist Phi­lo­so­phie unver­zicht­bar. Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, sich durch eige­nes Den­ken zu ori­en­tie­ren, gera­de dann, wenn vie­les in der Schwe­be ist.

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Neben dem phi­lo­so­phi­schen Dia­log als inten­si­ver Form, sich in The­men von exi­sten­ti­el­ler Bedeu­tung ein­zu­füh­len, um sie zu erör­tern, bie­tet das Phi­lo­so­phi­sche Café die Mög­lich­keit, auch in grö­ße­ren Grup­pen tie­fer mit­ein­an­der ins Gespräch zu kom­men. – Es gilt, nicht ein­fach nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern alle erdenk­li­chen Posi­tio­nen vor­be­halt­los zu erör­tern. So wird die Sache selbst all­mäh­lich gemein­sam ent­wickelt und nicht sel­ten las­sen sich ihr ganz neue Sei­ten abge­win­nen. Man­ches erscheint dann in ande­rem Licht, so daß sich auch für die eige­ne Stel­lung­nah­me ganz neue Per­spek­ti­ven eröffnen.

Das Phi­lo­so­phi­sche Café ver­steht sich als Forum für eine Phi­lo­so­phie, die erst im gemein­sa­men Gespräch auf­kom­men kann. Das The­ma wird in der Regel nicht vor­ge­ge­ben, es ergibt sich zwang­los fast wie von selbst. Der Gang des Gesprächs ist offen und dabei ist es nicht so ent­schei­dend, wie sich ande­re Phi­lo­so­phen bereits dazu geäu­ßert haben. Gewiß ist es anre­gend zur Kennt­nis zu neh­men, was bereits gesagt wor­den ist, aber viel wich­ti­ger ist es, sich selbst beim gemein­sa­men Phi­lo­so­phie­ren zu erfahren.

Über­zeu­gun­gen sol­len nicht ein­fach nur ver­tre­ten, son­dern dar­ge­legt wer­den. Die Situa­ti­on ist hand­lungs­ent­la­stet, nichts muß beschlos­sen wer­den. Nie­mand muß sich über­zeu­gen las­sen, denn wir über­zeu­gen uns ohne­hin immer nur selbst. Ent­schei­dend ist, das eige­ne Den­ken an den Tag zu legen. Erst dann wird jene Frei­heit spür­bar, von der die Höhen­flü­ge der Phi­lo­so­phie getra­gen wer­den. – Phi­lo­so­phie hat eben auch ihre Pra­xis: Es ist die Freu­de dar­an, wie unter­schied­lich die Per­spek­ti­ven doch sein können.

Kaum eine davon ist ohne Berech­ti­gung, aber nur weni­ge davon spre­chen wirk­lich fürs Gan­ze. Es gibt vie­le aber nicht unend­lich vie­le Hinisch­ten, aus denen sich die­sel­be Sache betrach­ten läßt. Ent­schei­dend sind daher vor allem sol­che Hin­sich­ten, die in der Sache wei­ter brin­gen und hel­fen, bes­ser zu ver­ste­hen, wor­auf es ankom­men könnte.

Für den Gang sol­cher Unter­su­chun­gen präg­te Hegel das Bild vom Flug der Eule der Miner­va und bei Pla­ton fin­det sich die Alle­go­rie vom See­len­wa­gen. Die­se bezau­bern­den Bil­der bezeu­gen, wie innig die Phi­lo­so­phie allem zuge­tan ist, was Flü­gel ver­leiht, weni­ger um abzu­he­ben, son­dern um einen guten Über­blick und neue Ein­blicke zu erhal­ten. – Alles was Flü­gel ver­leiht, hat daher einen sym­bo­li­schen Bezug zur Phi­lo­so­phie, weil Federn zum Schrei­ben tau­gen, weil sie Gedan­ken beflü­geln und weil dann nur noch die not­wen­di­ge Seh‑, Erkennt­nis- und Urteils­kraft dazu gehört, um erken­nen zu kön­nen, was sich in der Däm­me­rung abzu­zeich­nen beginnt.

Blaue_Stunde_MS-Flyer

Das ulti­ma­ti­ve Ziel sol­cher Rei­sen ist Pla­ton zufol­ge eine Expe­di­ti­on ins Reich der Ideen. Beim Aus­ritt zusam­men mit den Göt­tern über das nächt­li­che Fir­ma­ment alle 10.000 Jah­re kommt es dar­auf an, sehr schwe­re Him­mel­s­pas­sa­ge zu bestehen, mit einem all­zu mensch­li­chen Gespann aus einem guten und einem schlech­ten Pferd. Vie­le stür­zen dabei ab und fal­len unmit­tel­bar wie­der ins Sein ohne sich wie­der­erin­nern zu kön­nen. – Erst hin­ter die­ser schwie­ri­gen Him­mel­s­pas­sa­ge wür­de man zusam­men mit den Göt­tern die Ideen anschauen.

Es kommt dar­auf an, die Kunst des Schwe­bens zu beherr­schen. Dazu braucht es ‚Federn‘und die wach­sen nur denen die lie­ben, denn die Lie­be in ihrem hei­li­gen Wahn soll wie­der­um Ähn­lich­keit haben mit dem, wie denen zumu­te ist, die die Ideen erschau­en. Und Pla­ton zufol­ge ver­leiht gera­de die Phi­lo­so­phie sol­che Flü­gel, schließ­lich geht es ihr – nicht nur dem Namen nach, um die Lie­be zur Weisheit.

Sol­che Gesprä­che sind dazu ange­tan, die Sache selbst wie eine Feder durch den Atem aller, die mit­re­den und mit­den­ken, in der Schwe­be zu hal­ten, um beim gemein­sa­men Phi­lo­so­phie­ren wie im Flug ins Reich der Ideen unter­wegs zu sein.

Feder-big


Philosoph mit Wohnmobil

Ein Karlsruher Hochschul–Dozent
studiert an Münsters Hafen das Leben

Die­ser Mann lehrt als Dozent an der Uni­ver­si­tät im baden-würt­tem­ber­gi­schen Karls­ru­he. Aber den Phi­lo­so­phen zieht es immer wie­der ins west­fä­li­sche Mün­ster. Dort lebt Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen in einem Wohn­mo­bil direkt am Ufer des alten Indu­strie­ha­fens. „Sonn­tags gehen die Men­schen hier anders“, sagt er. Dann fla­nier­ten sie – wäh­rend sie in der Woche hetz­ten. Aber das ist nur ein Bei­spiel des Hafen­le­bens, das Nen­nens Vor­le­sun­gen schreibt.

Mor­gens, so gegen fünf Uhr, da fin­det er es hier am schön­sten. „Wenn sich der Hafen im glat­ten, stil­len Was­ser spie­gelt“, erzählt er ver­träumt, „da erlebt man die­sen Mikro­kos­mos gleich dop­pelt.“ In die­se „klei­ne eige­ne Welt“ zieht sich Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen seit fast vier Jah­ren ger­ne zurück. Er hat Fami­lie und Woh­nung in Unna und einen Lehr­auf­trag in Karls­ru­he. Aber sein Zuhau­se steht hier: Ein ame­ri­ka­ni­scher „Win­ne­bago“.

Ein Wohn­wa­gen Bau­jahr 1988, 11,20 Meter lang, geparkt direkt am Kanal­ufer gegen­über der Hafen-Gastro­no­mie. „Gegen halb sechs bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Ganz lang­sam kommt sie her­ein. Man kann zuschau­en, wie sie geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Wor­te poin­tiert betont.

Dabei mag man eine gewis­se Sehn­sucht nach Stil­le in sei­nen dunk­len, stets offe­nen Augen erken­nen. Aber Nen­nen ist kei­ner, der das Leben scheut. Den Tag über war er auf einer Phi­lo­so­phen-Tagung in Essen. Erst seit weni­gen Minu­ten ist er zuhau­se. Schick in schwarz geklei­det sitzt er am Schreib­tisch. Auf dem Fuß­bo­den Lami­nat, an den Wän­den Schrän­ke in Eiche mas­siv. „Hier füh­le ich mich daheim“, sagt er, kocht sofort einen Tee und erzählt.

Auf dem Tisch steht noch das Rot­wein­glas, direkt dane­ben die aus­ge­brann­ten Tee­lich­ter von ver­gan­ge­ner Nacht. An den Wän­den hän­gen gol­di­ge Lam­pen­hal­ter mit Falt­schirm­chen. Schnell erkennt man: Nen­nen ist kein Cam­per. Auch nicht der Typ, der roman­tisch am Lager­feu­er grillt. „Ich will auf kei­nen Luxus ver­zich­ten“, sagt er. Nen­nen ist viel­mehr ein Feld­for­scher mit mobi­lem Wohn­bü­ro – aus­ge­stat­tet mit UMTS-Lap­top, Navi­ga­ti­ons-Touch­screen, Schlaf­zim­mer, Dusche und eige­nem Strom­ge­ne­ra­tor. Außer Spül- und Wasch­ma­schi­ne ist alles an Bord. Nen­nen: „Ich kann hier zehn Tage aut­ark leben. Dann sind die Wasser‑, Gas- und Ben­zin­tanks leer.“

Früh tauch­te der Rhei­nen­ser in Mün­ster auf, ging hier zur Schu­le, stu­dier­te und pro­mo­vier­te vor knapp 20 Jah­ren – „mit sum­ma cum lau­de“ – an der phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät. Er dach­te, die Arbeits­welt reißt sich um ihn, wenn er sich bewirbt. Aber sie dreh­te sich auch ohne ihn wei­ter. Die erste Zeit war er arbeits­los, dann unter­rich­te­te er ange­hen­de Poli­zi­sten in Ethik und forsch­te für zehn Jah­re in einem Stutt­gar­ter Insti­tut rund um die Fol­gen der Atomkraft.

Schließ­lich habi­li­tier­te er über die Slo­ter­di­jk-Debat­te. Nen­nen: „Das war Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Ich habe alles aus dem Moment her­aus ana­ly­siert.“ Die­ses Prin­zip hat er sich bis heu­te zu eigen gemacht. Sei­ne Vor­le­sun­gen an der Uni Karls­ru­he schreibt er jede Woche neu – oft nachts am mün­ster­schen Hafen­ufer. Sei­ne The­men: „Empa­thie“, „Psy­che“ oder „Selbst­ver­stän­di­gung“.

Zwi­schen­durch grü­ßen Spa­zier­gän­ger und Hafen­mei­ster. Die Leu­te hier ken­nen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohn­wa­gen beob­ach­tet er sie, stu­diert sie und fin­det den Stoff für sei­ne Stu­den­ten. Nen­nen: „Der Hafen ist unbe­re­chen­bar. Mal wacht man auf, da ist Tri­ath­lon. Mal kommt doch noch ein Güter­zug.“ Und mal erhö­hen die Tanz­jün­ger im Hea­ven den Beat. Das erin­ne­re ihn immer an Kin­der von Fließ­band­ar­bei­tern: „Sie suchen das Band, viel­leicht auch einen Lebens­rhyth­mus. Um drei Uhr wird immer der Arbeits­takt erhöht.“

Nicht nur bei den Tän­zern – auch im Wohn­wa­gen: „Ich brau­che Rum­mel. Der inspi­riert mich.“ Nach­denk­lich stützt er den Kopf auf die Hand und krault durch sei­nen ergrau­ten Bart. Da ist sie, die näch­ste Idee.

Erschie­nen in: Mün­ster­sche Zei­tung (20. Sep­tem­ber 2008)


Der Hafen–Philosoph

Gedanken aus einem
indianischen Winnebago an Münsters Hafenufer

Von Tobi­as Wink­ler, wink­ler­wir­red

Der Karls­ru­her Hoch­schul­leh­rer für Phi­lo­so­phie, Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen, steht regel­mä­ßig mit sei­nem ame­ri­ka­ni­schen Wohn­mo­bil in Mün­sters Hafen. Denn das Leben dort schreibt sei­ne Vor­le­sun­gen. In den Pau­sen lädt er als „ambu­lan­ter Phi­lo­soph“ zur klei­nen Den­ker­run­de übers Denken.

In den frü­hen Mor­gen­stun­den, so gegen fünf Uhr, da fin­det er es hier am schön­sten. „Wenn sich der Hafen im glat­ten, stil­len Was­ser spie­gelt“, erzählt er ver­träumt, „da erlebt man die­sen klei­nen Mikro­kos­mos gleich dop­pelt.“ In die­se „klei­ne eige­ne Welt“ zie­he er sich seit fast vier Jah­ren ger­ne zurück. Heinz-Ulrich Nen­nen arbei­tet als Hoch­schul­leh­rer an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he. Aber sein mobi­les Büro steht immer wie­der an Mün­ster Hafenufer.

Ein ame­ri­ka­ni­scher „Win­ne­bago“. Es ist ein groß­räu­mi­ges, sil­ber­nes Wohn­mo­bil: Bau­jahr 1988, mehr als elf Meter lang, geparkt direkt am Kanal­ufer gegen­über der bun­ten Gastro- und Fla­nier­mei­le des alten Mün­ste­ra­ner Indu­strie­ha­fens. Es ist ein schö­nes, statt­lich aus­ge­bau­tes Modell mit allem Schnick und Schnack an Bord. „Ich will mich hier kom­plett hei­misch füh­len und auf nichts ver­zich­ten“, erklärt Heinz-Ulrich Nen­nen. „Ich habe lan­ge nach die­sem Wohn­mo­bil gesucht. Es ist das ein­zi­ge Modell, das die­sen Luxus bie­tet.“ Nun ist der Win­ne­bago sein „klei­nes Denk­bü­ro“, wie er ihn lie­be­voll nennt. Er ist sein mobi­les Schneckenhaus.

Fertighaus auf Rädern

Oft steht die­ses nahe­zu sta­tio­när wie ein Fer­tig­haus auf Rädern auf den aus­ge­dien­ten Glei­sen neben einem alten Hafen­kran, der längst demon­tiert ist und an ein reges Leben der Hafen­ar­bei­ter erin­nert. Oder im Wohn­mo­bil­ha­fen eines benach­bar­ten Cam­ping­plat­zes. Denn das mäch­ti­ge Gefährt frisst zu viel Sprit, um dar­in stän­dig unter­wegs zu sein. Will Nen­nen wirk­lich mobil sein, steigt er auf ein ande­res Ver­kehrs­mit­tel um. In Mün­ster selbst ist er oft mit dem Fahr­rad oder dem Auto unter­wegs. „Nur zu Fuß gehe ich ungern“, fügt er hin­zu. Geht es wei­ter weg, nimmt er die Bahn. Bis ins süd­li­che Karls­ru­he sind es immer­hin mehr als vier­hun­dert Kilo­me­ter, die Nen­nen – zumin­dest in der war­men Jah­res­zeit – nahe­zu jede Woche zurück­legt. Die Hälf­te der Woche phi­lo­so­phiert er mit sei­nen Stu­den­ten, die ande­re Hälf­te sucht er neu­es phi­lo­so­phi­sches Fut­ter am mün­ster­schen Kanalufer.

„Gegen halb sechs bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Ganz lang­sam kommt sie her­ein“, führt er fort. „Man kann zuschau­en, wie sie kommt, vor­bei­läuft, vom ande­ren Ende wie­der zurück­kommt – und dann geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Wor­te mit sei­ner tie­fen, ein­fühl­sa­men Stim­me poin­tiert betont vor­trägt. Dabei tippt Heinz-Ulrich Nen­nen mit sei­nen Fin­gern gefühl­voll eini­ge Töne in die Luft. Es scheint als diri­gie­re er sei­ne Gedan­ken, es scheint als spie­le er auf sei­nem Luft­kla­vier die Melo­die des mün­ster­schen Hafenlebens.

Sehnsucht nach Stille

Dabei mag man eine gewis­se Sehn­sucht nach Stil­le in sei­nen dun­kel­grü­nen, stets offe­nen Augen erken­nen. Aber Nen­nen ist kei­ner, der das Leben scheut. An die­sem Tag kommt er gera­de vom Haupt­bahn­hof. Er war den gan­zen Tag über auf einer Phi­lo­so­phen-Tagung in Essen. Erst seit weni­gen Minu­ten ist er „zuhau­se“. Er sitzt an sei­nem klei­nen Schreib­tisch. Den Fuß­bo­den unter ihm ziert echt anmu­ten­des Buchen-Lami­nat. Zwi­schen den Fen­stern hän­gen gol­di­ge Lam­pen­hal­ter mit Falt­schirm­chen, dane­ben bau­meln klei­ne Stoff-Gar­di­nen und an den Wän­den hän­gen Schrän­ke in Eiche mas­siv. Ein biss­chen US-gelei­te­ter Bie­der­mei­er, ein wenig moder­ne Spät­ro­man­tik oder doch deut­sche Hoch­klas­sik? Der Ein­rich­tungs­stil ist nicht gleich klar.

„Die Wohn­mo­bi­le wer­den von den Nach­kom­men der India­ner gebaut“, berich­tet Nen­nen. „Eigent­lich bin ich kein Eiche-Mas­siv-Typ. Ich ste­he eher auf unter­kühl­te Moder­ne mit Selbst­iro­nie.“ Auch wenn die Innen­ein­rich­tung durch­aus ande­res erah­nen lässt, äußer­lich hat Nen­nen offen­bar das per­fek­te Heim gefun­den: Der india­ni­sche Win­ne­bago erin­nert in sei­ner Form an ame­ri­ka­ni­sche Kühl­schrän­ke. Die­se klo­bi­gen, bun­ten oder metall-far­be­nen, rund­lich-abge­run­de­ten, quad­er­för­mi­gen Exem­pla­re, die nicht für die Mon­ta­ge in der gut bür­ger­li­chen west­fä­li­schen Ein­bau­kü­che geeig­net sind. Sie müs­sen frei ste­hen. Und damit das Bild voll­ends per­fekt ist, müss­ten Magne­te an allen Sei­ten haf­ten. Mit Notiz-Zet­tel­chen, Fotos und Erin­ne­run­gen der schnelllebi­gen Welt dort drau­ßen. Aber, so Nen­nen: „Ent­schei­dend für den ame­ri­ka­ni­schen Auto­mo­bil­bau war die Eisen­bahn und für die­se wie­der­um der Schiffs­bau. Dort hat sich das Auto nicht aus der Kut­sche, son­dern aus dem Wag­gon­bau ent­wickelt. Daher ist die Spur, sind die Wagen brei­ter und grö­ßer als in Alt-Europa.“

„Ich kann hier zehn Tage lang autark leben.“

Nen­nen kennt sein Gefährt – und er legt Wert auf eine gepfleg­te Erschei­nung. Das ist das erste, was auf­fällt. Der Hafen-Phi­lo­soph trägt aus­schließ­lich schwarz. Aus dem Aus­schnitt des wol­li­gen Knopf-Pul­lis suchen sich dunk­le Brust­haa­re ihren Weg ans Tages­licht. Mit weit geöff­ne­ten Augen schaut er über sei­nen grau-melier­ten Voll­bart hin­weg. Auch in sei­nem dunk­len Haar schim­mern immer wie­der hel­le­re, manch­mal dün­ne­re, manch­mal dicke­re Sträh­nen. Er kocht Tee und erzählt. Auf dem für ein Wohn­mo­bil durch­aus gro­ßen Tisch steht noch das letz­te, nicht ganz aus­ge­trun­ke­ne Rot­wein­glas, direkt dane­ben die aus­ge­brann­ten Tee­lich­ter von ver­gan­ge­ner Nacht. Es war eine der län­ge­ren Näch­te. Die kom­men häu­fi­ger vor.

Dann sitzt der Phi­lo­soph immer an sei­nem schwar­zen IBM-Lap­top und beob­ach­tet durch die gut geputz­ten Fen­ster­schei­ben die Welt außer­halb sei­nes mobi­len Denk­bü­ros. Schnell erkennt man: Nen­nen ist kein Cam­per. Auch nicht der Typ, der roman­tisch am Lager­feu­er grillt. Nen­nen ist viel­mehr ein Feld­for­scher mit mobi­lem Wohn­bü­ro – aus­ge­stat­tet mit UMTS-Lap­top, Satel­li­ten-TV, Navi­ga­ti­ons-Touch­screen, Schlaf­zim­mer, Dusche und eige­nem Strom­ge­ne­ra­tor. Außer Spül- und Wasch­ma­schi­ne ist alles an Bord. Nen­nen: „Ich kann hier zehn Tage lang aut­ark leben. Dann sind die Wasser‑, Gas- und Ben­zin­tanks leer.“

Partygänger am anderen Ufer

Aus die­sen eige­nen vier, siche­ren und mobi­len, Wän­den beob­ach­tet er in dunk­len Näch­ten die Par­ty­gän­ger auf der ande­ren Ufer­sei­te des Kanal­ha­fens. Er schaut, wie die Men­schen an ver­schie­de­nen Wochen­ta­gen gehen oder wie sie in Gesprä­chen gesti­ku­lie­ren. Dann denkt er sich Geschich­ten dazu aus. „Die Men­schen gehen jeden Tag anders“, berich­tet er. „Am Sonn­tag fla­nie­ren sie gelas­sen an den Cafés und Knei­pen vor­bei. Sehen und gese­hen wer­den – das ist wie auf der Pro­me­na­de in Vene­dig.“ Wochen­tags hin­ge­gen sei der Gang hek­ti­scher. Die Leu­te sei­en dann gar nicht dort, wo sie gera­de sind, son­dern in Gedan­ken bereits sehr viel wei­ter. „Sie neh­men die Umge­bung gar nicht rich­tig wahr, weil sie nur Distan­zen über­win­den. Das ist beim Fla­nie­ren ganz anders.“

Sein phi­lo­so­phi­sches Denk­werk hat Heinz-Ulrich Nen­nen an der West­fä­li­schen-Wil­helms-Uni­ver­si­tät in Mün­ster gelernt. Bereits im Teen­ager-Alter tauch­te der gebür­ti­ge Rhei­nen­ser in der Dom­stadt auf, er ging hier zur Schu­le, stu­dier­te und pro­mo­vier­te vor knapp zwan­zig Jah­ren an der phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät. „Mit sum­ma cum lau­de“, betont er nicht arro­gant oder prot­zend, aber durch­aus wis­send. Wohl wis­send und bedacht um den gesell­schaft­li­chen Dok­to­ren-Sta­tus, aber durch­aus mit der Lebens­er­fah­rung, dass ein „Dr.“ im Lebens­lauf nicht all­mäch­tig macht. Nach sei­ner Pro­mo­ti­on dach­te er, die Arbeits­welt reißt sich um ihn. Aber sie dreh­te sich auch ohne ihn weiter.

Atomkraftwerke und Klimawandel

Die erste Zeit war er arbeits­los und auf der Suche. Dann unter­rich­te­te er an der Dort­mun­der Fach­hoch­schu­le für öffent­li­che Ver­wal­tung ange­hen­de Poli­zi­sten in Ethik und forsch­te für zehn Jah­re für die Stutt­gar­ter Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung rund um die Aus­wir­kun­gen der Atom­kraft und des Kli­ma­wan­dels. Zwei The­men, die den gesell­schafts­po­li­ti­schen Dis­kurs bis heu­te prä­gen. „Sie waren bereits in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren ein bren­nen­des phi­lo­so­phi­sches The­ma“, erzählt Nen­nen. Schließ­lich habi­li­tier­te er über die Slo­ter­di­jk-Debat­te: „Das war Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Ich habe alles aus dem Moment her­aus ana­ly­siert. Ein phi­lo­so­phi­schen Expe­ri­ment, um zu zei­gen, dass so etwas mög­lich ist.“

Die­ses Prin­zip hat er sich bis heu­te zu eigen gemacht. Es sind immer wie­der klei­ne Momen­te und win­zi­ge Augen­blicke des All­tags und deren Men­schen, die ihn inspi­rie­ren. Sie sind ein klei­ner Teil eines phi­lo­so­phi­schen Ana­ly­se-Patch­works. „Ich schrei­be mei­ne Vor­le­sun­gen jede Woche neu“, erklärt er. Es geht immer um das, was ihn gera­de treibt – und um das, was sich um ihn her­um in Mün­sters Hafen treibt. Wis­sen­schaft­lich aus­ge­drückt: „Empa­thie“, „Psy­che“, „Selbst­ver­stän­di­gung“, „Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie“ oder „Psy­cho­ge­ne­se“. Das sind die Berei­che, die Nen­nen in For­schung und Leh­re der Karls­ru­her Uni haupt­säch­lich übernimmt.

„Der Hafen ist unberechenbar.“

Zwi­schen­durch grü­ßen Spa­zier­gän­ger und Hafen­mei­ster. Die Leu­te hier ken­nen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohn­mo­bil beob­ach­tet er das Trei­ben, kommt ins Den­ken und fin­det den Stoff für sei­ne Stu­den­ten. Nen­nen: „Der Hafen ist unbe­re­chen­bar. Mal sind Schwim­mer im Was­ser, dann sind Tri­ath­lon-Wett­be­wer­be. Mal ist Hafen­fest, dann legt die ‚MS Wis­sen­schaft‘ an, um Baum­stäm­me zu ver­la­den. Mal setzt die Hal­le Mün­ster­land still­ge­leg­te Gleis­ma­schi­nen für eine Aus­stel­lung auf die alten Schie­nen, dann kommt plötz­lich doch noch ein Güter­zug.“ Dabei sind die Glei­se neben dem alten Hafen­kran seit Jah­ren längst ver­waist. Als grün ver­wach­se­ne, rostig-röt­li­che Lini­en zie­hen sie sich unter Nen­nens Wohn­mo­bil her. Sie füh­ren die Spa­zier­gän­ger und ihre Hun­de und wei­sen ihnen einen gerad­li­ni­gen, par­al­le­len Weg zum wel­li­gen Was­ser im Hafenbecken.

Es ist wohl die Abwechs­lung, das stän­dig Neue, was der Phi­lo­soph braucht. Vor allem ist es aber das Unvor­her­seh­ba­re und das Unvor­her­ge­se­he­ne. Das scheint ihn in sei­ner Phi­lo­so­phie anzu­trei­ben. Dazu gehört auch der gewohn­te, aber nicht zwangs­läu­fi g gleich­mä­ßi­ge Takt der Tanz­jün­ger im „Hea­ven“, einem Sze­ne­club, der eini­ge Dut­zend Meter Luft­li­nie ent­fernt am ande­ren Ufer des Kanals liegt. Wenn Nen­nen am Wochen­en­de oder nach Mün­sters stu­den­ti­schem Par­ty­mitt­woch spät nachts in sei­nem Denk­bü­ro hockt, hört er wie sie den Beat zur frü­hen Tages­stun­de erhö­hen. Unwill­kür­lich denkt er an Kin­der von Fließ­band­ar­bei­tern: „Die­ser Sound wirkt, als such­ten sie das Band als Lebens­rhyth­mus. Um drei Uhr wird immer der Arbeits­takt erhöht.“

„Ich brauche den Rummel.“

Aller­dings nicht nur bei den Tän­zern – auch im Wohn­mo­bil: „Ich brau­che den Rum­mel um mich her­um. Der inspi­riert mich“, bestä­tigt Nen­nen. Nach­denk­lich stützt er den Kopf auf die Hand. Irgend­wann ist es dann wie­der fünf Uhr, dann ist es sechs. Er schaut aus dem klei­nen Fen­ster sei­nes Win­ne­bagos. Irgend­wann kehrt Ruhe ein, dann bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Heinz-Ulrich Nen­nen krault durch sei­nen ergrau­ten Bart. Sie kommt, läuft vor­bei, kehrt vom ande­ren Ende wie­der zurück. Sie kommt, sie geht und haucht dem klei­nen Hafen­kos­mos Leben ein. Nen­nen trinkt einen Schluck Tee. Da ist sie, die näch­ste Idee.

Szenenwechsel

Es ist nicht ganz zwölf Mona­te spä­ter. Dies­mal ver­ab­re­den wir uns am ande­ren Ufer des Hafens gegen­über von Nen­nens Wohn­mo­bil. Bes­ser gesagt: gegen­über vom gewohn­ten Platz des Win­ne­bagos. Denn der steht an die­sem Tag nicht dort. Nen­nen hat an die­sem Tag im nahen Fues­trup am Kanal­über­gang einen ande­ren Hafen für sein Denk­bü­ro gefun­den. Die­ser klei­ner Umstand hält ihn aller­dings kei­nes­wegs vom Den­ken ab. Ganz im Gegenteil.

An einem Gelän­der schließt Heinz-Ulrich Nen­nen sein gemüt­li­ches Fahr­rad ab. Der Rah­men hat eine äußerst außer­ge­wöhn­li­che Form. Das ele­gant, leich­te Modell erin­nert an Omas altes Hol­land­rad, aber irgend­wie hat es auch etwas von einem die­ser moder­nen Crui­ser-Bikes. Der Rah­men aus gera­dem, schwar­zen Rohr ist mehr­fach ver­strebt. Sei­ne Win­kel bil­den die Sil­hou­et­te eines schwe­ben­den Dra­chens, der wäh­rend der Fahrt zügig und knapp über den Boden fliegt. „Die­ses Modell ist bereits Ende des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts gebaut wor­den“, erklärt Nen­nen. Das gilt zwar nicht für sein Exem­plar, aber zumin­dest für das Patent: „Das Peder­sen ist ein um 1890 von dem Dänen Mika­el Peder­sen ent­wickel­tes Rad, das drei Jah­re spä­ter zum Patent ange­mel­det und spä­ter in Chri­stia­nia, einer alter­na­ti­ven Wohn­sied­lung in Kopen­ha­gen, wie­der­ent­deckt wur­de. Man hat damals über­legt, ob es mög­lich ist, Fahr­rä­der aus Bam­bus zu bau­en, was fast funk­tio­niert hätte.“

Unscheinbare Augenblicke

Auch bei die­sem sei­ner Ver­kehrs­mit­tel weiß Nen­nen um die Histo­rie. Der Win­ne­bago als india­ni­sches, groß­räu­mi­ges Lebens­do­mi­zil und eine däni­sche, geschichts­träch­ti­ge Lee­ze – für Phi­lo­soph Nen­nen sind sie nicht nur Gebrauchs‑, son­dern auch Luxus­ge­gen­stän­de. Sie unter­schei­den den land­strei­chen­den Glo­be­trot­ter, den gril­len­den Lam­pi­on-Cam­per und Heinz-Ulrich Nen­nen ein­mal mehr ganz deut­lich von­ein­an­der. Geklei­det ist er wie beim ersten Tref­fen: Wie­der trägt er einen schwar­zen, ele­gan­ten Woll­pul­li zu einem dezent gestreif­ten Sak­ko. Der Bart sieht nicht bedeu­tend grau­er aus, die Haa­re auch nicht. Nen­nen schrei­tet über die alten Güter­schie­nen, die ihn gera­de­aus mit Blick in Rich­tung der bun­ten Leucht­re­kla­me des Kinos führen.

„Wir sind sehr mäch­tig im Kulis­sen­schie­ben“, mur­melt er durch sei­nen Voll­bart. „Es sind unschein­ba­re Augen­blicke, die wir schnell über­se­hen. Augen­blicke, die eine ent­schei­den­de Wei­che im Leben stel­len. Beson­ders span­nend sind Irr­tü­mer“, sagt der Phi­lo­soph. „Wir irren uns in Momen­ten, die wir uns gar nicht bewusst machen, und bau­en dar­auf unser kom­plet­tes Leben auf. Wir bau­en unse­re Büh­ne so, wie wir es wol­len. Das birgt eine gewal­ti­ge Gefahr.“ Wer führt da Regie? Nen­nen hält kurz inne und über­legt. Etwa wir selbst? Das gan­ze Leben ein Thea­ter? „Aber es eröff­net zugleich eine rie­si­ge Chan­ce“, fährt er fort. Aller­dings unter einer sehr ent­schei­den­den, wenn nicht not­wen­di­gen Bedin­gung: „Wir müs­sen unse­re Sou­ve­rä­ni­tät behal­ten! Nur dann kann man sagen: Es sind mei­ne ganz per­sön­li­chen Erfah­run­gen, die ich mache, nicht irgend­wel­che. Ich lass’ das jetzt erst mal so lau­fen – und schaue ein­fach mal zu, was mit mir passiert.“

Philosophisches Café

Man merkt schnell, was er bereits vor die­sem Gespräch ange­kün­digt hat: Heinz-Ulrich Nen­nen hat sein phi­lo­so­phi­sches Schaf­fen in Mün­ster aus­ge­wei­tet. Er arbei­tet hier nun auch als lebens­phi­lo­so­phi­scher Weg­wei­ser. Das ein­sti­ge Phan­tom des Indu­strie­ha­fens ist zu einem Rat­ge­ber in Mün­sters all­tags­phi­lo­so­phi­scher Oper gewor­den. Denn Nen­nen hat im ver­gan­ge­nen Jahr ein neu­es Betä­ti­gungs- und Denk­feld ent­deckt. Er lädt inzwi­schen gemein­sam mit der Volks­hoch­schu­le zum sonn­täg­li­chen „Phi­lo­so­phi­schen Café“ und zieht als „ambu­lan­ter Phi­lo­soph“ durch die west­fä­li­sche Dom­stadt. Soll hei­ßen: Der Phi­lo­soph kommt zu Besuch oder man kann ihn besu­chen – in sei­nem ame­ri­ka­ni­schen Winnebago-Wohnmobil.

In einem benach­bar­ten Café bestellt er einen Pro­sec­co und plau­dert. „Ich will den Men­schen gedank­li­che Impul­se mit auf den Weg geben und das Den­ken über das eige­ne Den­ken und Tun för­dern“, erklärt er. Die Ter­min­ver­ein­ba­rung lau­fe modern per E‑Mail und an Ambu­lanz möge er die „Iro­nie des Not­dürf­ti­gen”. Denn die Phi­lo­so­phie sei gar nicht so aka­de­misch, wie vie­le Men­schen den­ken. „Sie ist in ihren Ursprün­gen vor allem eine Lebens­kunst, die auch mit Hei­ter­keit zu tun hat und die uns zum Schmun­zeln bringt. Erkennt­nis muss doch nicht weh tun. Gera­de Selbst­er­kennt­nis soll­te berei­chern!“ Der ambu­lan­te Phi­lo­soph selbst habe bereits in sei­ner revo­lu­tio­när-auf­müp­fi­gen Zeit der Puber­tät ange­fan­gen, übers Den­ken nach­zu­den­ken. „Ich habe ange­fan­gen, in Even­tua­li­tä­ten zu den­ken”, erklärt er. Er habe damals wie vie­le sei­ner Zeit­ge­nos­sen mit sei­ner Vor­stel­lung von gesell­schaft­li­chen Idea­len und mora­li­schen Regeln nicht in die­ses System und die­se Welt gepasst.

Student mit Selbstversorger–Hof

Als er als Teen­ager nach Mün­ster kam, hau­ste er zunächst in einer Wohn­ge­mein­schaft. Spä­ter mie­te­te er sich ein altes Bau­ern­haus in Asche­berg – rund fünf­und­zwan­zig Kilo­me­ter ent­fernt der Dom­stadt. Nen­nen: „Das muss­te damals ein­fach sein!” Schließ­lich war es die Zeit der länd­li­chen Kom­mu­nen, Aus­stei­ger und Selbst­ver­sor­ger. Nen­nen selbst war für hun­dert­fünf­zig Deut­sche Mark Mie­te aller­dings ganz bewusst allein zu Haus. Mög­lichst viel lesen, medi­tie­ren und dis­ku­tie­ren stand auf dem Pro­gramm. Wenn der klei­ne Kot­ten im Win­ter ein­ge­schneit war, hol­te er sich sei­ne Post auch schon mal aus einem Baum an der Stra­ße. Nen­nen: „Ganz wich­tig war die täg­li­che Ber­li­ner Tages­zei­tung. Die war damals ein Muss!” Nur im tief­sten Win­ter zog es ihn von sei­nem klei­nen Selbst­ver­sor­ger-Hof in das mün­ster­län­di­sche Dom­zen­trum: „Wenn die Toi­let­ten zuge­fro­ren waren, dann hat­te man ver­lo­ren und muss­te in die Stadt.”

Heinz-Ulrich Nen­nen spielt mit einer gol­de­nen Flie­ger-Son­nen­bril­le, die er auf dem Tisch vor sich pla­ziert hat. Nach der Zeit des „pro­gram­ma­ti­schen Aus­stei­ger­tums” habe er dann den Weg in „die­se Welt” gesucht, fährt er fort: „Weg von den magisch-mysti­schen Welt­an­schau­un­gen der Hip­pie-Gene­ra­ti­on.” Mit sei­ner Hand ver­treibt er immer wie­der die Flie­gen vom süßen Kaf­fee des Inter­view­ers. Die eine oder ande­re Dro­ge habe er damals pro­biert. „Nicht zum weg­schä­deln, son­dern zur Bewusst­seins­er­wei­te­rung”, betont er in gelas­se­nem Ton­fall, aber durch­aus mit einem stimm­lich erho­be­nen Zei­ge­fin­ger. Man kön­ne schließ­lich nur solan­ge gesund phi­lo­so­phie­ren, wie man nicht psy­cho­ti­sche Züge annimmt und aus der eige­nen Umge­bung und Wirk­lich­keit davon fliegt. So hat er irgend­wann in Büchern die Welt und in der Welt wie­der­um vie­les an Phi­lo­so­phie ent­deckt. Denn Phi­lo­so­phie­ren ist eine Fra­ge der Perspektiven.

Viele verschiedene Kameraperspektiven

So hat er sich gesetz­ten Alters offen­bar gut mit die­ser Welt arran­giert – mög­li­cher­wei­se gar ver­söhnt: „Wir kön­nen uns aus vie­len ver­schie­de­nen Kame­ra­per­spek­ti­ven betrach­ten. Der gesell­schaft­li­che Dis­kurs betont immer wie­der, dass wir ein­stim­mig sein sol­len. Dabei besitzt jeder Mensch doch so man­nig­fal­ti­ge Per­spek­ti­ven auf sich selbst, dass er auch unter­schied­li­chen Stim­men fol­gen kann.” Da kom­me es dar­auf an, „Herr der eige­nen Viel­falt” zu sein. Das bedeu­te nicht, sich an vagen Lia­nen durch den sozia­len Groß­stadt­dschun­gel zu han­geln, son­dern viel­mehr, die rich­ti­ge Lia­ne zu suchen, bevor man auf die wei­te­re Lebens­rei­se geht. Nen­nen: „Wir soll­ten in jeder Situa­ti­on ganz genau aus­lo­ten, wel­cher Stim­me wir bewusst fol­gen wol­len. Zunächst kommt es aber dar­auf an, alle die­se Stim­men wirk­lich zu vernehmen.”

Das bewusst­seins­er­wei­tern­de Hilfs­mit­tel der Dro­gen war ihm dabei immer schon suspekt. Das glei­che gilt sowohl für die Schul­me­di­zin, als auch die Arbeit mit Pati­en­ten, Kli­en­ten oder Kran­ken. So ist Nen­nen bewusst nicht Heil­prak­ti­ker gewor­den. Als ambu­lan­ter Phi­lo­soph will er nicht hei­len, son­dern der eige­nen Sou­ve­rä­ni­tät zum Auf­trieb ver­hel­fen. „Im inspi­rie­ren­den Dia­log“, betont er. Er habe die Dro­gen bewusst für sein Bewusst­sein ein­ge­setzt. Aber er habe immer dar­über nach­ge­dacht, wie sie ihn ihrer­seits beein­flus­sen, ihn hin­ters Licht füh­ren und an sei­nen Strip­pen zie­hen, um ihn mög­li­cher­wei­se aufs Kreuz zu legen. „Vie­le Men­schen han­deln wie Mario­net­ten, die sich in Erwar­tun­gen und Idea­len ver­wickelt haben”, gibt er zu beden­ken. Weil sie nicht über ihr Den­ken nach­den­ken, sei­en vie­le Mit­men­schen ver­strickt und gefan­gen in Erwar­tun­gen, Idea­len und sozia­len Net­zen, die sich häu­fig als ver­fehlt her­aus­stel­len, sobald das Den­ken dar­über in Gang kommt.

Weniger Antworten als Fragen

Das Gespräch hat gar etwas von einem Besuch beim Psy­cho-Doc. Oder ist es eine typi­sche Semi­nar­si­tua­ti­on, wie Nen­nen sie regel­mä­ßig mit sei­nen Stu­den­ten teilt? Die Wahr­heit bewegt sich wohl irgend­wo dazwi­schen. Ganz trenn­scharf sind die Lini­en zwi­schen Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie ohne­hin nicht immer, gibt auch der Phi­lo­soph zu. Der Unter­schied zwi­schen bei­den ist wohl der Grad an Frei­heit. Ein Psy­cho­lo­ge behand­le eher Stö­run­gen, die einen Men­schen in sei­nem Leben ein­schrän­ken, dif­fe­ren­ziert Nen­nen. Als ambu­lan­ter Phi­lo­soph hin­ge­gen will er im Men­schen selbst das Hand- und Denk­werk­zeug wecken, sich in sei­ner sozia­len Umwelt zu fin­den und zu ver­or­ten: „Das ist Selbst­pro­gram­mie­rung”, sagt Nen­nen. „Phi­lo­so­phie­ren kostet Zeit. Wer es aus­ge­las­sen tut, ent­la­stet sich nicht, son­dern bela­stet sich zusätz­lich.” Denn die Phi­lo­so­phie beher­ber­ge weni­ger kon­kre­te Ant­wor­ten als immer mehr Fra­gen, die man an sich selbst, sein Leben und die Gesell­schaft stel­len kann. Nen­nen: „Daher braucht es den Phi­lo­so­phen als Rat­ge­ber in die­sen Fra­gen. Wie einen Pfad­fin­der, der Wege kennt, die durch das Dickicht der Gedan­ken, Idea­le und Gefüh­le hin­durch führt.”

So müs­sen sei­ne Gesprächs­part­ner auch die Kosten für die ein­stün­di­ge Win­ne­bago-Den­ker­run­de von fünf­zig Euro selbst bezah­len. Einen Psy­cho­lo­gen zahlt im Regel­fall die Kran­ken­kas­se. Davon, dass das deut­sche Gesund­heits­sy­stem auch die phi­lo­so­phi­sche „Ori­en­tie­rung zur Selbst­ori­en­tie­rung”, wie Nen­nen sie nennt, bezahlt, sind wir wohl noch ein Stück­chen ent­fernt. Der gesell­schaft­li­che Trend zum Nach­den­ken übers Den­ken sei Jahr­tau­sen­de nach Pla­ton aller­dings wie­der auf dem Weg zurück ins all­ge­mei­ne Bewusst­sein, stellt er fest: „War­um bekommt Richard David Precht sonst eine eige­ne Fern­seh­sen­dung?” Die Phi­lo­so­phie scheint gera­de in der Kri­se und in einer Über­gangs­zeit an Bedeu­tung zu gewin­nen. Denn gera­de dann suchen die Men­schen nach etwas Neu­em, wor­an sie sich fest­hal­ten kön­nen. Dabei soll­ten sie doch viel bes­ser dar­über nach­den­ken, wie sie sich selbst vor allem auch von neu­en Sei­ten ken­nen ler­nen und selbst ori­en­tie­ren kön­nen, mahnt Nennen.

Postmoderne Zersplitterung

Nur all­zu­oft sieht der ambu­lan­te Phi­lo­soph unse­re Idea­le mehr als nur zwie­späl­tig. „Ich habe den begrün­de­ten Ver­dacht, vie­le unse­re Idea­le könn­ten gar falsch sein”, streut er auf ein­mal und ein wenig plötz­lich ein. „Wir tref­fen Ent­schei­dun­gen ohne dar­über nach­zu­den­ken, was wir uns dabei gedacht haben. Wir spie­len Rol­len, ohne zu wis­sen, war­um wir sie so und nicht anders spie­len. Und das Schlimm­ste ist: Die mei­sten Men­schen glau­ben, sie wüß­ten, was sie den­ken und tun!” Kurz­um: Wir machen frem­de Idea­le zu unse­ren eige­nen – ohne zu wis­sen, war­um. Ein­fach so. Ohne jemals dar­über nach­ge­dacht zu haben. Es ist die sozia­le Ent­frem­dung und post­mo­der­ne Frag­men­ti­sie­rung, die der Phi­lo­soph beklagt.

Das Leben gestal­tet sich zuneh­mend kom­ple­xer. Es ist soviel da, aber alles nur bruch­stück­haft. Die Zivi­li­sa­ti­on und Ver­städ­te­rung habe die Men­schen zu ver­spreng­ten, zer­split­ter­ten Indi­vi­du­en gemacht, sagt Nen­nen. Bei allen posi­ti­ven Facet­ten der Indi­vi­du­li­tät han­del­ten die Men­schen aller­dings bei wei­tem noch nicht genü­gend selb­stän­dig und aus sich selbst her­aus. Denn gera­de das ist eine nicht immer wohl­schmecken­de Pil­le – vor allem für die, die in der Lage sind, sou­ve­rän zu denken.

Denken wie eine freischwebende Feder

Heinz-Ulrich Nen­nen ist ein Frei­den­ker. Er ver­gleicht die Phi­lo­so­phie ger­ne mit einer frei­schwe­ben­den Feder: „Ziel des Phi­lo­so­phie­rens ist es, die Feder stets in der Schwe­be zu hal­ten.” Sie darf nicht her­un­ter­fal­len, aber sie darf sich auch nicht mit dem näch­sten Wind­stoß so ein­fach ver­ab­schie­den. Nen­nen denkt bei die­sem Bild ins­be­son­de­re an die Ur-Phi­lo­so­phie eines Pla­ton: Solan­ge alles in der Schwe­be bleibt, ist der phi­lo­so­phi­sche Dis­kurs, der eige­ne Geist und damit auch das eige­ne Leben in Bewe­gung. Aller­dings offen­bart die Schwe­be-Phi­lo­so­phie – nicht zuletzt in Per­son eines Fried­rich Nietz­sche – gewiss auch ein enor­mes Absturz­po­ten­ti­al. Stän­dig das eige­ne, im unend­li­chen Raum schwe­ben­de Selbst zu suchen und zu fin­den, kann auch eine ewi­ge Jagd zwi­schen Hase und Igel sein. Phi­lo­so­phie kann feder­leicht beflü­geln, aber sie kann auch schwer­mü­tig fes­seln – bis zum Exzess.

Gera­de in Zei­ten einer all­ge­mei­nen sozia­len Ver­un­si­che­rung ist der Schwe­be­zu­stand logi­scher­wei­se beson­ders pre­kär. Men­schen brau­chen Ori­en­tie­rung. Vie­le Jahr­hun­der­te lang waren die Kir­che und der Glau­be an Gott dafür zustän­dig. Es gibt Göt­ter, sie ver­kör­pern unse­re Idea­le aber auch unse­re Äng­ste, das steht auch für den Phi­lo­so­phen außer Fra­ge. Nen­nen: „Sie waren und sind seit Jahr­tau­sen­den das, wonach die Men­schen stre­ben.“ In Zei­ten, in denen es Reli­gi­on und Kir­che schwer haben, über­neh­men aller­dings zuneh­mend ande­re deren Auf­ga­be. Micha­el Jack­son etwa. Nen­nen meint Ido­le, an denen sich die Men­schen aus­rich­ten – ohne dass die­se Ido­le noch ech­te Men­schen wären. Denn sie sind ledig­lich Bil­der, ein „Ima­go”, wie Nen­nen sagt. Sie bil­den das popu­lä­re Image als ver­mensch­lich­ten Lebens­geist ab.

Jacksons Fehler war Nietzsches Fehler

Bis zur Selbst-Auf­ga­be habe der „King of Pop” den Men­schen etwas dar­bie­ten wol­len. „Dabei hät­te es doch gereicht, wenn er ein­fach nur dage­we­sen wäre”, bedau­ert Nen­nen. „Jack­son muss­te kaum mehr etwas dafür tun, dass die Mas­sen außer sich gerie­ten.” So habe er ein Kon­zert durch minu­ten­lan­ges Still­ste­hen begon­nen, wor­auf die Fans jede noch so gerin­ge ruck­ar­ti­ge Bewe­gung fre­ne­tisch fei­er­ten. „Auch bei der neu­en Tour­nee hät­ten die Fans ihn ver­göt­tert”, denkt Nen­nen. Aber Jack­son habe zu viel gewollt: „Er woll­te bes­ser sein als Micha­el Jack­son und hat damit den glei­chen Feh­ler gemacht wie Nietz­sche.” Wäh­rend der Pop­star im Alter von ein­und­fünf­zig Jah­ren an einer Über­do­sis von Schmerz­mit­teln starb, hielt es Phi­lo­soph Nietz­sche zwar noch eine Hand­voll Jah­re län­ger aus. Aber auch er stürz­te ab.

Er habe sei­ne Feder zu hoch flie­gen las­sen, sagt Nen­nen, sich dar­aus sehr vage Flü­gel gebaut. Er hät­te sich am Rat sei­nes Vaters Daeda­lus ori­en­tie­ren sol­len, stets in der Mit­te zwi­schen dem kal­ten Meer und der hei­ßen Son­ne zu flie­gen. Aber er soll­te bekannt­lich der Son­ne zu nahe kom­men und mit gebro­che­nen Flü­geln abstür­zen. Er ist zu lan­ge zu hoch geflo­gen, um die gött­li­che Son­ne sei­nes eige­nen Selbst zu suchen. Dann aber sind die gewach­sten Trag­flä­chen sei­ner See­le ver­brannt. Er starb schließ­lich im Alter von sechs­und­fünf­zig Jah­ren. „Irgend­wann löst sich bei den Stars unse­rer Tage das pro­mi­nen­te Göt­ter­bild ab und beginnt ein Eigen­le­ben zu füh­ren”, erläu­tert Phi­lo­soph Nen­nen. „Da kommt es auf den Cha­rak­ter hin­ter der Kunst­fi­gur kaum mehr an. Die Leu­te wol­len den Men­schen dahin­ter gar nicht mehr sehen. Sie ken­nen ihn schließ­lich über­haupt nicht, son­dern spie­geln ledig­lich ihre eige­nen Idea­le auf ein uner­reich­ba­res Bild.”

Ergebnisoffene Wege

Sie ver­ehr­ten anstel­le des­sen ein kun­ter­bun­tes Pot­pour­ri ihrer eige­nen Gefüh­le und Sehn­süch­te, wie sie etwa in einem Gott Jack­son deut­lich inten­si­ver zu Tage tre­ten, als sie es jemals in der Per­son hin­ter der Pop-Iko­ne könn­ten. Daher wer­de in den Regen­bo­gen­me­di­en so gern der so genann­te „Mensch dahin­ter” insze­niert, was den Wider­spruch nur noch wei­ter ver­schär­fe. So stellt Nen­nen fest: „Göt­ter müs­sen sich nicht recht­fer­ti­gen. Wir aber müs­sen das.” Dabei sei doch jeder Irr­tum das Größ­te, das man an und in sich ent­decken kann: „Gera­de der Unter­schied zwi­schen Mensch und Gott ist das, wor­auf es ankommt. Wenn ein Irr­tum auf­fliegt, lachen wir doch sehr oft auch. Dann sind wir fröh­lich – und sogar über­aus glück­lich.” Kein Irr­tum sei es wert, sich dar­über zu ärgern. Man soll­te nur erken­nen und dar­um wis­sen, dass man eine „syste­ma­tisch fal­sche Metho­de” benutzt hat. Ande­res Denk­in­stru­ment – neue Chan­ce. Was für Nen­nen zählt, ist der „ergeb­nis­of­fe­ne Weg” – nicht eine vor­ei­li­ge Ent­schei­dung oder ein vor­schnel­les Urteil.

Heinz-Ulrich Nen­nen schaut aus dem gro­ßen Fen­ster des Cafès auf das wel­li­ge Was­ser des Kanals und die alten, ver­wai­sten Bahn­schie­nen, die davor durchs wild gewach­se­ne Gras schim­mern. „Wenn wir die Wei­che fin­den, vor der wir noch alle Optio­nen hat­ten, kön­nen wir nur dar­aus ler­nen”, sagt er. Dann ver­ab­schie­det er sich für die­sen Tag. Der ambu­lan­te Phi­lo­soph hat noch einen Ter­min. Er krault noch ein­mal durch sei­nen Bart, steigt auf sein gemüt­li­ches Peder­sen-Dra­chen­rad und fährt über die holp­ri­gen alten Wasch­be­ton­plat­ten davon. Aber schon bald, kommt er wie­der. Das ist sicher. Zum Den­ken übers Den­ken in sei­nem india­ni­schen Winnebago.

Bio

Dr. Heinz-Ulrich Nennen

Bis 1989 stu­dier­te Heinz-Ulrich Nen­nen Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie und Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten an der Uni Mün­ster. Er pro­mo­vier­te über „Öko­lo­gie im Dis­kurs“, habi­li­tier­te 2003 über die „Slo­ter­di­jk-Debat­te“ und arbei­tet nun als Hoch­schul­leh­rer an der Uni Karls­ru­he. Zuhau­se aber fühlt er sich noch immer in Münster.