Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Zivilisation

Über mich

Prof. Dr. phil. Heinz-Ulrich Nennen

Hoch­schul­leh­rer für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he.

Phi­lo­so­phi­sche Pra­xis Münster,

für alle Zwei­fels­fäl­le des Lebens, des Den­kens und nicht zuletzt der Gefühle.

Email: heinz-ulrich.nennen@t‑online.de

Motto:

Zunächst muß

das Eigent­li­che

zur Spra­che gebracht werden,

denn nur so kommt das Neue ins Denken.

Von dort kann es in die Welt gelan­gen und spätestens

dann wird es auch im eige­nen Leben nicht ganz ohne Wir­kung bleiben.

Etwas ausführlicher:

Ich bin Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he (KIT). Im west­fä­li­schen Mün­ster betrei­be ich eine Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz, eine Bera­tung zur Selbst­be­ra­tung, denn Phi­lo­so­phie ist ein Gespräch der See­le mit sich selbst.

In Mün­ster habe ich Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie und Erzie­hungs­wis­sen­schaft stu­diert und 1989 mit einer Dis­ser­ta­ti­on unter dem Titel Öko­lo­gie im Dis­kurs pro­mo­viert. Dar­in habe ich den sei­ner­zeit auf­kom­men­de Dis­kur­se über Öko­lo­gie in sei­ner gan­zen Viel­falt der Tech­nik- und Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik doku­men­tiert und die Hin­ter­grün­de syste­ma­tisch rekon­stru­iert. – Dem­nach gibt es drei mög­li­che Begrün­dun­gen für Umweltschutz:

  • prag­ma­tisch-anthro­po­zen­trisch, weil es auf Dau­er unsin­nig ist, sich selbst die Lebens- und Exi­stenz­grund­la­gen zu entziehen
  • ethisch-mora­lisch, weil es gebo­ten erscheint, sich ver­pflich­tet zu füh­len, nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen, ande­ren Lebe­we­sen oder auch Göt­tern gegenüber
  • ästhe­tisch, weil etwa ein Baum weit mehr ist als eine Sau­er­stoff­spen­der, son­dern eben auch ein Erleb­nis, was übri­gens alles ande­re als banal ist

Mit der Dis­ser­ta­ti­on zeig­te sich bereits der Schwer­punkt mei­ner Arbeit: Mich inter­es­sie­ren Dis­kur­se im Gro­ßen und Gan­zen aber auch Dia­lo­ge im Klei­nen und Per­sön­li­chen. Ich bin Dia­log­part­ner und Dis­kurs­ana­ly­ti­ker: Einer­seits inter­es­siert mich die Fra­ge, wie das Neue ins Den­ken kommt, ande­rer­seits, wie Dia­lo­ge und Dis­kur­se sol­che Trans­for­ma­tio­nen schaf­fen. – Daher arbei­te ich gern inter-dis­zi­pli­när, an den Gren­zen zwi­schen Psy­cho­lo­gie, Anthro­po­lo­gie, Kul­tur­wis­sen­schaft und eben Philosophie.

Nach einer 10-jäh­ri­gen Tätig­keit als Wis­sen­schaft­ler im Bereich Dis­kurs an der Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, hat­te ich gestie­ge­nes Inter­es­se dar­an, ein­mal einen Dis­kurs im Pro­zeß, also in “Wild­form” zu beob­ach­ten, zu beschrei­ben und wäh­rend­des­sen zeit­gleich zu analysieren.

Im Som­mer 1999 bot sich die­se Gele­gen­heit. Anläß­lich des Skan­dals um die Elmau­er Rede, die der Phi­lo­soph Peter Slo­ter­di­jk gehal­ten hat­te, kam es zu einem Medi­en-Hype son­der­glei­chen, mit mehr als 1000 Zei­tungs­ar­ti­keln, Kom­men­ta­ren und Berich­ten. Als ich sei­ner­zeit im Radio davor erfuhr, wuß­te ich, daß es “mein” The­ma sein würde.

In einem 700-sei­ti­gen Buch, das auch der Habi­li­ta­ti­on dien­te, habe ich die­sen soeben auf­kom­men­den Skan­dal um die angeb­lich faschi­sto­ide Rede des Phi­lo­so­phen Peter Slo­ter­di­jk in Echt­zeit rekon­stru­iert. Es war ein Phi­lo­so­phi­sches Expe­ri­ment mit der Fra­ge, ob es gelin­gen kann, einen Dis­kurs nicht nur zu beob­ach­ten, son­dern zugleich auch auf den Aus­gang der Slo­ter­di­jk-Debat­te zu spe­ku­lie­ren, noch wäh­rend der Aus­gang des Skan­dals noch offen war.

Die War­nung dage­gen ist bekannt: 

“Und hät­test Du geschwie­gen, wärst Du Phi­lo­soph geblieben.” 

Ich bin davon über­zeugt, daß es mög­lich ist, Phi­lo­so­phie in Echt­zeit betrei­ben zu kön­nen, also wäh­rend der Pro­zeß noch läuft. Erst dann hat auch unser Ver­nunft­ver­mö­gen wirk­lich eine Chan­ce, sich zu bewei­sen. – Bei die­sem phi­lo­so­phi­schen Expe­ri­ment ging es mir um den Beweis, daß es unter gewis­sen metho­di­schen Bedin­gun­gen sehr wohl mög­lich sein kann, Phi­lo­so­phie in Echt­zeit betreiben.

Die Metho­de geht auf man­che Über­le­gung und Beob­ach­tung mei­ner rund 10-jäh­ri­gen Tätig­keit als Wis­sen­schaft­ler im Bereich Dis­kurs an der Stutt­gar­ter Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung zurück. Dort wur­de 1993 im Zuge der Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Atom­kraft (wie Geg­ner sagen), resp.  Kern­ener­gie (wie Befür­wor­ter sagen) und Kli­ma­schutz, von der Lan­des­re­gie­rung in Baden-Würt­tem­berg ein “Thinktank” zur Erfor­schung und zur Bewer­tung von Tech­nik­fol­gen gegrün­det, um mehr Wis­sen­schaft und mehr Dis­kurs in die mit­un­ter sehr dra­ma­tisch geführ­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um neue Tech­no­lo­gien zu brin­gen. Die Poli­tik war sei­ner­zeit in die­sen Fra­gen mit ihrem Latein am Ende, – das ist eben der Augen­blick, in dem neue Insti­tu­tio­nen wie eine sol­che TA-Aka­de­mie gegrün­det werden.

Zu Metho­de: Schaut man sich unse­re Urtei­le, Bewer­tun­gen und Ein­schät­zun­gen genau­er an, so set­zen sie sich zusam­men aus einer Viel­zahl von Aus­sa­gen, die aus unter­schied­lich­sten Sek­to­ren stam­men, die wir aber häu­fig nur zum Teil selbst über­prüft haben. Die Fra­ge ist dann immer, wie sicher, wie ent­schei­dend, wie bela­stungs­fä­hig unse­re Vor­an­nah­men wirk­lich sind. Noch ent­schei­den­der ist es, zu spü­ren, wo die Grund­la­gen und Vor­aus­set­zun­gen nicht wirk­lich sicher sind. 

Das erzeugt eine gewis­sen Offen­heit, auch unge­wohn­ten und ande­ren Per­spek­ti­ven gegen­über. Es geht ums Ver­ste­hen, daher ist jedes “Mit­tel” Recht. Im Hin­ter­grund steht schließ­lich eine Phi­lo­so­phie, die schon beur­tei­len und bewer­ten wird, ob der neue, viel­leicht unge­wohn­te Gedan­ke es mög­lich macht, zu sehen, was sich hin­ter den Kulis­sen abspielt. 

Die Kunst besteht nun genau dar­in, ein jedes mög­li­che Gesamt­ur­teil immer wie­der auf­zu­lö­sen in sei­ne Tei­le, aus denen es zusam­men gesetzt ist, um das eige­ne Urteils­ver­mö­gen noch­mals selbst beur­tei­len zu können.

Wer sich des­sen bewußt ist, soll­te daher wis­sen, was wir eigent­lich wis­sen müß­ten aber viel­leicht gar nicht wis­sen kön­nen, so daß wir uns die Begrenzt­heit unse­res eige­nen Urteils­ver­mö­gens genau­er vor Augen füh­ren können.

“Und hät­test Du geschwie­gen, wärst Du Phi­lo­soph geblie­ben!” Die­se War­nung hat gute Grün­de, denn zwi­schen dem Erha­be­nen und dem Lächer­li­chen liegt nur ein ein­zi­ger Schritt. 

In der Phi­lo­so­phie geht es daher um die Fra­ge, wie­viel wir vom Gan­zen wirk­lich ver­stan­den haben. Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, ein fei­nes Gespür dafür zu ent­wickeln, wie weit ein­zel­ne Aus­sa­gen jeweils tra­gen, wann ein Wort sei­ne Bedeu­tung zu ver­lie­ren beginnt, wann irgend etwas an einer Aus­sa­gen nicht mehr zutref­fend sein kann.

Daher arbei­te ich sehr inten­siv über Sym­bo­le, Mythen und Mär­chen und ins­be­son­de­re auch über Göt­ter­fi­gu­ren, weil sich dar­in, weil sich dahin­ter man­ches ver­birgt, was unse­rem Den­ken in abstrak­ten Begrif­fen wie­der mehr Inhalt, mehr Leben und Geist ver­mit­teln kann.

Phi­lo­so­phie ist weit mehr als nur trocke­ne Theo­rie und eis­kal­te Metho­de. Sie hat auch eine Pra­xis, die sich ganz anders dar­stellt, die nicht nur sehr unter­halt­sam son­dern auch erhei­ternd sein kann. – Das Lachen ist schließ­lich ein immer wie­der­keh­ren­der Topos in der Philosophie.

Phi­lo­so­phie ist nicht nur Theo­rie son­dern auch Pra­xis, geleb­te Pra­xis. Sie setzt daher eine gei­sti­ge Mobi­li­tät vor­aus, die dar­auf aus ist, stän­dig den Stand­ort zu wech­seln, um dabei nicht sel­ten auch die eige­ne Posi­ti­on, also sich selbst zu riskieren.


Im Dialog

Schwebendes Denken

Spra­che erlaubt uns, ein­zel­ne Sicht­wei­sen und Urtei­le der Rei­he nach durch­zu­spie­len. Jede ein­zel­ne Hin­sicht soll ihren gro­ßen Auf­tritt haben. — Ver­ste­hen ist eine beson­de­re Wei­se des Miteinanderseins. 

Paul Klee: Aben­teu­rer­schiff (1929).

Im Dia­log zele­brie­ren wir unser Ein­füh­lungs­ver­mö­gen, jeder ein­zel­nen Per­spek­ti­ve ihre Eigen­art zuzu­ge­ste­hen. — Ver­ste­hen ist aller­dings mit viel Auf­wand ver­bun­den, daher fra­gen wir uns oft, ob es aus­sichts­reich sein kann, uns auf neue Per­spek­ti­ven näher einzulassen. 

Ent­schei­dend sind umfas­sen­de Ein­blicke in die Hin­ter­grün­de. Wir erwar­ten schließ­lich von uns einen hohen Grad an Auf­merk­sam­keit, um dann sou­ve­rän dar­auf zu reagie­ren. — Unser Bewußt­sein erlaubt uns, von uns selbst zu wis­sen, daß und was wir wissen. 

Daher spielt Spra­che eine außer­or­dent­li­che Rol­le. In Dia­lo­gen und Dis­kur­sen ver­stän­di­gen wir uns dar­über, wie sich Wahr­neh­mun­gen machen las­sen, was sie bedeu­ten und wie mit mög­li­chen Wider­sprü­chen umge­gan­gen wer­den kann. — Jedes Bewußt­sein lebt in einer eige­nen Welt und man­che davon sind eigentümlich. 

Das Durch­spie­len von Mög­lich­kei­ten und das Erwä­gen ent­schei­den­der Hin­ter­grün­de ist eine anspruchs­vol­le Kunst, die ihre Anre­gun­gen von weit her­holt. Aber dazu ver­fü­gen wir über Mythen, Sym­bo­le und Geschich­ten, so daß es mög­lich ist, jede davon als eige­ne Innen­welt zu erleben.

Aller­dings haben neue Per­spek­ti­ven oft auch etwas Ket­ze­ri­sches. Sie neh­men nicht die gebo­te­ne Rück­sicht auf eta­blier­te Stan­dards und gehen statt­des­sen unvor­ein­ge­nom­men vor. — Sie möch­ten sich bewäh­ren, was oft zu Über­ra­schun­gen führt, mit denen nie­mand rech­nen konnte. 

Dazu müs­sen mit­un­ter fun­da­men­ta­le Äng­ste über­wun­den wer­den, weil man­cher Gedan­ke an etwas rührt, das viel­leicht noch nie zur Spra­che gebracht wur­de. — Das wie­der­um kön­nen jedoch vie­le gar nicht ertra­gen. Sie möch­ten bei einem mög­lichst ein­fa­chen, oft auch beim bereits gefäll­ten Urteil bleiben. 

In neu­em Licht betrach­tet wirkt man­ches höchst bedroh­lich. Des­halb ist es so bedeu­tend, sich auf den Weg zu bege­ben, um die neu­en Erfah­run­gen nicht nur zu machen, son­dern auch zu ver­ste­hen. — Wir kön­nen gan­ze Wel­ten in Erfah­rung brin­gen und erläu­tern, war­um sie sich wie ver­hal­ten. Aber die­se Viel­falt bringt auch Unsi­cher­heit mit sich.

Hin­ter den Kulis­sen steht das „Selbst”, es sorgt sich um Inte­gri­tät. Wir sind in Geschich­ten ver­strickt und set­zen sie auch wie Mas­ken auf, weil wir ins selbst anhand unse­rer Geschich­ten ver­ste­hen. — Wir iden­ti­fi­zie­ren uns mit unse­rem Selbst und sei­ner Geschich­te. Mit­hil­fe die­ser Instanz ver­su­chen wir uns auf Selbst­kon­zep­te, die im Dia­log gesucht und durch­ge­spielt werden.


EPG II a

Ober­se­mi­nar

EPG II a – Online

Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

SS 2023 | don­ners­tags | 14:00–15:30 Uhr | online 

Beginn: 20. April 2023 | Ende: 27. Juli 2023

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. 

Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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EPG II b

EPG II b (Online und Block)

Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

SS 2023 | Beginn: 30. Juni 2023 | Ende: 13. August 2023 | Online und Block
Ab 30. Juni 2023: 5 Semi­na­re online | frei­tags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
3 Work­shops im Block: Fr, 11.08.2023 | Sa, 12.08.2023 | So, 13.08.2023
jeweils 14–19 Uhr | Raum: 30.91–012.

Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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Sprache, Macht und Hintersinn

Am Anfang war das Wort

Es spricht eini­ges für die mythisch moti­vier­te Spe­ku­la­ti­on, daß am Anfang und noch vor Erschaf­fung der Welt, bereits das Wort vor­han­den gewe­sen sein muß. 

Tat­säch­lich läßt sich die Hypo­the­se nur schwer abwei­sen, daß Affen, die sich aus wel­chen Grün­den auch immer, in der Kopf set­zen, aus­zu­wan­dern aus dem Affen­pa­ra­dies, bereits über Kom­pen­sa­ti­ons­mög­lich­kei­ten ver­fü­gen muß­ten. — Wäh­rend Instink­te auf Lebens­räu­me adap­tie­ren, ist eines der Merk­ma­le für die Son­der­stel­lung des Men­schen eine spe­zi­fi­sche Umweltoffenheit.

Phi­lo­so­phie beginnt mit Stau­nen, daher ist es ange­bracht, auch angeb­li­che Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten gene­rell in Fra­ge zu stel­len: Seit wann ver­fü­gen wir über Spra­che? War­um ›haben‹ wir eigent­lich Spra­che oder ›hat‹ die Spra­che nicht viel­mehr uns? — Was geschieht, wenn wir das Wort ergrei­fen oder auch, wenn uns Wor­te ergrei­fen? Wie ist es über­haupt mög­lich, daß wir sogar über ima­gi­nä­ren Wel­ten reden kön­nen, die nicht wirk­lich sind? 

Es ist erstaun­lich, daß wir mit Wor­ten auch Din­ge ›reprä­sen­tie­ren‹ kön­nen, die gar nicht vor­han­den sind. Selbst wenn Vor­stel­lun­gen an sich irre­al sind, erschei­nen sie gleich­wohl im Nu vor dem inne­ren Auge. Daher wird Stau­nen in der Phi­lo­so­phie zur Metho­de. Es gilt, sich erst ein­mal vor­stel­len zu kön­nen, was wir ver­ste­hen möch­ten. Der Umgang mit dem Fik­ti­ven ist daher von ganz erheb­li­cher Bedeutung. 

Allein die­se For­mu­lie­rung ›nicht wirk­lich‹ hat es in sich. Man könn­te fra­gen: Also was jetzt, wirk­lich oder nicht wirk­lich? Aber genau das, etwas in der Schwe­be las­sen zu kön­nen, macht Inspi­ra­ti­on erst möglich. 

Münch­hau­sens Aben­teu­er. Post­kar­ten­se­rie nach den Lügen­ge­schich­ten des Baron Münch­hau­sen. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Banal ist das alles nicht. Spra­che als sol­che ver­ste­hen zu wol­len bedeu­tet, den Men­schen als sol­chen ver­ste­hen zu müs­sen. Denn wir sind nur, weil wir Spra­che haben und die Spra­che hat uns. Zugleich sind da näm­lich auch Gren­zen, wie Lud­wig Witt­gen­stein konstatiert:

Die Gren­zen mei­ner Spra­che bedeu­ten die Gren­zen mei­ner Welt. (Lud­wig Witt­gen­stein: Trac­ta­tus. Satz 5.6.)

Es ist nicht ein­fach, aus­ge­rech­net in wich­ti­gen Momen­ten, die wie­der und wie­der vor­kom­men, die rich­ti­gen Wor­te zu fin­den. — Also wird bei Witt­gen­stein süf­fi­sant anempfohlen:

Wovon man nicht spre­chen kann, dar­über muß man schwei­gen.(Lud­wig Witt­gen­stein: Trac­ta­tus. Ebd. Satz 7.

Wenn Adam und Eva im Para­dies den Auf­trag erhiel­ten, für alles Namen zu fin­den, dann kann das nur der Anfang gewe­sen sein. — Mensch­li­che Spra­che ist weit mehr als ein­fa­che Nomen­kla­tur , sie erzeugt gan­ze Vor­stel­lungs­wei­sen für Wirk­lich­kei­ten, Wahr­neh­mun­gen, Emp­fin­dun­gen und Sehn­süch­te. Sie kann mit Tabus auch ein­ge­schränk­te Wirk­lich­kei­ten erzeu­gen, die nicht zur Spra­che gebracht wer­den dürfen.

Es gilt, mit den Mit­teln der Spra­che über die Gren­zen unse­res Arti­ku­la­ti­ons– und Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gens hin­aus­zu­ge­hen. — Aber das ergrif­fe­ne Wort muß getra­gen sein von einer Welt­auf­fas­sung, von Welt­an­schau­un­gen, Kul­tur, Lebens­welt, Phi­lo­so­phie, Dich­tung, Kunst und Wis­sen­schaft, anson­sten wer­den die Wor­te sang– und klang­los ein­fach nur verklingen.

Reden über Abwesendes

Ent­schei­dend ist, daß die Wor­te oft selbst wie Reprä­sen­tan­ten fun­gie­ren. Wo etwas tabui­siert ist, wer­den Wor­te stumm. Damit ver­schwin­den aber auch die von die­sen Wor­ten reprä­sen­tier­ten Phä­no­me­ne. Sie gera­ten außer Reich­wei­te unse­rer Wahr­neh­mun­gen und ver­schwin­den jen­seits unse­res Vor­stel­lungs­ver­mö­gens. — Man wird ohne Sank­tio­nen nicht ein­mal mehr nach ihnen fragen.

John Col­lier (1850–1934): Col­lier: Priest­ess of Del­phi (1891). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Sie sind dann nicht mehr wahr­nehm­bar und auch nicht mehr mit­teil­bar. Es sind bemer­kens­wer­te dia­lo­gi­sche und dis­kur­si­ve Anfor­de­run­gen, die wir tag­täg­lich erfül­len, um im inne­ren Thea­ter unse­res kon­sen­su­al koor­di­nier­ten Vor­stel­lungs­ver­mö­gens die Kulis­sen solan­ge zu ver­schie­ben, bis wir ein­sichts­fä­hig wer­den. — Wie anspruchs­voll die­se Kunst eigent­lich ist und wor­auf es dabei ankommt, läßt sich an einem inter­es­san­ten Bei­spiel demonstrieren:

Fran­ci­ne Pat­ter­son, Forschungs–Direktorin der Kali­for­ni­schen Goril­la Foun­da­ti­on, hat­te in rund 25 Jah­ren ein Gorillaweib­chen namens Koko mit einer Zei­chen­spra­che im Umfang von etwa tau­send Zei­chen ver­traut gemacht, nebst eini­ger eng­li­scher Laut­wör­ter, um sich auf die­se Wei­se mit ihr ver­stän­di­gen zu können.

Ein Inter­net­pro­vi­der insze­nier­te dar­auf­hin als Wer­be­gag die Mög­lich­keit, mit Koko via Inter­net zu kom­mu­ni­zie­ren. Die Fra­gen soll­ten in die Zei­chen­spra­che über­setzt, Kokos Ant­wor­ten von Mit­ar­bei­tern am Ter­mi­nal ins Inter­net ein­ge­ge­ben werden.

“Der Chat begann, Tali­ka faß­te sich als erste Mut: ›Hal­lo Koko, es ist eine Ehre, dich zu tref­fen.‹ Kokos Ant­wort war erstaun­lich: ›Gut hier.‹ Und als der Mode­ra­tor die ersten Fra­gen ein­sam­mel­te, husch­te ein ent­schie­de­nes ›Koko liebt Essen!‹ über die Bild­schir­me. (…) Ob sie Vögel mag, woll­te einer wis­sen. Koko ging zum Fen­ster, schau­te hin­aus, und mein­te plötz­lich: ›Fake‹. Das kommt immer dann, wenn von Din­gen die Rede ist, die nicht hier und jetzt prä­sent sind, erklär­te Dr. Pat­ter­son.” (Die­ter Grön­ling: ›Koko liebt Essen!‹ Fra­ge­stun­de mit einem Flach­land­go­ril­la im Inter­net. In: die tages­zei­tung, 30. April 1998. S. 20.)

Man spricht offen­bar als Gorill­ada­me nicht über Abwe­sen­des, schon gar hin­ter dem Rücken der Din­ge, über Sachen und Lebe­we­sen, die im Augen­blick nicht ›da‹ sind. — Offen­bar fehlt das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, so daß ein Fake dekla­riert wird, wenn Sachen nicht vor­han­den sind.

Da nun die Gram­ma­tik zustän­dig ist für die Onto­lo­gie, wird bereits im Vor­feld dar­über befun­den, ob etwas ›exi­stent‹ ist oder aber nicht. Und über Nicht–Vorhandenes zu reden, ist doch Unsinn, oder? — Es ist, als wür­de die Gram­ma­tik bei Koko strei­ken und jeden Ver­such ver­ei­teln, etwas zur Spra­che zu brin­gen, das nicht wirk­lich, son­dern nur in der Vor­stel­lung ›ist‹.

Dabei kön­nen Ima­gi­na­tio­nen zugleich vor­han­den und nicht vor­han­den sein, näm­lich in unse­rer Phan­ta­sie, die bei Bedarf auch flie­gen­de rosa­ro­te Ele­fan­ten zur Ver­fü­gung stellt. Inso­fern haben wir es bei Koko mit einem begrenz­ten Vor­stel­lungs­ver­mö­gen zu tun; Gren­zen, die wir als Men­schen anstands­los über­schrei­ten. — Aber es ist nicht ein­fach, sich Phan­ta­sie als sol­che über­haupt vorzustellen.

Bewußt­sein läßt sich als System beschrei­ben, das mit einer gro­ßen Viel­falt von unter­schied­li­chen Beob­ach­tungs­be­ob­ach­tun­gen ope­riert. Dabei geht es um Blick­win­kel, Per­spek­ti­ven und Dif­fe­ren­zen, die gegen­ein­an­der und mit­ein­an­der ins Ver­hält­nis oder auch in Kon­trast gesetzt wer­den. — Die­ses Beob­ach­ten von Wahr­neh­mungs­wahr­neh­mun­gen kann ad Infi­ni­tum immer kom­ple­xer wer­den, vom ein­fa­chen Bewußt­sein über das Selbst­be­wußt­sein, bis hin zum Geist.

Dem­nach gibt es stets ein Bewußt­sein, das aus ande­rer War­te ein ande­res in sei­ner Wahr­neh­mung beob­ach­tet. Erst dadurch wird die­se Wahr­neh­mung ihrer­seits ›bewußt‹. — Ich weiß dann nicht ein­fach nur, son­dern ich weiß, daß ich etwas weiß, des­sen ich mir bewußt bin.

Dar­in liegt einer der wesent­li­chen Unter­schie­de zu den Tie­ren: Es ist uns durch Erle­ben im eige­nen Vor­stel­lungs­ver­mö­gen mög­lich, so zu ver­fah­ren, als wären wir ›mit­ten­drin‹, inmit­ten der Ereig­nis­se. — Dabei wis­sen wir zugleich, daß alles ›nur‹ ima­gi­niert ist, daß es rei­ne Phan­ta­sie­wel­ten sind.

Aller­dings kön­nen wir in und mit die­sen ima­gi­nä­ren Wel­ten unse­ren gei­sti­gen Hori­zont ganz beträcht­lich erwei­tern. Wir kön­nen alle erdenk­li­chen Erleb­nis­se, Erfah­run­gen und Beob­ach­tun­gen machen, die von erheb­li­cher Bedeu­tung sein können.

Phan­ta­sie ist eine erstaun­li­che Fähig­keit, die nicht genug gewür­digt wer­den kann. Der­weil liegt die eigent­li­che Kunst dar­in, eini­ger­ma­ßen ›kon­struk­tiv‹ zu ima­gi­nie­ren, um dann mög­lichst genau dar­über zu sprechen.

Quad­re ’L’art de la con­ver­sa’, de René Magrit­te. Expo­si­ció de Caix­afòrum a Bar­ce­lo­na, març de 2022.—Quelle: Public Domain via Wikimedia.

Die­se Illu­stra­ti­on bewußt mira­ku­lös. Unschwer ist zu erken­nen: Es ist ein ‘Magrit­te’. Aber nicht die­ser ist hier das The­ma oder sein Sur­rea­lis­mus, auch die­ser steht nicht im Zen­trum. Tat­säch­lich han­delt es sich um den Aus­schnitt aus dem Kata­log einer Kunst­aus­stel­lung über René Magrit­te in Bar­ce­lo­na. Die Gemälde–Beschriftung lie­fert dazu einen siche­ren Anhalts­punkt. — Die­ses gan­ze Arran­ge­ment soll illu­strie­ren, daß wir hoch­kom­ple­xen Zusam­men­hän­ge ›lesen‹, ›inter­pre­tie­ren‹, ›deu­ten‹ und ›ver­ste­hen‹ können.

Daher rührt aber auch eine bis heu­te nach­wir­ken­de Urangst, weil unse­re Alt­vor­de­ren auf ›fre­vel­haf­te‹ Wei­se die Auto­ri­tät der Instink­te miß­ach­tet und durch Spra­che und Ima­gi­na­ti­on die Gren­zen der tie­ri­schen Lebens­wel­ten über­tre­ten und über­wun­den haben.

Das Ima­gi­na­ti­ons­ver­mö­gen erlaubt uns, auch Abwe­sen­des zur Spra­che zu brin­gen, als Kom­pen­sa­ti­on für die ver­lo­re­ne Instinkt­si­cher­heit. — So sind wir uns in der Vor­stel­lung selbst immer einen Schritt vor­aus, aber auch nur sel­ten ›eins mit uns selbst‹.

So wur­den neue Mög­lich­kei­ten eröff­net, sich selbst ori­en­tie­ren zu kön­nen, etwa durch Erfah­rungs­aus­tausch und durch Wei­ter­ga­be von Wis­sen. Kul­tur wur­de als etwas völ­lig Neu­es erschaf­fen, als Gegen­welt zur Natur. — Dabei wur­den die Vor­aus­set­zun­gen geschaf­fen für ein Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, mit dem es mög­lich wur­de, sich in der gan­zen Welt selbst ori­en­tie­ren zu können.

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Menschenbilder

Für eine neue Pädagogische Anthropologie

Die Auf­ga­ben für Lehr­kräf­te stei­gen seit Jah­ren, weil Gesell­schaft und Staat kei­ne Vor­stel­lung mehr haben, wor­auf es ankommt. — Aus Bil­dung ist Aus­bil­dung gewor­den und das vor dem unmensch­li­chen Bild einer “natür­li­chen” Aus­le­se, als leb­ten wir noch im Tierreich.

Die Zahl der Lehr­kräf­te wird immer gerin­ger, weil es kaum noch ein belast­ba­res, posi­ti­ves Men­schen­bild gibt und Über­zeu­gun­gen, dafür auch ein­tre­ten zu kön­nen. — Und die Gesell­schaft gefällt sich dar­in, alles ein­fach nur abzuwälzen.

Im Zuge der Corona–Krise ist deut­lich gewor­den, daß etwas faul ist mit dem mis­an­thro­pi­schen Men­schen­bild. Die Zei­ten sind vor­bei, als reli­giö­se oder poli­ti­sche Ideo­lo­gien noch die Vor­stel­lun­gen von der “Bil­dung des Men­schen­ge­schlechts” beherrsch­ten. Nur der Mis­an­thro­pis­mus ist noch geblieben.

Aber den mie­sen Men­schen­bil­dern kann man bei­kom­men. Es gilt, eine all­ge­mei­ne Rat­lo­sig­keit, die nicht sel­ten in tie­fe Ver­zweif­lung füh­ren, durch neue Zuver­sicht zu überwinden.

Dazu braucht es wie­der ein stand­fe­stes Auf­tre­ten von Phi­lo­so­phen, Erzie­hungs­wis­sen­schaft­le­rin­nen, Päd­ago­gen und Päd­ago­gin­nen. Aber die­se müs­sen sich erst ein­mal ihrer­seits neu über­zeu­gen von der Bedeu­tung ihres Tuns und von der Legi­ti­mi­tät ihrer Professionen.

Zunächst ist in der Päd­ago­gik selbst ein wie­der moti­vie­ren­des Men­schen­bild erfor­der­lich. — Die Theo­rien dazu sind da. Es kommt nun dar­auf an, eine zeit­ge­mä­ße Pra­xis und ein neu­es Selbst­ver­ständ­nis auf die­sen Fun­da­men­ten zu errichten.

Auf das Menschenbild kommt es an

Seit Jah­ren gebe ich Semi­na­re für ange­hen­de Leh­rer und Leh­re­rin­nen am KIT in Karls­ru­he. — Aber jetzt möch­te ich nicht mehr nur exklu­siv dort wir­ken, son­dern Semi­na­re zur Super­vi­si­on, zum Atem­ho­len, Über­le­gen, Nach­den­ken und zu neu­em Mut anbie­ten. Denn mir ist immer wie­der auf­ge­fal­len: Die Moti­vation kann nur von innen kom­men, von einem Men­schen­bild, das von einer inne­ren Wär­me erfüllt ist.

Der vitru­via­ni­sche Mensch
Leo­nar­do da Vin­ci, ca. 1490;
Gal­le­ria dell’ Acca­de­mia, Venedig.

In der Theo­rie gibt es die­se Per­spek­ti­ven bereits seit 1928, als mit der Anthro­po­lo­gi­schen Wen­de die ersten Dis­kur­se auf­ka­men dar­über, wel­che wis­sen­schaft­lich gesi­cher­ten Aus­sa­gen gemacht wer­den kön­nen über das ver­meint­li­che “Wesen des Menschen”.

Damals ent­stand die Anthro­po­lo­gie als trans­dis­zi­pli­nä­rer Dis­kurs über die “Con­di­tio huma­na”. — Inzwi­schen ist dar­aus ein beein­drucken­des Ensem­ble aus einer Viel­zahl aller erdenk­li­cher Wis­sen­schaf­ten aus Natur–, Kul­tur– und Gei­stes­wis­sen­schaf­ten geworden.

In Zwei­fels­fäl­len kön­nen wir die­se Dis­kur­se wie ein Ora­kel anru­fen, um Fra­gen zu beant­wor­ten, deren Ant­wor­ten oft nur vor­ein­ge­nom­men sind. In sol­chen Streit­fra­gen wirkt die Anthro­po­lo­gie wie ein wis­sen­schaft­li­ches Orakel.

Wich­tig ist nicht nur, was aus­ge­sagt wird, son­dern auch wie und auf wel­che Fra­gen wir tat­säch­lich erschöp­fen­de Ant­wor­ten erhal­ten. So läßt sich man­ches sehr klar ent­schei­den, weil es um beleg­ba­re Fak­ten und rekon­stru­ier­ba­re Zusam­men­hän­ge geht, die sich erör­tern lassen.

Aber noch inter­es­san­ter wird es, wenn wir von der Anthro­po­lo­gie gar kei­ne oder nicht erschöp­fen­de Ant­wor­ten erhal­ten, son­dern nur noch die Aus­kunft, es wür­de ein Prin­zip zugrun­de lie­gen. So ist die Ant­wort auf die Fra­ge nach dem Wesen des Men­schen in etwa so zu beant­wor­ten, daß es dar­in liegt, sich selbst zu kul­ti­vie­ren, sich selbst zu “bil­den”. Dann wird deut­lich, wie sehr das mensch­li­che Wesen davon geprägt ist, “offen” zu sein.

Wir sind nicht vor­de­fi­niert wie Tie­re, wir sind zur Frei­heit gebo­ren, was aber auch mit Frei­heits­schmer­zen ver­bun­den ist. — Daher brau­chen wir Men­to­ren in der Funk­ti­on von Heb­am­men, Beglei­tern und Rat­ge­be­rin­nen bereits bei den ersten Schrit­ten und auch spä­ter noch auf dem Weg in eine ganz indi­vi­du­el­le Zukunft, in der es glück­lich macht, sich selbst bei er eige­nen Ent­fal­tung über die Schul­ter zu sehen.

Die “Unbe­stimmt­heit” des mensch­li­chen Wesens ist das, was die “Wür­de des Men­schen” aus­macht. Dar­in liegt das eigent­li­che Geheim­nis des Erfolgs in der Menschheitsgeschichte.
Wir ste­hen auf den Schul­tern von Riesen.


Hermeneutik

Verstehen ist kreativ

Nicht nur auf der Büh­ne, auch im Publi­kum wird man sich eini­ges ein­fal­len las­sen müs­sen, um zu ver­ste­hen. Wer sich dabei selbst auf der Lei­tung steht, hat das Nach­se­hen. — Wer sich dabei aber über die eige­ne Schul­ter schaut, betreibt die Kunst des Ver­ste­hens: Hermeneutik. 

Miri­am Jonas: Pol­ka Popes. Wand­in­stal­la­ti­on aus 75 Tei­len, Pla­sti­lin, Fisch­kon­ser­ven­do­sen, Acryl­glas, Holz. Maße: 260 x 415 cm; Bar­ce­lo­na, Mün­ster 2011. — Quel­le: Miri­am Jonas: www​.miriam​jo​nas​.de/​P​o​l​k​a​-​P​o​pes.

Es kommt beim Ver­ste­hen dar­auf an, nicht ein­fach nur zu hören oder zu schau­en, son­dern der eige­nen Vor­stel­lung dabei zuzu­se­hen, wie sie von uns selbst zustan­de gebracht wird. Wir kön­nen das! 

Wir kön­nen allen Ern­stes pro­to­kol­lie­ren, was man in wel­cher Rei­hen­fol­ge gese­hen, gefühlt und gedacht hat. — Es gibt tat­säch­lich Log­bü­cher im Hirn, in denen alles auf­ge­zeich­net ist. Wer mag, kann sogar dar­in blättern. 

Unser Bewußt­sein ist ein Netz­werk von Beob­ach­tungs­be­ob­ach­tun­gen. Da wird nicht ein­fach irgend etwas nur gese­hen, son­dern die­ses Sehen muß wie­der­um “gese­hen” wer­den. Nur dann kann es über­haupt als “wirk­lich” emp­fun­den wer­den, nur dann zählt es über­haupt. Anson­sten könn­ten wir uns alles Mög­li­che ein­fach nur einbilden. 

Es ist mit etwas Übung mög­lich, sich selbst beim Ver­ste­hen über die Schul­ter zu sehen. Man kann sogar den “Betriebs­funk” abhö­ren und sich einklin­ken in die Rou­ti­nen der inne­ren Verständigungsprozeduren.

Ver­ste­hen ist selbst ein krea­ti­ver Pro­zeß. Etwas Bedeu­tungs­vol­les nur wahr­neh­men und auf Anhieb ver­ste­hen, das kön­nen nur Göt­ter. — Was Göt­tern mühe­los zufällt, dazu müs­sen wir uns aller­dings auch erst auf den Weg machen. 

Dazu haben wir sie schließ­lich kre­iert, um uns Idea­le zu bie­ten, in denen wir uns spie­geln kön­nen, um zu sehen, wie weit wir schon sind, wenn wir wis­sen wol­len, ob und inwie­fern wir ihnen als Ideal–Selbst schon das Was­ser rei­chen können. 

Wer also Wert legt auf ein beson­de­res Urteils­ver­mö­gen, wer etwas Eige­nes sein und sagen möch­te, soll­te sich dar­auf ein­las­sen, beim Ver­ste­hen lan­ge Wege mit vie­len Sta­tio­nen zu neh­men. Das “Heu­re­ka” mag am Ende ste­hen und in einem ein­zi­gen Augen­blick aus­ge­ru­fen wer­den, es ist aber die Krö­nung für einen gan­zen Prozeß. 

Ver­ste­hen ist weit mehr als nur das Lösen eines Rät­sels, ent­schei­dend sind Selbst­be­geg­nun­gen. Wir erfah­ren sehr viel über uns selbst, sobald wir uns beim Wahr­neh­men, Deu­ten und Ver­ste­hen selbst beob­ach­ten und begegnen. 

Es ist erstaun­lich, dem eige­nen Emp­fin­den, Ver­ste­hen und Reflek­tie­ren bei der Arbeit zuzu­se­hen. Man kommt sich dann vor wie der Eigen­tü­mer einer Fabrik, in der Wahr­neh­mun­gen pro­du­ziert wer­den, die auf Sinn hin aus­ge­legt sind. 

Wer sol­che Wag­nis­se unter­nimmt, wird belohnt mit Erfah­run­gen auf der Meta–Ebene. Es sind Selbst­er­fah­run­gen, die per­sön­li­cher, inten­si­ver und tie­fer nicht sein könnten.

Ich bin soeben im Netz der Net­ze auf Fotos von einem Kunst­werk gesto­ßen, das ich vor­zei­ten bespro­chen habe. — Die Begeg­nung fand rein zufäl­lig statt, auf einer Aus­stel­lung in der Kunst­aka­de­mie Münster.

Und im Semi­nar über “Die Schön­heit der See­le” ging es am letz­ten Frei­tag um “Her­me­neu­tik” und die “Kunst des Ver­ste­hens”. Das hat mich dar­auf gebracht, die­sen alten Spu­ren noch ein­mal nach­zu­ge­hen. — Das hat wie­der­um dazu geführt, daß ich den Text aus dem Jah­re 2011 über­ar­bei­tet und vor allem mit den damals noch nicht öffent­lich erhält­li­chen Fotos ver­se­hen habe. 


Vom Über–Ich zum Ideal–Ich

Narzißmus als Selbst–Konzept 

Der Umgang mit der Figur des Nar­ziß läßt zu wün­schen übrig. Oft wer­den Dia­gno­sen vor­ge­bracht, wie sie üblich sind von Lie­ben­den, die sich ver­schmäht sehen. Dann ist auch noch von toxi­schen Bezie­hun­gen die Rede, um die Feh­ler beim Gelieb­ten zu fin­den. Aber zuletzt täuscht nichts dar­über hin­weg, daß Besitz-Ansprü­che oft als Aus­druck von Lie­be kaschiert werden. 

Schön­heit mag erstre­bens­wert sein, zu viel davon wird aber zu einem ganz gro­ßen Pro­blem. Nar­ziß hat die­ses Han­di­kap schon seit frü­he­ster Kind­heit erlebt und daß ist der dra­ma­ti­sche Kern die­ser mythi­schen Figur. — Er ist ein­fach zu schön. 

Er ist der­art schön, daß alle außer sich sind und ihn berüh­ren, besit­zen und sich vor allem mit ihm sehen las­sen wol­len. Aber nie­mand inter­es­siert sich für ihn als Per­son. Also beginnt er damit, sich für sich selbst zu interessieren. 

Die­se Schwie­rig­keit hat er weder in der Kind­heit, noch in sei­ner Jugend bewäl­tigt kön­nen. Und jetzt, wo er ein jun­ger Mann ist, in den sich alle unent­wegt unsterb­lich ver­lie­ben und ihn ver­fol­gen wie einen Super­star, ist es eigent­lich zu spät. — Nar­ziß hat sich inzwi­schen eine äußerst schrof­fe Art der Zurück­wei­sung zu eigen gemacht. 

Er wehrt Ver­lieb­te nicht ein­fach nur ab, son­dern ver­sucht sie mit hef­tig­sten Wor­ten zu ver­let­zen. Mit mög­lichst schrof­fen Reak­tio­nen schreckt er sie ab und trifft sie ganz tief ins Herz, weil er es sich selbst schul­dig ist, sie alle ein­fach nur abzu­weh­ren. — Dabei weiß er selbst gar nicht, was mit ihm ist. Er hat sich selbst nie ken­nen gelernt, weil ihm immer ande­re dazwi­schen kamen. 

Inso­fern wird man als Außen­ste­hen­der fra­gen, ob das denn nun wah­re, ehr­li­che, ech­te Lie­be sein kann, was da an ein­neh­men­den Begehr­lich­kei­ten an den Tag gelegt wird. Er ist schließ­lich einer, der dar­un­ter lei­det, daß er an Auf­merk­sam­keit zu viel hat und nichts davon will. — Also stößt er die ihn ver­meint­lich Lie­ben­den hef­tig vor den Kopf. Er kennt sich selbst nicht, war­um soll­te er sich lie­ben las­sen? Er muß die ent­täu­schen, die ihn erklär­ter­ma­ßen lie­ben. Er will nicht geliebt wer­den, weil er Lie­be als Ver­ein­nah­mung empfindet. 

Ein Ver­eh­rer will ihm ein Schwert schen­ken. Nar­ziß weist ihn der­art hef­tig zurück, daß die­ser die Göt­ter um Rache anfleht, bevor er sich selbst mit die­sem Schwert tötet. — Und tat­säch­lich machen es sich die Göt­ter zu eigen, den Ver­schmäh­ten in sei­ner Lie­bes­krank­heit zu rächen. 

Die Begeg­nung mit der Nym­phe Echo ist bereits Teil des gött­li­chen Plans.— Hera hat­te ihr die Stim­me genom­men, weil die­se sie damit täu­schen woll­te, um Zeus ein Ali­bi zu ver­schaf­fen, als die­ser in Lie­bes­an­ge­le­gen­hei­ten unter­wegs war. — Echo kann also nur noch wie­der­ho­len, was bereits gesagt wor­den ist, sie kann nicht von sich aus sprechen. 

Eines Tages ver­irrt sich Nar­ziß auf der Jagd und trifft auf die Stim­me der Nym­phe, die sich augen­blick­lich ver­liebt und schon bald vol­ler Hoff­nung auf sei­ne Gegen­lie­be ist. Ihr gan­zes Auf­tre­ten läßt an ein Grou­pie den­ken, denn sie gerät bei einer Begeg­nung mit ihrem Star völ­lig außer sich und kann noch stam­meln. — Aber sie täuscht sich, anstel­le eines Aus­drucks der Lie­be kommt nur eine schrof­fe Abwei­sung des unter sei­ner eige­nen Attrak­ti­vi­tät lei­den­den jun­gen Man­nes: Lie­ber wür­de er ster­ben, als sich von ihr auch nur umar­men zu lassen. 

John Wil­liam Water­hou­se: Echo und Nar­cissus, 1903.

Nun fragt man sich schon, ob so hef­ti­ge Reak­tio­nen wirk­lich not­wen­dig sind. Aber man soll­te nicht ver­ges­sen, daß Nar­ziß nichts ande­res kennt, als dau­ernd wegen sei­ner äuße­ren Vor­zü­ge begehrt zu wer­den, wäh­rend sich für ihn selbst in sei­ner Per­son nie­mand inter­es­siert. — Er hat sich in sei­ner eige­nen Per­son gar nicht ent­wickeln und ent­fal­ten kön­nen. Es wur­de ihm alles geschenkt, auf­ge­drängt, auf­ge­nö­tigt, nur weil er schön und begeh­rens­wert ist. 

Dar­auf pas­siert, was der blin­de Seher Tere­si­as des­sen Mut­ter bereits pro­phe­zeit hat­te, als die­se wis­sen woll­te, ob er ein lan­ges und glück­li­ches Leben vor sich habe. — Solan­ge er sich selbst nicht ken­nen lernt, ja, so lau­te­te die rät­sel­haf­ten Auskunft. 

Genau das soll­te jedoch gesche­hen. Er soll­te sich ken­nen ler­nen, weil die Göt­ter ihre Hän­de bereits im Spiel hat­ten. Er ver­lieb­te sich aber nicht ein­fach in sich selbst, das ist nur die kind­li­che Vari­an­te in der Deu­tung des Mythos. Als wür­de er den Spie­gel­test nicht bestehen und nicht ein­mal sich selbst erken­nen kön­nen. — Das Dra­ma ist tief­grün­di­ger, weil Nar­ziß offen­bar etwas tut, was “die Jugend” sei­ner­zeit erst­ma­lig zeig­te. Von einem neu­en Wahn ist die Rede, sich fort­an auf sich selbst zu kon­zen­trie­ren, aber die alten und ehren­wer­ten Sit­ten und Gebräu­che links lie­gen zu lassen. 

Nar­ziß wei­ger­te sich, den übli­chen Weg eines jun­gen Man­nes zu gehen. Er will nicht mit einem erfah­re­nen Mann als sein Men­tor für eini­ge Zeit in die Wild­nis gehen, um dort vom Jun­gen zum Mann zu wer­den. — Denn was brauch­te es, um ein “vor­treff­li­cher Mann” zu wer­den? Doch wohl urba­ne Fähig­kei­ten wie Lesen, Schrei­ben, Reden, Ver­han­deln und Ver­trä­ge aus­han­deln kön­nen. Man braucht Erfah­run­gen in der Län­der­kun­de aber weit weni­ger sol­che in der Natur. 

Nar­ziß beginnt also, sich nicht mehr im Äuße­ren zu suchen, son­dern im eige­nen Inne­ren. Und er trägt den Namen einer Nar­zis­se, weil auch die­se ihren Kopf so hän­gen läßt, als wäre sie ganz tief in sich selbst ver­sun­ken, um sich zu “bespie­geln”. — Damit beginnt er und hört aber auch nicht mehr auf. Der Nar­ziß­mus ist inso­fern eine Dia­gno­se, die auf die­je­ni­gen zutrifft, die aus einer sol­chen Selbst­ver­sen­kung nicht wie­der herauskommen. 

Michel­an­ge­lo Meri­si da Cara­vag­gio: Nar­ziss, 1594ff.

Tat­säch­lich hat die­ser tra­gi­sche Mythen­held aber erstaun­li­che Poten­tia­le, die ihn die­ser Tage zum Leit­bild einer Dia­gno­se über den Zeit­geist wer­den las­sen, die es in sich hat: Wir haben einen Para­dig­men­wech­sel zu ver­zeich­nen, der vom Über–Ich zum Ideal–Ich führt. 

Das Über–Ich ist, der Ter­mi­no­lo­gie von Sig­mund Freud zufol­ge, eine Reprä­sen­ta­ti­on des “Vaters” im Sin­ne einer auto­ri­tä­ren Welt, in der Tra­di­ti­on und Sit­te noch ganz stren­ge Grenz­re­gime bewach­ten und sank­tio­nier­ten. Wehe denen, die da aus irgend­wel­chen Rol­len fal­len und aus der Rei­he tanz­ten! Und genau sol­che Dia­gno­sen fol­gen dann auch: Narzißmus. 

Das Über–Ich hat mit der Figur des auto­ri­tä­ren Got­tes, Königs, Ehe­gat­ten und Vaters vor allem eine Aus­prä­gung, es ist eine uner­bitt­li­che höchst rich­ter­li­che Instanz, die anders­ar­ti­ge Iden­ti­tä­ten gar nicht erst auf­kom­men läßt. Alle erdenk­li­chen Wün­sche und Traum­ge­spin­ste sind sank­tio­niert und allein der Wunsch danach kann zu kata­stro­pha­len Selbst­be­stra­fun­gen füh­ren, die sich in unter­schied­li­chen Sym­pto­men äußern. 

Das war solan­ge der Fall, wie Sit­ten­stren­ge und Geschlechterrollen–Erwartungen noch selbst­ver­ständ­lich zu sein schie­nen und die, die sie hat­ten, sich lie­ber selbst etwas anta­ten, als dazu auch öffent­lich zu stehen. 

Aber eigent­lich wird die­se Geschlecht­er­ord­nung schon mit dem 1. Welt­krieg ganz erheb­lich gestört. Vie­le Män­ner zogen freu­dig in den Krieg, wie Hoo­li­gans, die sich ver­ab­re­det haben, ihre Kräf­te zu mes­sen. Aber der Krieg war inzwi­schen hoch tech­ni­siert wor­den, man lan­de­te in den Schüt­zen­grä­ben und ver­lor ganz und gar, was Män­ner bis dato noch glaub­ten für sich bean­spru­chen zu dür­fen, die­sen gewis­sen Schneid, der gern vor­ge­führt wird, dem die Uni­for­men die­nen sol­len und der angeb­lich bei Frau­en sehr gut ange­kom­men sein soll. 

Im Grun­de war das Ende des mar­tia­li­schen Männ­lich­keits­geh­abe eigent­lich schon mit dem Ersten Welt­krieg ein­ge­läu­tet. Aber die Lek­ti­on moch­te nicht wirk­lich ver­fan­gen, also “brauch­te” es noch einen Zwei­te Welt­krieg, bis end­lich ein ande­rer Geist zuge­las­sen wur­de, der sich dann auch in der Flower–Power–Zeit mit den Hip­pies und der Love–and–Peace–Zeit ein Pop–Denkmal schuf, bis hin zum New Age, das auch eine ganz neue Art des Glau­bens legitimierte. 

Tat­säch­lich kam es nur zum Bruch mit dem Über­kom­me­nen, aber nicht zu einem alter­na­ti­ven Weg. Das Auto­ri­tä­re war ver­pönt, das Patri­ar­cha­le wur­de immer ver­pön­ter und den­noch kam nicht wirk­lich so etwas wie eine Alter­na­ti­ve zum Über–Ich auf, das die Geschicke bis­her so restrik­tiv gelenkt und gelei­tet hatte. 

Man soll­te sich etwas Zeit neh­men und auf sich wir­ken las­sen, was da zu dia­gno­sti­zie­ren ist über die­sen Para­dig­men­wech­sel im Zeit­geist. — Die Patri­ar­chen ste­hen schon seit gerau­mer Wei­le nicht mehr wie die Legi­ons­füh­rer in ihren Über­wa­chungs­kan­zeln, von denen sich alles über­blicken ließ. Es gibt sie noch in alten Fabri­ken, die­se Chef–Büros mit gro­ßen Fen­stern nach über­all­hin und mit Blick auf den Hof. Aber heu­te sind dort die Werk­stät­ten von Künstlern. 

Inter­es­san­ter­wei­se wur­de ein Groß­teil der Über­wa­chung nicht nur ins Inne­re, also in die Psy­che ver­legt, son­dern auch indi­vi­dua­li­siert. Das heißt, wir haben gelernt, uns selbst zu über­wa­chen, unser eige­ner Chef zu wer­den, dau­ernd an uns zu arbei­ten, um ein ande­rer, bes­se­rer, erfolg­rei­che­rer Mensch zu wer­den und dann auch zu sein. — So erklärt sich auch, war­um die Selbst­aus­beu­tung jeder Aus­beu­tung den Rang abläuft. 

Die “Gene­ra­ti­on Z” irrt nicht, wenn sie auch noch Zeit zum Pri­vat­le­ben für sich bean­sprucht. Aber sie täuscht sich, wenn sie meint, alles selbst unter Kon­trol­le zu haben, denn das ist mit­nich­ten der Fall. Wir sind zu unse­ren eige­nen Aus­beu­tern gewor­den und das Plan­ziel ist nicht mehr das, was sich gehört. — Es geht viel­mehr um das Erfül­len von Zie­len, die vom Ideal–Ich aus­ge­hen. Nicht weni­ge sind also bereit, sich selbst zu versklaven.

Der Nar­ziß­mus ist eine gesell­schaft­li­che For­de­rung an jeden Ein­zel­nen: “Du mußt mehr wer­den, als du bist, du mußt zu dei­nem Ide­al wer­den.” Aller­dings ist das Prin­zip dahin­ter höchst unso­zi­al, es geht nur noch um den per­sön­li­chen Erfolg, um das Errin­gen von äußer­li­chem Sta­tus und mon­dä­ne Luxus-Sym­bo­le, wie sie die Wer­bung als Ersatz­dro­gen längst parat hält. 

Wir sind in eine neue Pha­se der Prä­de­sti­na­ti­ons­leh­re gera­ten. Max Weber hat dar­auf sei­ne Theo­rie des Kapi­ta­lis­mus ent­wickelt, daß der Erfolg des bür­ger­li­chen Kauf­manns selbst ein Zei­chen sein soll­te dafür, von Gott aus­er­wählt wor­den zu sein, weil ja jetzt schon, im irdi­schen Leben eini­ges an Erfolg offen­sicht­lich gewor­den ist. 

Jetzt machen sich vie­le selbst unglück­lich mit Zie­len, die nicht wirk­lich zu errei­chen sind. Und der Gott, der da die Zei­chen gibt, daß man zu den von ihm Aus­er­wähl­ten gehört, ist die nar­ziß­ti­sche Vari­an­te eines Ide­al-Ichs, dem es vor allem dar­um geht, daß die Show stimmt. 

Der neue Para­dig­men­wech­sel in der Selbst­kon­trol­le ist einer­seits zu begrü­ßen, aber eine wirk­li­che Lösung ist er nicht. Das Unglück, nicht zu genü­gen, ist nicht wirk­lich gerin­ger, son­dern sogar sehr viel grö­ßer gewor­den. Jetzt gibt es kei­ne Aus­flüch­te mehr, nicht zu genü­gen, weil man Idea­len ent­spre­chen muß, die man bei sich selbst an den Tag legt. — Das Über–Ich wur­de abge­löst vom Ich–Ideal, das viel radi­ka­ler beschaf­fen ist, weil es kei­ne Aus­flüch­te mehr duldet.

Es ist gar nicht so ein­fach, dem tra­gi­schen Hel­den eines klas­si­schem Mythos gerecht zu wer­den. Zur Not kommt er uns zur Hil­fe, auf daß wir uns selbst bes­ser verstehen. 

Sie­he hier­zu: Isol­de Cha­rim: Die Qua­len des Nar­ziss­mus. Paul Zsol­nay Ver­lag, 2022.


Burnout der Gesellschaft

Über die Macht der Medien und das
Unbehagen in der Kultur

Seit Jahr­mil­lio­nen erklä­ren, ver­stän­di­gen und deu­ten Men­schen sich mit­hil­fe von Spra­che, in Dia­lo­gen und Dis­kur­sen, vor dem Hin­ter­grund spi­ri­tu­el­ler, reli­giö­ser oder und spä­ter auch phi­lo­so­phi­scher Welt­an­schau­un­gen. — Vor etwa 6000 Jah­ren kommt zuerst die Schrift auf, dann der Buch­druck und schließ­lich die Digitalisierung.

Die Schrift macht poten­ti­ell alle Men­schen zu Lesern, ver­bun­den mit dem Anspruch auf Bil­dung, Geschmacks- und Urteils­fä­hig­keit. Und mit dem Inter­net wer­den nun prin­zi­pi­ell alle Men­schen zu Autoren. — Eine neue Medi­en­re­vo­lu­ti­on, die dem des Buch­drucks in nichts nach­steht, hat soeben erst begonnen…

Wir erle­ben nur den Anfang die­ser Zei­ten­wen­de und sind jetzt schon maß­los über­for­dert. Das alles führt zum Burn­out der Gesell­schaft, zum Ver­lust der Dia­log­fä­hig­keit und zum Rück­fall in längst über­wun­de­ne Zei­ten. Die neu­en Her­aus­for­de­run­gen könn­ten nicht grö­ßer sein: Wir müs­sen den Umgang mit der neu­en Viel­falt, mit den vie­len neu­en Mög­lich­kei­ten erst ent­wickeln, wir müs­sen uns wei­ter entwickeln.

Gust­ave Doré: Die
baby­lo­ni­sche Sprach­ver­wir­rung, 1865ff.

Das ist der heim­li­che Hin­ter­sinn sol­cher Kri­sen und Wen­de­zei­ten: Die Mensch­heit wird sich ange­sichts die­ser neu­en glo­ba­len Ver­bun­den­heit ent­we­der wei­ter ent­wickeln oder im Cha­os unter­ge­hen und dann zumin­dest eini­ge Stu­fen her­un­ter­fal­len in ihrer Ent­wick­lung vom Tier zum qua­si gött­li­chen Wesen.

Der­zeit ver­hält es sich wie mit der baby­lo­ni­schen Sprach­ver­wir­rung: Alle wol­len reden und Gehör fin­den, aber nie­mand will mehr zuhö­ren, um vom Ver­ste­hen ganz zu schwei­gen, denn dazu haben die mei­sten gar nicht mehr die Nerven.

Bei alle­dem ist eine all­ge­mei­ne Ten­denz erkenn­bar, die offen­bar von Anfang an hin­ter der Anthro­po­ge­ne­se steht: Es geht um immer mehr Indi­vi­dua­li­tät, Auto­no­mie und Selbst­ori­en­tie­rung, also um mehr Bewußt­sein, Empa­thie­ver­mö­gen, Selbst­be­wußt­sein und Geist.

Die Natur hat im Men­schen ein Auge auf­ge­schla­gen, um sich selbst in den Blick zu neh­men. Dabei spielt Reli­gi­on nach wie vor eine ganz bemer­kens­wer­te Rol­le, nicht unbe­dingt im her­kömm­li­chen Sin­ne. — Aber als Gespür für Höhe­res, ins­be­son­de­re für Auf­klä­rung und Huma­nis­mus, wer­den reli­giö­se Moti­ve noch über lan­ge Zeit erfor­der­lich sein. Denn was der Psy­che gut tut, muß nicht unbe­dingt auch gut sein für die Seele.

Die näch­sten Stu­fen in die­ser gei­sti­gen Höher-Ent­wick­lung des Men­schen­ge­schlechts zeich­nen sich bereits ab. Es geht um mehr Selbst­be­wußt­sein, Geist und Selbst­ori­en­tie­rung. Dazu aber sind sehr viel mehr Nar­ra­ti­ve erfor­der­lich und sehr viel mehr Dia­lo­ge, in denen die­se Nar­ra­ti­ve erst noch ent­wickelt wer­den müs­sen. — Jeder Mensch braucht sei­ne indi­vi­du­el­le Geschich­te, um sich selbst erklä­ren zu kön­nen. Das wesent­li­che dabei ist aller­dings, in die­ser Indi­vi­dua­li­tät auch ver­stan­den zu werden.

Der Ein­gang ins Ver­ste­hen läßt sich fin­den, indem wir unter den vie­len Mythen die­je­ni­gen aus­wäh­len, die viel­ver­spre­chend erschei­nen, weil ähn­li­che Pro­ble­me ver­han­delt wer­den. — Das ›pas­sen­de‹ Nar­ra­tiv einer mythi­schen Bege­ben­heit wird dann ›über­tra­gen‹ auf unse­ren indi­vi­du­el­len Sachverhalt.

Wir ver­ste­hen nur auf dem Umweg über Ana­lo­gien, in denen über­zeit­li­che Erfah­run­gen nie­der­ge­legt wor­den sind, die dann im per­sön­li­chen Gespräch über­tra­gen wer­den auf die eige­ne Indi­vi­dua­li­tät, den eige­nen Indi­vi­dua­lis­mus als Konzept.

Richard Gei­ger: Ari­ad­ne und The­seus, 1900.

In die­sem Fall scheint Ari­ad­ne hilf­reich zu sein, weil sie sich gene­rell mit Laby­rin­then aus­kennt. Die Prin­zes­sin von Kre­ta war The­seus dabei behilf­lich, sich im eigens für den stier­köp­fi­gen Mino­tau­rus geschaf­fe­nen Laby­rinth zu orientieren.

Daß es sich beim Ari­ad­ne­fa­den aber um ein bana­les Woll­knäu­el gehan­delt haben soll, ist nicht wirk­lich über­zeu­gend. — Selbst­ver­ständ­lich steht es uns frei, im Zwei­fels­fall unzu­frie­den zu sein, ins­be­son­de­re mit dem, was uns die kinds­ge­rech­ten Les­ar­ten bieten.

Die Mythen sind von einer Kul­tur auf die näch­ste über­ge­gan­gen, so daß wir über vie­le Mög­lich­kei­ten ver­fü­gen, in den Fein­hei­ten zwi­schen den Vari­an­ten genau­er zu lesen, um den dar­in ver­bor­ge­nen Sinn her­aus­zu­le­sen: Ari­ad­ne ist Schü­le­rin der Cir­ce, die wie­der­um auf die Isis zurück geht, einer über­aus mäch­ti­gen ägyp­ti­schen Göt­tin der Zauberkunst.

Wie Medea ist auch Ari­ad­ne bestens mit dem Zau­bern ver­traut, die Wege blockie­ren aber auch öff­nen kön­nen. Dabei wird das Laby­rinth bald zum Sym­bol für den Lebens­weg, der oft in aus­weg­lo­se Lagen führt aber nicht wie­der her­aus. — Die eigent­li­che Bedeu­tung von Ari­ad­ne liegt also dar­in, Ori­en­tie­rung zu bie­ten, gera­de in Kon­stel­la­tio­nen, die etwas von einem Laby­rinth haben.

Der Zau­ber, mit dem Ari­ad­ne gan­ze Laby­rin­the zu bewäl­ti­gen hilft, liegt jedoch rät­sel­haf­ter­wei­se im Geheim­nis von Schön­heit. — Das Prin­zip lau­tet: Bezäh­mung der Wild­heit durch die Schönheit.

Auf die­se geheim­nis­vol­le For­mel kommt der würt­tem­ber­gi­sche Bild­hau­er Johann Hein­rich von Dannecker auf­grund sei­ner Stu­di­en­rei­se nach Rom. Damit bringt er sei­ne Inspi­ra­ti­on auf den Begriff. — Der Geist sei­ner vor­zei­ten über­aus popu­lär gewor­de­nen Skulp­tur: Ari­ad­ne auf dem Pan­ther, offen­bart eine phi­lo­so­phi­sche Spe­ku­la­ti­on von ganz beson­de­rer Bedeutung.

Der Pan­ther ist das Wap­pen­tier für den Wein– und Rausch­gott Dio­ny­sos, der im übri­gen nicht nur der Vor­läu­fer von Jesus Chri­stus in vie­len Aspek­ten sei­ner Sym­bo­lik ist, son­dern der dabei auch noch tie­fer blicken läßt in die Tie­fen einer bipo­la­ren Psyche.

Dio­ny­sos auf dem Rücken eines Pan­thers; links ein Pap­po­si­le­nus, der ein Tam­bu­rin hält; ca. 370 v. Chr., gefun­den in Paestum.

Die­ser Gott der Eksta­se hat selbst eine über­aus kom­pli­zier­te Ver­gan­gen­heit, die macht ihn zum Bor­der­li­ner macht. Sobald er auch nur den gering­sten Ver­dacht spürt, er könn­te even­tu­ell auch nur schief ange­schaut wor­den sein, greift er zu dra­ko­ni­schen, uner­bitt­li­chen und scheuß­li­chen Rache­ak­ten, die völ­lig unver­hält­nis­mä­ßig sind.

Da wird dann das, was die­se Skulp­tur zu sagen ver­steht, zur fro­hen Bot­schaft über die Poten­tia­le einer not­wen­di­gen hei­li­gen Hand­lung: Ari­ad­ne bewäl­tigt das Wil­de, Rohe und Unmensch­li­che sol­cher Rach­sucht durch Schön­heit! Die­ser Gedan­ke ist vor allem phi­lo­so­phisch von der­ar­ti­ger Bri­sanz, so daß ich sagen wür­de, ver­su­chen wir es doch!

Immer­hin hat sich bereits Han­nah Are­ndt an die­sem Pro­jekt nicht ganz ver­geb­lich ver­sucht, eine Poli­ti­sche Theo­rie auf der Grund­la­ge der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu ent­wickeln. — Wir soll­ten end­lich wie­der nach den Ster­nen greifen!

Es gibt inzwi­schen hin­rei­chen­de Anhalts­punk­te für die Annah­me, daß die Ver­nunft als Mei­ste­rin der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit Ästhe­tik vor­geht, wenn es gilt, in irgend­ei­ner Ange­le­gen­heit ›das Gan­ze‹ zu ver­ste­hen. — Erst dann kom­men Dia­lo­ge und Dis­kur­se wirk­lich zur Ent­fal­tung, wenn alle, die nur Recht­ha­ben wol­len, end­lich ergrif­fen wer­den und sich zu fas­sen versuchen.

Es kann näm­lich in der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft gar nicht mehr ums Recht­ha­ben gehen. — Wir kön­nen nur noch an den Ande­ren appel­lie­ren, er möge doch auch so wie wir, etwas Bestimm­tes so emp­fin­den wie wir, um dann auf die tie­fe­ren Beweg­grün­de zu spre­chen zu kom­men, die sich ein­stel­len, wenn man es ver­steht, sich end­lich für Höhe­res zu öffnen.

Im Mit­tel­al­ter wur­de die Höfi­sche Gesell­schaft auf ähn­li­che Wei­se geschaf­fen, als man die rauh­bei­ni­gen War­lords von Raub­rit­tern auf ihren zugi­gen Bur­gen abbrin­gen woll­te, von ihrem lukra­ti­ven Tun und Trei­ben, nach eige­nem Gesetz auf Beu­te­zug zu gehen.

Sie wur­den nach­hal­tig ›gezähmt‹ im Min­ne­sang, also durch Schön­heit. — Für ihre Dame ihres Her­zens opfer­ten sie ihre Wild­heit, ihr Unge­stümt­sein und wohl auch einen nicht unbe­trächt­li­chen Teil einer Männ­lich­keit, die inzwi­schen man­chen Frau­en bei Män­nern fehlt.

Es kommt dar­auf an, die Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit allen ihren Zumu­tun­gen und Her­aus­for­de­rung zu wür­di­gen in einer Welt, die immer mehr zum Amok­lau­fen neigt. — Irgend­was muß den stän­dig dro­hen­den Irr­sinn im Zaum hal­ten. Und genau das macht sie, die Göt­tin der ästhe­ti­schen Urteils­kraft: Ariadne.

MP3 – Mitt­schnitt des Vortrags.


Alice Schwarzer zum achtzigsten Geburtstag

Eine schon lang fällige Glosse

Für Fried­rich Kaulbach

Als Mann, nun­mehr aber auch Phi­lo­soph, möch­te ich end­lich die Gele­gen­heit ergrei­fen, die­ser Dame den Spie­gel vor­zu­hal­ten. Sie hat näm­lich ein­fach nur ihr Ding gemacht.

Es ist mir rich­tig schlecht ergan­gen in der wich­tig­sten Zeit mei­nes Lebens, als noch alles offen war und man sich oft nicht zu erweh­ren wuß­te, gegen alle die­se Anwür­fe. Sie hat über Jahr­zehn­te die Dis­kurs­kon­trol­le an sich geris­sen und viel zu vie­le folg­ten ihr blind.

Wil­liam Adol­phe Bou­gue­reau: Ore­stes wird von Furi­en gehetzt, 1862.

Die­ser Geschlech­ter­kampf wur­de dra­ma­tisch und vor allem ago­nal insze­niert. Nein, es muß­te nicht end­lich ein­mal gesagt wer­den, was zu sagen war. Das wäre ohne­hin gekom­men, ein­fach weil es nach dem Krieg auf der Agen­da stand.

Dabei hät­te ich so gern mit den Frau­en gemein­sa­me Sache gemacht. — Noch heu­te erin­nern mich die Schil­der vor den Flei­sche­rei­en mit den klei­nen Hun­den, die lei­der nicht hin­ein­dür­fen, an die dama­li­ge Gepflo­gen­heit, Män­ner aus­zu­gren­zen, wo Frau­en ihre Weib­lich­keit wie eine Mon­stranz vor sich hertrugen.

Der Schwarzer–Feminismus ist ein Revan­chis­mus, der Män­ner zu Tätern gemacht hat, ein­fach nur, weil uns ein Stück­chen am Y–Chromosom fehlt. Man kann das als Dege­ne­ra­ti­on deu­ten, man kann aber auch zu bemer­kens­wer­ten Spe­ku­la­tio­nen grei­fen dar­über, ob “die Natur” nicht womög­lich tat­säch­lich die Frau­en auf dem Schirm hat, wenn es um den weib­li­chen Orgas­mus geht.

Das ist eine inter­es­san­te Spe­ku­la­ti­on, die der idea­li­sti­sche Phi­lo­soph Fried­rich Wil­helm Joseph Schel­ling in die Welt gesetzt hat, eine etwas wun­der­li­che Spe­ku­la­ti­on, die aber natur­ge­schicht­lich gar nicht ganz so abwe­gig erscheint. Wenn wir den Anfang des Lebens im Tüm­pel betrach­ten, dann kle­ben die Weib­chen ihre Eier an einen Strauch und die Männ­chen kämp­fen um die Gele­gen­heit, ihren Samen dar­über zu sprit­zen. — Da fragt man sich schon, wo und wie denn die Lust her­kom­men soll, beim anony­men Sex.

Dann wur­den die Ver­hält­nis­se in die­sem Ur–Tümpel nach innen ver­legt, als die Gebär­mut­ter ent­wickelt wur­de. Und die Männ­chen beka­men einen Penis, um mög­lichst nahe her­an­zu­kom­men an die Eizel­le, die den Sper­mi­en durch einen Mai­glöck­chen­duft den rich­ti­gen Weg weist. — Dem­nach sind Frau­en ein­fach näher dran, denn das Maxi­mum der Lust­erfah­rung fin­det in ihrem eige­nen Inne­ren statt und Män­ner sind dabei eher außen vor. Das wie­der­um läßt an den blin­den Seher The­re­si­as den­ken, der 9 Mona­te als Frau gelebt hat, um zu bekun­den, die Frau habe das 9–fache der Lust im Ver­hält­nis zum Mann.

Auch das läßt sich nach­voll­zie­hen. Frau­en brau­chen eben die stär­ke­re Moti­va­ti­on, weil sie auch mehr ris­kie­ren im Ver­hält­nis zum Mann, näm­lich Frei­heit, Gesund­heit, Leben und auch die sozia­le Stel­lung. — Und in der Tat wur­de die “Schwä­che” von Frau­en als Müt­ter, die ein Klein­kind zu ver­sor­gen haben, immer wie­der von Gesell­schaf­ten scham­los ausgenutzt.

Aber bei alle­dem hat die Schwarzer–Welt einen ganz ein­fa­chen Schwarz–Weiß–Code. Män­ner sind dem­zu­fol­ge in Wirk­lich­keit, als was Frau­en schon immer gese­hen wur­den: min­der­wer­tig. Und seit­her gel­ten Män­ner als brand­ge­fähr­lich. — Wäh­rend Frau­en ihr Schick­sal zum Opfer­sein kaum abweh­ren kön­nen, wird das Mann–Sein selt­sam wider­sin­nig dargestellt.

“Der” Mann hat halt die fal­sche Natur und kann des­we­gen nicht ein­mal sicher sein vor sich selbst, denn das Trieb– und Täter­haf­te ist angeb­lich bio­lo­gisch ganz tief in ihm ange­legt. — Empa­thie wird exklu­siv nur Frau­en zuge­schrie­ben. Sen­si­bi­li­tät steht im Schwarzer–Feminismus den Män­ner ein­fach nicht zu, weil sie nichts wei­ter sind als ent­ar­te­te Frauen.

Ich bin sei­ner­zeit nicht in Män­ner­grup­pen gegan­gen, obwohl ich ver­ste­hen kann, daß es eini­ge getan haben. Ich habe mich auch nicht als Emanzipations–Couch ange­dient, um dann Sex zu erbet­teln. Auch bin ich nicht zum Frauen–Versteher oder zum Sof­tie gewor­den. Mir war das alles zu wür­de­los, also habe ich mei­ne Männ­lich­keit lie­ben gelernt. — Wie heißt doch der Werbe–Spruch einer ein­schlä­gi­gen Indu­strie: Beton, es kommt dar­auf an, was man damit macht!

Aber die Trau­ma­ti­sie­run­gen waren wohl plat­ziert. Ich konn­te Mit–Männer beob­ach­ten, die des nachts hin­ter einer Frau her­lie­fen, um ihr zu bekun­den, daß man ihr wirk­lich nichts wür­de antun wol­len. — Und dann die­se unsäg­li­chen Bemer­kun­gen: Sag­te doch eine die­ser so schreck­lich ober­fläch­lich eman­zi­pier­ten Frau­en zur ande­ren, als ich ihnen beim Ein­tritt zu einer Alumni–Feier im Overberg–Kolleg den Vor­tritt ließ und die Tür auf­hielt: Also das soll­ten man als Frau immer mitnehmen…

Ich habe bei­zei­ten das Gedan­ken­le­sen ent­wickelt und kann mühe­los in sol­chen Situa­tio­nen den unaus­ge­spro­che­nen Satz wei­ter fort­füh­ren, bis hin zum imper­ti­nen­ten Rest: Anson­sten müs­se frau die Män­ner klein machen und auch so hal­ten. — Das Gan­ze war ja so sicher, weil es die Rache­göt­tin Ali­ce so und nicht anders ver­ord­net hat­te in ihrer gar nicht gött­li­chen Weis­heit. Sel­ber­den­ken war schon immer etwas, was die mei­sten sich nicht zumu­ten moch­ten, gera­de Frau­en nicht.

Ich bin Phi­lo­soph gewor­den, aber so etwas braucht sei­ne Zeit. Anfangs ist es eher so, daß man ein­fach alles ernst nimmt, auch den größ­ten Unfug, weil man ja nun selbst urtei­len ler­nen will. — Also habe ich mich rich­tig ein­ma­chen las­sen von geist­lo­sen Men­schIn­nen, die ihr Ver­gnü­gen dabei hat­ten, irgend­wel­che Rache­ge­lü­ste an mir zu exekutieren.

Phi­lo­so­phie macht erst ein­mal schwach, weil man gar nichts mehr sicher weiß, wenn alles mög­lich sein könn­te, was denn nun noch gel­ten darf. Aber es ist unethisch, die Schwä­che ande­rer aus­zu­nut­zen und nicht dafür zu sor­gen, daß sie auf Augen­hö­he sind. — Im Zwei­fels­fall gibt man ihnen bes­se­re Argu­men­te ein­fach selbst zur Hand. Das ist kein Groß­mut, das ist nicht gön­ner­haft, son­dern ein­fach nur mensch­lich. Es ist eben kei­ne Demü­ti­gung, man will doch, daß das Gegen­über ein eben­sol­ches ist und auch blei­ben soll.

Das wäre Kon­zi­li­anz und wah­re gei­sti­ge Grö­ße, alles ande­re ist ein­fach nur banau­sen­haft. — Aber in der Welt von Ali­ce Schwar­zer, die die­sen uner­bitt­li­chen Geschlech­ter­kampf in Sze­ne gesetzt hat, war das natür­lich ver­pönt. Und alle ihre Vesta­lin­nen taten, was der Furie ein Wohl­ge­fal­len war.

Ich erin­ne­re mich noch mit Schau­dern dar­an, wie sich die­ser Schwarzer–Feminismus all­mäh­lich das For­mat von Ras­sis­mus zuge­legt hat. Da wur­de näm­lich die natür­li­che Bös­ar­tig­keit “des” Man­nes ein­fach unter­stellt. — Wer da noch in der Iden­ti­täts­fin­dung war, konn­te glatt von die­sen Bull­do­ze­rIn­nen über­fah­ren wer­den. Par­don wur­de nicht gege­ben, um den unse­li­gen deut­schen Kai­ser zu zitieren.

Zwei Rache­göt­tin­nen
(Zeich­nung aus dem 19. Jahr­hun­dert nach einer anti­ken Vase)

Ich erin­ne­re mich mit Ent­set­zen an die Dog­ma­tik nach Schwar­zers Gusto, daß angeb­lich in jedem Mann ein Gewalt­tä­ter, ein Ver­ge­wal­ti­ger und zuletzt auch ein Kin­der­schän­der “natür­lich” mit ange­legt sein soll. — Män­ner waren als sol­che eine Gefahr, denn sie könn­ten jeder­zeit sehen­den Auges außer Kon­trol­le zu gera­ten, weil sie eben ein­fach die­se mie­se männ­li­che Natur haben. Das sind Men­schen­bil­der aus den 50er Jah­ren, in denen das Wort vom “Trieb” jede Psy­cho­lo­gie ersetzt, weil danach gleich das Wort “Täter” kam.

Das­sel­be Argu­men­ta­ti­ons­prin­zip habe ich neu­lich mit Ent­set­zen in einem mei­ner Semi­na­re wie­der erlebt: Wir müß­ten als ‘Wei­ße’ alle Schuld auf uns neh­men, weiß zu sein. Das sag­te ein Stu­dent, der Leh­rer wer­den will, über Inter­kul­tu­rel­le Gerech­tig­keit. — Ich habe gesagt: Das ste­hen Sie nicht durch. Sie über­neh­men sich, das kön­nen Sie gar nicht bewäl­ti­gen! Sie kön­nen es nur für sich selbst anders machen.

Die Aus­wüch­se im Geschlech­ter­krieg waren irre: Es gab doch tat­säch­lich Män­ner, die fle­hent­lich um sich blick­ten, wenn sie mit einem Klein­kind zu tun beka­men. Es könn­te sich ja die böse Natur im unge­zähm­ten Inne­ren des Man­nes wider Wil­len los­ma­chen und außer Kon­trol­le gera­ten. — Sol­che Men­schen­bil­der sind selbst the­ra­pie­be­dürf­tig. Aber Ali­ce Schwar­zer hat jede Gele­gen­heit genutzt, die­se Wel­le, die sie selbst erzeugt hat, mit Won­ne und Zor­nes­rö­te zu Tode zu rei­ten. Die Moti­ve dafür lie­gen im Krieg, der nur mit ande­ren Mit­teln als Geschlech­ter­krieg fort­ge­setzt wurde. 

Ich wäre damals nur zu gern mit den ersten Freun­din­nen, Lieb­schaf­ten und Selbst­su­che­rin­nen ins Ein­ver­neh­men gekom­men: Eman­zi­pierst Du mich, eman­zi­pie­re ich Dich! Wir wuß­ten doch alle gar nicht, wohin die Rei­se hin­ge­hen soll. Nur weg, aber wohin? — Sol­che Part­ner­schaf­ten wären aber Kol­la­bo­ra­ti­on mit dem Feind gewe­sen. Wie­viel Drit­tes Reich steckt eigent­lich noch immer hin­ter alledem?

Erzählt wird von einer Bege­ben­heit, daß die jun­ge Ali­ce Schwar­zer in Paris mit Jean Paul Sart­re zum Inter­view ver­ab­re­det war. Und ja, die­ses unde­fi­nier­ba­re Ver­hält­nis zwi­schen den bei­den öffent­li­chen Intel­lek­tu­el­len wirk­te äußerst vor­bild­lich. — Aber ich fand das alles etwas suspekt. Was wur­de da eigent­lich ver­herr­licht? Sie führ­ten eben ein öffent­li­ches Leben und ich den­ke, daß vie­les ein­fach nur Insze­nie­rung war.

Jeden­falls soll mit­ten­drin Simo­ne de Beau­voir plötz­lich ins Zim­mer gepol­tert sein, habe die Inter­viewe­rin abschät­zig ange­schaut und sei dann augen­blick­lich wie­der ver­schwun­den. — Und Ali­ce Schwar­zer, wie sie spä­ter zu Pro­to­koll geben wird, habe sich damals ob der übli­chen Kür­ze ihres Mini­rocks der­art geschämt…

Die Tech­nik, die Sie im “Klei­nen Unter­schied” ein­setzt, war damals üblich und effekt­ha­schend. Das war auch in der angeb­lich wirk­lich wahr­haf­ten Arbei­ter­li­te­ra­tur so, mit denen jun­ge Leh­rer ihre Schü­ler trak­tier­ten, um sie auf dem Wege zur rich­ti­gen Ideo­lo­gie zu brin­gen, um ein bes­se­rer Mensch zu wer­den. — Ach die vie­len fal­schen Propheten…

Was ler­nen wir dar­aus, gar nichts! Ich sit­ze gera­de auf dem Flug­ha­fen von Tene­rif­fa und mag die­se weib­li­chen Frau­en hier. Selbst­ver­ständ­lich machen sie alles mög­li­che, aber hier muß nicht dau­ernd her­vor­ge­ho­ben wer­den, daß sie ja eigent­lich ein Han­di­kap haben, näm­lich eine Frau zu sein und trotz­dem Bus­fah­re­rin. — Vor allem sind sie alle­samt immer eine Erschei­nung. Ich den­ke dann immer, daß wir das in Deutsch­land nicht haben, liegt eben am dau­er­haf­ten Krampf in der Geschlechterfrage.

Es gab damals nicht ein­mal ein Wort für Fakes, weil man noch alles geglaubt hat, was gedruckt wur­de. Also muß­te, was in angeb­li­chen Inter­views, anfangs mit Arbei­tern dar­ge­stellt wur­de, doch auch der Lebens­wirk­lich­keit von Frau­en ent­spre­chen. Man kann ja nun in die­se Inter­views mit “den” Frau­en wer weiß was hin­ein­schrei­ben. — Und bei Ali­ce Schwar­zer ging es immer gegen die Ker­le. Sie wur­den in die­sem Geschlech­ter­krieg syste­ma­tisch in die Defen­si­ve getrie­ben, mit ihren scheuß­li­chen Ange­wohn­hei­ten aus Pene­tra­ti­ons­wut, Bru­ta­li­tät, Orgasm–Gap und grob­schlech­ti­gem Unmenschentum.

Was mich damals schon gestört hat, weiß ich aller­dings inzwi­schen zu ver­tre­ten. Der “Päd­ago­gi­sche Eros” ist auch wie­der so ein Wort, das nach dem nun wirk­lich nicht aus­ge­präg­ten Sprach­ge­fühl von woken Pam­phle­ti­sten heu­te viel­leicht über­haupt nicht mehr benutzt wer­den darf, ist eine hei­li­ge Sache, aus Grün­den der Päd­ago­gik! — Nur das, was von innen her kommt, was aus eige­ner Ein­sicht, also intrin­sisch einen Pro­zeß der Selbst­ver­än­de­rung moti­viert, um tat­säch­lich ein ande­rer Mensch zu wer­den, ist ein­zig, was zählt.

Ali­ce Schwar­zer hat die Dis­kur­se über Eman­zi­pa­ti­on geka­pert und dar­aus ihr Ding gemacht. Dabei stand die­se Aus­ein­an­der­set­zung ohne­hin auf der Tages­ord­nung. Die bei­den Krie­ge hat­te bewie­sen, wohin das alles führt, ein­fach nur in den Tod, ins Leid, in die Ver­zweif­lung und lebens­lan­ge Trau­ma­ta. Die mei­sten Kriegs­heim­keh­rer hat­ten Din­ge gese­hen, die kein Mensch sehen sollte.

Aber auch die Gurus in den 70ern waren eine Pla­ge, weil sie zwar Glau­bens­sät­ze ver­kün­de­ten, aber kei­ne Anlei­tung zum Selbst­den­ken gaben. — Oppor­tu­ni­sten oder sol­che, die nur ihr Süpp­chen kochen woll­ten, haben es immer leich­ter als die, die alles selbst in Erfah­rung brin­gen, sich selbst über­zeu­gen und aus eige­ner Ein­sicht han­deln wollen.

Ali­ce Schwar­zer hat aller­dings nicht nur Män­nern gescha­det, son­dern vor allem den Frau­en. “Was zie­he ich nur heu­te Abend zur Frau­en­grup­pe an”, das war ein star­kes Pro­blem sei­ner­zeit. — Die Kon­trol­le und Obser­vanz, der gering­schät­zi­ge Blick auf den Toi­let­ten, der miß­bil­li­gen­de Neid von Frau­en unter­ein­an­der, die bei aller Betu­lich­keit immer eher im Ver­drän­gungs­wett­be­werb unter­ein­an­der ste­hen, wur­de als Ver­hal­ten eben nicht über­wun­den. — Da lobe ich mir das Fair­play unter Män­nern, die ihre Aus­ein­an­der­set­zun­gen füh­ren, so daß es gut ist. Und im Unter­schied zur Rach­sucht unter Frau­en ist unter Män­ner vor allem eines völ­lig ver­pönt: Nachtreten.

Ein­ge­übt wur­de wie­der nur weib­li­che Unter­ord­nung, nun­mehr beim Eman­zi­pie­ren nach zer­ti­fi­zier­ter Schwarzer–Methode. Alles ist, bleibt und blieb also immer nur das­sel­be. Wie schreck­lich. — Aber das war mal wie­der typisch.

Es kam nicht dar­auf an, wer man/frau ist, wie frau/man sich gera­de fühlt und wor­auf es ankommt, son­dern ein­zig auf Anpas­sung und Duck­mäus­chen­tum kam es an. — Und unser­eins durf­te als Mann natür­lich nichts dazu sagen, von wegen Feind hört mit! Dage­gen hat­te der soeben erwa­chen­de Intel­lekt sich inzwi­schen schon ein paar Navi­ga­ti­ons­mit­tel zuge­legt. Ich plau­de­re ja nur zu gern aus, was ich gefun­den habe, das alles soll doch Men­schen stark machen, so daß sie über sich hin­aus­wach­sen können.

Ich habe das ent­waff­nen­de Argu­ment zum ersten Mal von einem Kol­le­gen auf einer Tagung in Mann­heim gehört. Es stammt von einem Sozio­lo­gen, der nament­lich nicht genannt wer­den will und wohl im Osten der Repu­blik auf Braut­schau gegan­gen war. Er hob unge­fragt, wohl weil er ein Bedürf­nis ver­spür­te, durch sein Bekennt­nis end­lich Stel­lung zu bezie­hen, mit Ver­ve her­vor, daß die Frau­en im Osten ganz anders wären, als die im Westen, denn die­se wären doch eigent­lich nur Zicken.

Sor­ry, da ist etwas dran! Vie­le Frau­en haben bei ihrer Eman­zi­pa­ti­on bequem­lich­keits­hal­ber eine Abkür­zung genom­men und sich von Frau Schwar­zer anlei­ten las­sen. Aber es kommt noch bes­ser: Ich muß geste­hen, daß ich die berühmt–berüchtigte klamm­heim­li­che Freu­de nicht ver­heh­len kann, wenn ich inzwi­schen die­sel­be Aus­sa­ge vor allem von Frau­en hören, die aus ande­ren Län­dern stam­men. — Übri­gens, es müs­sen gar nicht gelern­te Ossi–Frauen sein, das “ver­erbt” sich ein­fach so durch das geleb­te Leben an die Töch­ter. Gut so!

Kunst­stück, bei ihren Müt­tern haben die Töch­ter im Westen immer die­ses Hin und Her des Lamen­tie­rens erlebt. Die­ser andau­ern­de Kampf für und gegen die Män­ner und dann der Dau­er­frust. — Frau will viel, kann sich aber nicht über­win­den, end­lich auch mal damit anzufangen.

Und alles liegt an den Män­nern, die den Frau­en dann ersatz­hal­ber das Ate­lier finan­zie­ren, damit sie wenig­stens auf Kunst machen kön­nen. Aber glück­lich wird das alles nicht. — Die­sen Keil hat Ali­ce Schwar­zer in die See­len hete­ro­se­xu­el­ler Frau­en getrie­ben, zwi­schen Frau­en und Män­ner, vor allem aber mit­ten durch das Weib­li­che hindurch.

Es gab eini­ge Kri­ti­ke­rin­nen, die weg­ge­bis­sen und gecan­celt wur­den, der Groß­teil aller ist aber der fal­schen Pro­phe­tin aus Köln gefolgt. Jede Fern­seh­dis­kus­si­on wur­de zur Abrech­nung. Dabei steckt im Hin­ter­grund eigent­lich nur ein gei­sti­ges Hin­ter­welt­le­rIn­nen­tum. — Auch, wie sie im Ver­fah­ren gegen Jörg Kachelm­ann aus­ge­rech­net für die Bild­zei­tung das Urteil schon längst gespro­chen hat­te, als die­se unsäg­li­che Geschich­te der Rache aus Lie­be und Eifer­sucht ans Licht kam.

Anto­nio Tempesta: 
Die Furie Tisi­pho­ne im Palast von Atha­mas, 1606.

Hohes Gericht der Diskurse!

Ich bean­tra­ge, daß zum ‘päd­ago­gi­schen Eros’ noch ein ‘psy­cho­lo­gi­scher Eros’ hin­zu­kom­men soll, näm­lich einer, der den Leu­ten ihre Wür­de läßt, so daß sie wie­der auf­ste­hen kön­nen. — Was soll all die­ser Haß, die Recht­ha­be­rei und der dum­me Bio­lo­gis­mus, mit dem Ali­ce Schwar­ze in der Geschlech­ter­fra­ge schon seit Jahr­zehn­ten einen Unfrie­den stif­tet, der ihr als Geschäfts­grund­la­ge dient.

Wann wird sie end­lich Genug­tu­ung fin­den? — Aber soll­te man sie denn als Rache­göt­tin über­haupt ernst neh­men? Mit den Göt­tern ver­hält es sich näm­lich wie mit dem bekann­ten Wer­be­spruch: Die tun was!

Wie­viel Opfer ver­langt sie noch? Sie ist und bleibt erwart­bar untröst­lich. Wür­de sie wirk­lich über­grei­fen­de Inter­es­sen im Kos­mos ver­tre­ten, so wie Göt­ter es tun, die eben nicht eher ruhen, bis Aus­gleich geschaf­fen wor­den ist, man könn­te es nach­voll­zie­hen. Sie betreibt aber nur ihr Ding nach Gutsherrinnenart.

Das, genau das wäre eine Fra­ge für den psy­cho­lo­gi­schen Eros. Er soll bit­te sagen, ob die­ses rosti­ge Kriegs­beil nicht lang­sam zur Manie gewor­den ist. — Wenn nur nicht so vie­le Frau­en ihr Leben und ihr Glück dar­auf ver­wet­tet hätten.

Es ist wie bei den Erin­ny­en. Das sind Pla­ge­gei­ster, die im sel­ben Augen­blick ent­ste­hen, wenn Kro­nos, der jüng­ste Sohn der Erd­göt­tin Gaia in der Geschich­te der Groß­göt­ter, auf Geheiß sei­ner Mut­ter den eige­nen Vater mit einer Sichel ent­mannt. — Sobald die Sichel ihre meu­cheln­de Tat voll­führt, spritzt ein Teil des gött­li­chen Samens ins Meer, wor­aus Aphro­di­te, die ‘Schaum­ge­bo­re­ne’ entsteht.

Aber aus dem Blut, das auf Land fällt, ent­ste­hen Plagegeister.

San­dro Bot­ti­cel­li: Die Geburt der Venus, 1485.

Nun stellt sich immer die Fra­ge in sol­chen über­zeit­li­chen Ange­le­gen­hei­ten, war­um, wann und ob über­haupt sich so etwas wie­der beru­hi­gen könn­te. Immer­hin ist es eine Tat von kos­mi­schem Aus­maß. — Es ist die Fra­ge, was Frau Schwar­zer wirk­lich bewegt. Ist es Ver­gel­tung, ist es Aus­gleich, der Wunsch nach Wie­der­gut­ma­chung oder die Her­stel­lung von Har­mo­nie, auf die sie sich wohl nicht wirk­lich ver­steht? Oder hat sie nicht ein­fach nur den rui­nö­sen Geschlech­ter­kampf zum Geschäfts­mo­dell ihres Lebens gemacht?

Ich den­ke an einen mei­ner wich­tig­sten Philosophie–Lehrer an der Uni in Mün­ster, dem ich viel zu ver­dan­ken habe, weil er im Zuge sei­ner “Phi­lo­so­phie der Beschrei­bung” den Per­spek­ti­vis­mus zur Metho­de erho­ben hat. Das habe ich über­nom­men. — Ich will alle Per­spek­ti­ven wür­di­gen, denn alle sind gleich weit zu Gott. Daher zäh­len für mich auch immer Posi­tio­nen, die nicht mei­ne sind. Ich will, daß sie alle eine fai­re Chan­cen haben, sich ver­tre­ten und durch­set­zen zu kön­nen. Möge die bes­se­re Theo­rie gewinnen!

Aber wie sag­te doch die­ser Phi­lo­soph immer wie­der, weil er die Welt schluß­end­lich offen­bar nicht mehr ver­stand: “Ja, da gibt es jetzt so eine neue Zeit­schrift, die Emma.” — Es hat nie jemand dar­auf geant­wor­tet, ich auch nicht. Heu­te wür­de ich es kön­nen und ich wür­de das Wort ergrei­fen, ganz gewiß.

Ich dan­ke Fried­rich Kaul­bach, der wohl nicht gewußt hat, daß er einer mei­ner wich­tig­sten Leh­rer wur­de. Die­se Glos­se ist ihm gewidmet.