Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Zivilisation

Wohl beraten sein

Über das Regieren seiner selbst

Eigent­lich sind wir ja alle Köni­ge und Köni­gin­nen. Man­che sind Dik­ta­to­ren, ande­re Des­po­ten und nicht weni­ge sind die Reprä­sen­tan­ten von “fai­led states”.

Fre­de­rick Leigh­ton: Römi­sche Vesta­lin, 1880.

Wenn in der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie von “sophro­sy­ne” gespro­chen wird, dann geht es um “Wohl­be­ra­ten­sein”. Also gut, man ist jetzt König oder Köni­gin, kann ziem­lich viel befeh­len und muß nicht wirk­lich dis­ku­tie­ren. – Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob die­ser Vor­zug, nicht mal mehr mit sich reden las­sen zu müs­sen, weil man doch so hoch­wohl­ge­bo­ren ist, wirk­lich zum Vor­teil gereicht. 

Gera­de am Wider­sprüch­li­chen kann man doch die eige­ne Auf­fas­sung minu­ti­ös schär­fen. Gera­de an klei­nen Unter­schie­den läßt sich genau­er erken­nen, wor­auf es denn nun wirk­lich ankom­men soll­te. – Aber nur die wenig­sten ver­ste­hen sich dar­auf, mit sol­che Fül­le an Mög­lich­kei­ten auch umge­hen zu kön­nen. 

Es träu­men ja vie­le davon, ein guter Dik­ta­tor zu sein, weil sie neben dem Wet­ter auch gern noch die Poli­tik und viel­leicht gleich die gan­ze Schöp­fung ‘bes­ser’ machen wür­den, wenn man sie nur mal ran­lie­ße, an die Hebel der Macht, die es in Wirk­lich­keit nicht gibt. 

Wir sind näm­lich spä­te­stens seit Niklas Luh­mann vor­ge­warnt: Soll­te man in die her­me­tisch ver­schlos­se­nen Kan­zeln der Pilo­ten, die wohl nicht von unge­fähr das­sel­be Wort haben, wie auch die Kol­le­gen in den Kir­chen. Soll­te man es also tat­säch­lich fer­tig brin­gen, dort ein­zu­drin­gen, die Flug­zeug-Kan­zeln wären leer. Kein Pilot nir­gends. Alles ist auf Autopilot. 

Das hängt nun wie­der­um damit zusam­men, daß schon seit Jahr­mil­lio­nen gera­de bio­lo­gi­sche Pro­zes­se sich selbst steu­ern. Ins­be­son­de­re auch das Wett­rü­sten zwi­schen Viren und Wir­ten. – Hän­disch ist da nicht viel zu machen, höch­stens kol­la­bie­ren las­sen kann man das Gan­ze, sogar auf der Stelle.

Ich hat­te mal einen Traum. Da war ich König oder so etwas. Jeden­falls hat­te ich die Befehls­ge­walt und sonst kei­ner. Also end­lich konn­te ich mal sagen, was Sache ist. – Und ich sag­te also zu mei­nem ersten Mini­ster, er möge “Frie­den” schaf­fen und die Leu­te “glück­lich” machen. 

Ein lehr­rei­cher Traum war das, weil ich ziem­lich schnell hoch alar­miert auf­ge­wacht bin. Alles war aus dem Ruder gelau­fen. Der Unhold kam doch tat­säch­lich mit blut­ver­schmier­ten Hän­den zurück!

Das ist, was man oder auch frau beim König­sein berück­sich­ti­gen soll­te. – Befeh­len ist viel zu ein­fach. Wohl­be­ra­ten­sein, das wäre es. Aber wer berät die Bera­ter und vor allem, wer ret­tet die Bera­te­nen? – Also wann wäre man denn nun wirk­lich “wohl beraten”? 

Das Pro­blem mit den Bera­tern liegt dar­in, daß die­se ver­kau­fen wol­len und müs­sen. – Alle ver­hin­der­ten Köni­ge und Köni­gin­nen mögen daher ersatz­hal­ber an den letz­ten Arzt­be­such den­ken, in dem es ja auch ‘nur’ um Bera­tung ging. – Und was hat man “gekauft”, wozu man sich hat “breit­schla­gen” lassen? 

Hat man eigent­lich ver­stan­den, was der Weiß­kit­tel einem hat­te weiß machen wol­len? – Sor­ry: War­um hat man einer Behand­lung zuge­stimmt, von der man gar nicht ver­stan­den hat, was sie eigent­lich mit einem macht? 

Ach ja, das ist Ver­trau­en? – In wen oder was? Kann man Ver­ant­wor­tung abge­ben? Wer hät­te denn mit den Fol­gen zu leben? 

Ich muß schon sagen, daß ich nie ver­stan­den haben, daß Pati­en­ten vor­geb­lich wirk­lich glau­ben, daß sie nur einen ganz tie­fen, höchst ver­trau­ens­voll insze­nier­ten Blick in die Augen ihres Arz­tes wer­fen müß­ten, und schon haben sie ihn für sich ein­ge­nom­men. – Wie naiv ist das denn?

Ich bin heu­te im Semi­nar über die “Schön­heit der See­le” durch eine Ein­flü­ste­rung ret­ten­der Musen bei Wind­stil­le auf die ret­ten­de Idee gebracht wor­den, daß “Wohl­be­ra­ten­sein” zustan­de gebracht wird, wenn wir uns mit allen Instan­zen im “forum inter­num” regel­mä­ßig zum Arbeits­früh­stück ver­ab­re­den. Das wäre Wohlberatensein. 

War­um besorgt man sich nicht als näch­stes einen Ter­min beim eige­nen Gewis­sen? Man könn­te genau­er abstim­men, was im eige­nen Inter­es­se wäre, daß das Gewis­sen in sei­ner ziem­lich klein­ka­rier­ten Auf­merk­sam­keit bit­te im Dien­ste der gemein­sa­men Sache sei­ne per­ma­nen­ten Son­die­run­gen zur Anwen­dung bringt, um dafür zu sor­gen, daß uns nichts wesent­li­ches entgeht. 

Ein wei­te­res ist heu­te auf­ge­fal­len: Offen­bar gibt es eine Ver­bin­dung zwi­schen dem Selbst­be­wußt­sein und dem Gewis­sen. – Wer sich selbst wür­dig ver­hält, kann, darf und wird auf eine dem­entspre­chen­de Behand­lung einen gewis­sen Anspruch gel­tend machen.

Mut­maß­li­cher­wei­se haben wir in unse­rer kri­sen­ge­schüt­tel­ten Gegen­wart inzwi­schen einen Ent­wick­lungs­stand in der Psy­cho­ge­ne­se erreicht, von dem ab an es mög­lich, aber auch erfor­der­lich gewor­den ist, Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät an den Tag zu legen. – Das bedeu­tet, daß wir das EINE tun kön­nen, ohne das ANDERE las­sen zu müs­sen. Wir kön­nen nicht nur, wie soll­ten sogar “wider­sprüch­lich” agie­ren, ganz nach Art von Köni­gen und Königinnen. 

Wäh­rend Kant noch “Ein­stim­mig­keit mit sich selbst” ein­for­dert, kön­nen wir es uns offen­bar neu­er­dings sogar lei­sten, mit wech­seln­den Mehr­hei­ten zu regie­ren. – Das wäre ohne­hin das Beste: Eine Gesell­schaft, in der solan­ge dis­ku­tiert wird, bis eine Par­tei auf­gibt und geht, weil ihr nichts mehr ein­fällt, der eige­nen Auf­fas­sung wei­ter­hin Auf­trieb zu verschaffen. 

Das soll bei den India­nern im Älte­sten­rat der Fall gewe­sen sein. Darf man noch India­ner sagen? – Doch, weil es ein Ehren­wort vol­ler Hoch­ach­tung ist für ganz beson­de­re Men­schen, denen Zugän­ge zu Wel­ten zuge­traut wer­den, die wich­ti­ger sind als die unhei­li­gen Bot­schaf­ten aller Waren­fe­ti­schi­sten, die uns neu­er­dings in den Hype um die Kryp­to­wäh­run­gen ein­wei­hen wol­len, als wäre das so etwas wie eine Initiation. 

Laß es Lie­be sein: Lie­be zur Welt, zum Men­schen, zur Natur und sogar zum Schick­sal. – Es bleibt uns schluß­end­lich nur eines: Ver­ste­hen. Und das in Zei­ten, die das Ver­ste­hen zur Sün­de erklärt haben. 

Lie­be und Ver­ste­hen, war das nicht schon immer dasselbe?


Über Wildheit und Schönheit

Ariadne reitet den Panther des Dionysos

Mär­chen, Mythen und Meta­phern sind so etwas wie Algo­rith­men. Es ist daher nicht nur inter­es­sant, son­dern hilf­reich, sich je nach Fra­ge­stel­lung stets ein­ge­hen­der mit den ein­schlä­gig bekann­ten mythi­schen Figu­ren zu befassen.

So läßt sich genau­er nach­voll­zie­hen, was im Zuge der Kul­tur­ge­schich­te an Erfah­run­gen in die Mythen ›hin­ein­ge­schrie­ben‹ wor­den ist, denn das läßt sich auch wie­der ›her­aus­le­sen‹. — Dar­in liegt der eigent­li­che Hin­ter­sinn von Mytho­lo­gie, es geht näm­lich um mehr als erbau­li­che Geschichten.

Der Ein­gang ins Ver­ste­hen läßt sich fin­den, indem wir unter den vie­len Mythen die­je­ni­gen aus­wäh­len, die viel­ver­spre­chend erschei­nen, weil ähn­li­che Pro­ble­me ver­han­delt wer­den. — Das ›pas­sen­de‹ Nar­ra­tiv einer mythi­schen Bege­ben­heit wird dann ›über­tra­gen‹ auf unse­ren Sach­ver­halt, über den wir die über­zeit­li­chen Erfah­run­gen auf­schlie­ßen sollten.

In die­sem Fall scheint Ari­ad­ne hilf­reich zu sein, weil sie sich gene­rell mit Laby­rin­then aus­kennt. Die Prin­zes­sin von Kre­ta war The­seus dabei behilf­lich, sich im eigens für den stier­köp­fi­gen Mino­tau­rus geschaf­fe­nen Laby­rinth zu ori­en­tie­ren. Daß es sich beim Ari­ad­ne­fa­den aber um ein bana­les Woll­knäu­el gehan­delt haben soll, ist nicht wirk­lich über­zeu­gend. — Selbst­ver­ständ­lich steht es uns frei, im Zwei­fels­fall unzu­frie­den zu sein mit dem, was uns die kinds­ge­rech­ten Les­ar­ten bieten.

Die Mythen sind von einer Kul­tur auf die näch­ste über­ge­gan­gen, so daß wir über vie­le Mög­lich­kei­ten ver­fü­gen, in den Fein­hei­ten zwi­schen den Vari­an­ten genau­er zu lesen, um den dar­in ver­bor­ge­nen Sinn her­aus­zu­le­sen: Ari­ad­ne ist Schü­le­rin der Cir­ce, die wie­der­um auf die Isis zurück geht, einer über­aus mäch­ti­gen ägyp­ti­schen Göt­tin der Zauberkunst.

Wie Medea ist auch Ari­ad­ne bestens mit dem Zau­bern ver­traut, die Wege blockie­ren aber auch öff­nen kön­nen. Dabei wird das Laby­rinth bald zum Sym­bol für den Lebens­weg, der oft in aus­weg­lo­se Lagen führt aber nicht wie­der her­aus. — Die eigent­li­che Bedeu­tung von Ari­ad­ne liegt also dar­in, Ori­en­tie­rung zu bie­ten, gera­de auch in Kon­stel­la­tio­nen, die etwas von einem Laby­rinth haben.

Der Zau­ber, mit dem Ari­ad­ne gan­ze Laby­rin­the zu bewäl­ti­gen hilft, liegt jedoch rät­sel­haf­ter­wei­se im Geheim­nis von Schön­heit. — Das Prin­zip lau­tet: Bezäh­mung der Wild­heit durch die Schönheit.

Auf die­se geheim­nis­vol­le For­mel kommt der würt­tem­ber­gi­sche Bild­hau­er Johann Hein­rich von Dannecker auf­grund sei­ner Stu­di­en­rei­se nach Rom. Damit bringt er sei­ne Inspi­ra­ti­on auf den Begriff. — Der Geist sei­ner vor­zei­ten über­aus popu­lär gewor­de­nen Skulp­tur: Ari­ad­ne auf dem Pan­ther, ent­birgt eine phi­lo­so­phi­sche Spe­ku­la­ti­on von ganz beson­de­rer Bedeutung.

Johann Hein­rich von Dannecker, Ari­ad­ne auf dem Pan­ther, 1803–1814, im Lie­bieg­haus in Frank­furt am Main.

Der Pan­ther ist das Wap­pen­tier für den Wein– und Rausch­gott Dio­ny­sos, der im übri­gen nicht nur der Vor­läu­fer von Jesus Chri­stus in vie­len Aspek­ten sei­ner Sym­bo­lik ist, son­dern der dabei auch noch tie­fer blicken läßt in sei­ne bipo­la­re Psyche.

Die­ser Gott der Eksta­se hat selbst eine über­aus kom­pli­zier­te Ver­gan­gen­heit, und die macht ihn zum Bor­der­li­ner. Sobald er auch nur den gering­sten Ver­dacht ver­spürt, er könn­te even­tu­ell auch nur schief ange­schaut wor­den sein, greift er zu dra­ko­ni­schen, uner­bitt­li­chen und scheuß­li­chen Rache­ak­ten, die völ­lig unver­hält­nis­mä­ßig sind.

Da wird dann das, was die­se Skulp­tur zu sagen ver­steht, zur fro­hen Bot­schaft über die Poten­tia­le einer not­wen­di­gen hei­li­gen Hand­lung: Ari­ad­ne bewäl­tigt das Wil­de, Rohe und Unmensch­li­che sol­cher Rach­sucht durch Schön­heit! Die­ser Gedan­ke ist vor allem phi­lo­so­phisch von der­ar­ti­ger Bri­sanz, so daß ich sagen wür­de, ver­su­chen wir es doch! Immer­hin hat sich bereits Han­nah Are­ndt an die­sem Pro­jekt nicht ganz ver­geb­lich ver­sucht, eine Poli­ti­sche Theo­rie auf der Grund­la­ge der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu ent­wickeln. — Wir soll­ten end­lich wie­der nach den Ster­nen greifen

Es gibt inzwi­schen hin­rei­chen­de Anhalts­punk­te für die Annah­me, daß die Ver­nunft als Mei­ste­rin der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit Ästhe­tik vor­geht, wenn es gilt, in irgend­ei­ner Ange­le­gen­heit ›das Gan­ze‹ zu ver­ste­hen. Erst dann kom­men Dia­lo­ge und Dis­kur­se wirk­lich zur Ent­fal­tung, wenn alle, die nur Recht haben wol­len, end­lich ergrif­fen wer­den und sich zu fas­sen versuchen.

Es kann näm­lich in der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft gar nicht mehr ums Recht­ha­ben gehen. — Wir kön­nen nur noch an den Ande­ren appel­lie­ren, er möge doch auch so wie wir, etwas Bestimm­tes so emp­fin­den wie wir, um dann auf die tie­fe­ren Beweg­grün­de zu spre­chen zu kom­men, die sich ein­stel­len, wenn man es ver­steht, sich end­lich für Höhe­res zu öffnen.

Im Mit­tel­al­ter wur­de die Höfi­sche Gesell­schaft auf ähn­li­che Wei­se geschaf­fen, als man die rauh­bei­ni­gen War­lords von Raub­rit­tern auf ihren zugi­gen Bur­gen abbrin­gen woll­te, von ihrem lukra­ti­ven Tun und Trei­ben, nach eige­nem Gesetz auf Beu­te­zug zu gehen. — Sie wur­den nach­hal­tig ›gezähmt‹ im Min­ne­sang, also durch Schön­heit. Für ihre Dame opfer­ten sie ihre Wild­heit, ihre Unge­stümt­heit und wohl auch einen nicht unbe­trächt­li­chen Teil einer Männ­lich­keit, die inzwi­schen man­chen Frau­en bei Män­nern fehlt.

Es kommt dar­auf an, die Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit allen ihren Zumu­tun­gen und Her­aus­for­de­rung zu wür­di­gen in einer Welt, die immer mehr zum Amok­lau­fen neigt. — Irgend­was muß den stän­dig dro­hen­den Irr­sinn im Zaum hal­ten. Und genau das macht sie, die Göt­tin der ästhe­ti­schen Urteils­kraft: Ariadne.


Soziale Kompetenzen und geistige Inkompetenzen

Fairneß als Zeichen von Größe

Es gibt sozia­le Kom­pe­ten­zen, die weit wich­ti­ger sind als eine in sich selbst ver­lieb­te Kon­kur­renz­ge­sell­schaft, die doch nur am Ast sägt, auf dem sie sitzt. — Das wur­de am Frei­tag deut­lich, im Semi­nar für ange­hen­de Leh­rer und Leh­re­rin­nen, in dem es um Pro­fes­sio­na­li­tät und Berufs­ethik geht.

Man mag es kaum mehr glau­ben, aber Kin­der brin­gen ein Gefühl für Gerech­tig­keit gleich mit auf die Welt. Sie kämp­fen sogar dafür, wis­sen aber viel­leicht noch nicht genau, wie man sol­che Wer­te lebt ohne als dumm hin­ge­stellt zu werden.

Hört man Vor­schul­kin­dern beim gemein­sa­men Spie­len zu, dann ver­han­deln sie die Regeln fast eben­so lan­ge, wie tat­säch­lich auch gespielt wird. Und der Satz: „Das gil­det nicht!“, klingt mir noch immer in den Ohren. — Wie so oft hat Jean Jac­ques Rous­se­au mal wie­der Recht: Die Natur des Men­schen ist und bleibt gut, solan­ge die Gesell­schaft kei­nen schlech­ten Ein­fluß ausübt.

Gera­de im Gere­de über die ver­meint­li­che Natur des Men­schen glau­ben vie­le ohne die gering­ste Ahnung von Anthro­po­lo­gie, ihre beschränk­te Sicht der Din­ge und vor allem ihre Res­sen­ti­ments unwi­der­spro­chen ver­all­ge­mei­nern zu dürfen.

Wolfsmärchen

Man glaubt es aus eige­ner Anschau­ung bes­ser zu wis­sen. Wir leben angeb­lich in einer Kon­kur­renz- und Lei­stungs­ge­sell­schaft, im Kampf aller gegen alle, auf der frei­en Wild­bahn, inmit­ten hoch­zi­vi­li­sier­ter Wel­ten, die von vorn bis hin­ten men­schen­ge­macht sind. — Also was soll die Beru­fung auf die angeb­li­che „Natur des Menschen“?

Tat­säch­lich haben wir alle erdenk­li­chen Frei­hei­ten, uns nach eige­nen Vor­stel­lun­gen zu „kul­ti­vie­ren“ in unse­rer Natur, als Per­son und vor allem in unse­rem Cha­rak­ter. Aber genau die­se Frei­heit ist vie­len suspekt.

Dage­gen dient die Beru­fung auf eine angeb­lich schlech­te Natur des Men­schen der Recht­fer­ti­gung, den Ein­zel­nen die ihnen zuste­hen­den Frei­hei­ten in der Selbst­fin­dung vor­zu­ent­hal­ten und zugleich so etwas wie „Men­schen­füh­rung“ zu bean­spru­chen, mit der sich die Herr­schaf­ten zu allen Zei­ten immer sehr gut legi­ti­mie­ren haben. — Ent­mün­di­gung und Bevor­mun­dung sind daher noch immer auch in angeb­lich „frei­en“ Gesell­schaf­ten die Regel.

Die Coro­na-Zeit hat über­deut­lich gemacht, wie begrenzt die Halt­bar­keit der angeb­lich garan­tier­ten Grund­rech­te eigent­lich ist. Aus purer Angst haben vie­le ihre unver­äu­ßer­li­chen Grund­rech­te gegen ver­meint­li­che Sicher­hei­ten getauscht. Aber so etwas war schon immer ein schlech­ter Tausch.

Jean-Léon Gérô­me: Die Wahr­heit kommt aus ihrem Brun­nen (1896).

Der von Kant gefor­der­te Mut, sich des eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen, ist eben kein Kin­der­spiel. Angst war schon immer der schlech­te­ste aller Rat­ge­ber, Haß und Het­ze waren noch nie ein Aus­druck guter Poli­tik. Aber man­che sind das Opfer eige­ner Äng­ste und grei­fen hän­de­rin­gend nach allem, was angeb­lich Halt ver­spricht. Es war manch­mal wie bei einer Mas­sen­pa­nik, bei der man­che ein­fach tot­ge­tram­pelt wurden.

Sou­ve­rä­ni­tät, Gelas­sen­heit und Auto­no­mie haben Sel­ten­heits­wert, wo alles über einen Lei­sten geschla­gen wird.

Fairneß

Aus­ge­rech­net im Lei­stungs­sport, bei dem es ja angeb­lich immer nur ums Gewin­nen geht, also inmit­ten der Ellen­bo­gen­ge­sell­schaft, gibt es aber noch ganz ande­re Wer­te: Fair­neß, Gerech­tig­keit und Authen­ti­zi­tät sind Zei­chen wahr­haf­ter Grö­ße. Nur muß man sich so etwas lei­sten wol­len und auch können.

Wenn etwa bei der Tour de France alle Fah­rer auf einen Kon­kur­ren­ten war­ten, der zuvor unglück­lich gestürzt war. Aus Grün­den der Fair­neß zügeln alle plötz­lich den unbe­ding­ten Wil­len zum Sieg. Wenn sie dann mit beein­drucken­den Gesten dar­auf war­ten, daß einer von ihnen aus höhe­ren Grün­den als erster ins Ziel fah­ren kann, dann zeigt sich, was mensch­li­che Grö­ße aus­macht. — Wenn eine Ski­läu­fe­rin der Kon­kur­ren­tin mit­ten im Ren­nen ihren Stock “aus­leiht”, dann aber selbst stür­zen und sogar ver­lie­ren muß. Auch wenn jener Fuß­bal­ler, der im Straf­raum gestürzt aber kei­nes­wegs zu Fall gebracht wor­den ist, beim Schieds­rich­ter gegen den bereits gege­be­nen Elf­me­ter plä­diert, dann haben wir gute Bei­spie­le, die der dump­fen Ideo­lo­gie unse­rer angeb­lich so herz– und geist­lo­sen Kon­kur­renz­ge­sell­schaft haus­hoch über­le­gen sind.

Wie lau­tet doch der drei­ste Spruch einer der dümm­sten Wer­be­kam­pa­gnen aller Zei­ten: „Ich bin doch nicht blöd!“ — Genau: Gele­gen­heit macht Die­be und wer etwas steh­len kann und es nicht tut, ist doch ein­fach nur blöd. Wer sich einen betrü­ge­ri­schen Vor­teil ver­schaf­fen kann, wäre doch blöd, es nicht zu tun, oder?

Die Seele des schlechten Gewissens

Alle viel zu dürf­tig den­ken­den Schlau­mei­er ver­ges­sen dabei jedoch eines: Wir sind nie allein. Wir haben immer einen Zeu­gen dabei, näm­lich uns selbst. Es ist das schlech­te Gewis­sen und hin­ter alle­dem steht die eige­ne Seele.

Davon ist seit gerau­mer Zeit immer weni­ger die Rede: Unse­re See­le weiß offen­bar sehr genau, was wirk­lich gut ist für ande­re und auch für uns selbst. — Ich ver­mu­te inzwi­schen, daß man­che Depres­si­on von einem schlech­ten Gewis­sen her­rüh­ren dürf­te, die von einer in die Ecke gestell­ten See­le ausgehen.

Nicht von unge­fähr wird die­ser Tage der Unter­schied zwi­schen Psy­che und See­le immer wich­ti­ger. Denn die Psy­che ist offen­bar inzwi­schen selbst zum Teil des Pro­blems gewor­den. Sie stellt sich nur zu gern als Opfer hin, ist oft aber auch Täter an sich selbst, und dabei wirbt sie wie die Poli­ti­ker für ihre viel zu ein­fäl­ti­gen Machen­schaf­ten. — Tat­säch­lich sind die eigent­li­chen Moti­ve oft nur von die­ser Welt, wenn man an Nar­ziß­mus, Gel­tungs­sucht, Selbst­ver­liebt­heit, Vor­ein­ge­nom­men­heit, Rach­sucht, Haß, Neid und Eitel­keit denkt.

Aber fra­gen wir gene­rell: War­um „gut“ sein wol­len und vor allem wozu? — Nur aus Angst vor Stra­fe, wenn man erwischt wür­de, oder viel­mehr aus eige­nem Antrieb, also von innen her, aus eige­ner Moti­va­ti­on, weil wir uns eben die Frei­heit zur Grö­ße tat­säch­lich her­aus­neh­men und auch lei­sten wollen.

Wür­de den Belan­gen der See­le mehr Raum ver­schafft, die Wei­ter­ent­wick­lung der eige­nen Per­son, der gan­zen Welt, ja sogar der gan­zen Mensch­heit wür­de bemer­kens­wer­te Ent­wick­lun­gen machen bis hin zu einer sehr viel mensch­li­che­ren Welt. — Aber vie­le glau­ben, mit dunk­len Machen­schaf­ten, Rück­sichts­lo­sig­kei­ten, ja sogar mit Lug und Betrug sehr viel bes­ser durch­zu­kom­men. Fragt sich nur wozu und wohin sie “durch­kom­men” wollen.

Ein Zauberring, der unsichtbar macht

Bei Pla­ton wird die­ses Pro­blem näher erläu­tert anhand eines Motivs von einem magi­schen Ring mit der Fähig­keit, den Trä­ger unsicht­bar zu machen. Der Mythos vom Ring des Gyges geht auf eine anti­ke Erzäh­lung zurück, die in vie­len Vari­an­ten durch­ge­spielt wor­den ist. — Die Kern­fra­ge aber lau­tet immer: Was wür­de man tun, wenn man die­sen Ring hät­te und dann unge­straft tun könn­te, was und wie es einem beliebt.

Eglon van der Neer: Die Frau des Kan­dau­les ent­deckt den ver­steck­ten Gyges (1660).

Im Dia­log bei Pla­ton wird mit der Alle­go­rie vom Zau­ber­ring erör­tert, was in Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie als „intrin­si­sche Moti­va­ti­on“ bezeich­net wird. — Wer sich näm­lich unsicht­bar machen kann, der wäre schlicht unan­greif­bar und daher übermächtig.

Die Fra­ge liegt also auf der Hand: Wenn einem gar nichts pas­sie­ren kann, egal was man tut; war­um soll­te man dann noch mora­lisch moti­viert sein?

Schön und lehr­reich ist es immer, so etwas durch­zu­spie­len, um in Erfah­rung zu brin­gen, was dann wirk­lich geschieht, wenn man es täte. Die Aus­sich­ten auf den ver­meint­li­chen Erfolg fin­ste­rer Machen­schaf­ten wer­den tat­säch­lich als­bald getrübt, wenn wir die Fol­gen näher in Augen­schein neh­men. — Men­schen haben näm­lich nicht wirk­lich ech­te Freu­de am Erschwin­del­ten. Genau­er bese­hen zählt es nicht nur nicht, es fällt sogar alles zurück auf die, die es ver­sucht haben, auf die­se Wei­se einen Erfolg ein­zu­heim­sen, der gar kei­ner war.

Gera­de gegen die­sen Impuls, sich sol­che Frei­hei­ten zum Lügen und Betrü­gen her­aus­zu­neh­men, gibt es wie­der sehr schö­ne Gegen­bei­spie­le. Tat­säch­lich ist uns näm­lich an ech­ter, wohl­ver­dien­ter Aner­ken­nung gele­gen und alles ande­re zählt nicht wirklich.

Da gibt es bei­spiels­wei­se die Bal­la­de von einem mäch­ti­gen Mann, der eine jun­ge Frau begehrt, die ihm aber nicht zuge­tan ist. In sei­ner Lie­bes­not ver­legt sich die­ser selt­sa­me Vogel auf einen See­len­zau­ber, um die Dame sei­nes Her­zens doch noch dazu zu bewe­gen, ihm gewo­gen zu sein und der Zau­ber ver­fängt. — Aber er hat die Rech­nung ohne den Wirt gemacht. Er kann ein­fach nicht glück­lich wer­den mit die­ser gestoh­le­nen Lie­be, weil sie ja nicht „echt“ ist.

Oder wenn etwa der ver­mö­gen­de Intim­freund einer auf­stre­ben­den Künst­le­rin die­ser einen ganz gro­ßen Gefal­len tun will, indem er die von ihr geschaf­fe­nen, bis­her nicht son­der­lich gut ver­kauf­ten Kunst­wer­ke ein­fach sei­ner­seits erwirbt. Er hat ja schließ­lich Geld genug und kann es sich lei­sten. — Was wird aber gesche­hen, sobald sie dahin­ter­kommt, daß er es war, der alles auf­ge­kauft hat? Käme sie sich dann nicht reich­lich blöd vor?

Man sieht, sol­che Rech­nun­gen gehen ein­fach nicht auf. Wenn etwas nicht echt ist, dann kann und darf es gar nicht zäh­len, das wis­sen bereits Kin­der sehr früh. — Daher wol­len wir ent­we­der ech­te Aner­ken­nung oder lie­ber gar kei­ne. Im Zwei­fels­fall kann man das eige­ne Schei­tern noch immer als Zei­chen ech­ter Grö­ße zele­brie­ren. Man hat es eben ehr­lich ver­sucht, aber die Welt war noch nicht reif genug.

Wir legen also gro­ßen Wert dar­auf, sicher zu gehen, daß ande­re uns nicht ein­fach nur schmei­cheln und etwas vor­ma­chen wol­len. Und sogar Kin­der, die erst noch das Auch–mal–Verlieren–Können ler­nen müs­sen, sind im Prin­zip längst so weit, ein­se­hen zu kön­nen, daß ein geschenk­ter Sieg nicht wirk­lich zählt. — Mit Augen­zwin­kern kann man ihnen tat­säch­lich bereits zu ver­ste­hen geben, daß man sie dies­mal noch gewin­nen läßt, weil sie sich noch all­zu sehr ärgern über eine Nie­der­la­ge im Spiel.

Wie es wäre, Donald Trump zu sein

Bei alle­dem den­ke ich immer mal wie­der über den Cha­rak­ter von Donald Trump nach, weil mir sei­ne Unauf­rich­tig­keit und sein fort­wäh­ren­der Selbst­be­trug nur schwer nach­voll­zieh­bar ist. Ich will ver­ste­hen, schei­te­re aber immer wie­der an mei­nem Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, wie es wohl von­stat­ten gehen könn­te, der­art von sich über­zeugt zu sein, so daß man glaubt, sich selbst und ande­re auf Dau­er belü­gen und betrü­gen zu kön­nen. — Und die­se Gedan­ken dräng­ten sich mir auch im Semi­nar über die “Fair­neß im Sport­un­ter­richt” wie­der auf.

Enri­co Maz­z­an­ti: Pinoc­chio (1883).

Trump ist gewiß kein Sports­mann, dach­te ich mir. Aber er spielt doch Golf, also müß­te er doch irgend­wie „fair“ sein, dach­te ich mir dage­gen auch wiederum.

Der­weil kam mir die Sze­ne aus dem Bond-Film „Gold­fin­ger“ in den Sinn, wo ein Bond-Böse­wicht auf ganz jäm­mer­li­che Wei­se beim Golf betrügt, weil die von Gerd Frö­be so her­vor­ra­gend gespiel­te Figur ein­fach nicht ver­lie­ren und daher auch nicht fair sein kann. — Der ins Nir­gend­wo ver­schla­ge­ne Golf­ball wird vom fin­ste­ren Gehil­fen ein­fach durch ein Loch in der Hosen­ta­sche an Ort und Stel­le plat­ziert, was natür­lich von Bond durch­schaut und auch auf­ge­klärt wird.

Um aber in der ent­schei­den­den Fra­ge wei­ter­zu­kom­men, habe ich ein­fach nach „Trump sports­man“ gegoo­gelt. — Gleich der zwei­te Fund ist eine Mel­dung aus dem Spiegel:

„So gewinnt er immer. Der US-Prä­si­dent Donald Trump hält sich für einen exzel­len­ten Gol­fer. Tat­säch­lich schum­melt er bei jeder Gele­gen­heit, sogar gegen pro­mi­nen­te Mit­spie­ler wie Tiger Woods.“ — Dan­ke, mehr brau­che ich nicht. Manch­mal ist es mir schon wie­der zu blöd, so ein­fach Recht zu haben.

Das erklärt aber nur, daß er so ist, wie zu befürch­ten war. Aber erklärt wird nicht, war­um Trump so ist, wie er ist. — Also ver­su­che ich mir zu erklä­ren, wie man sich wohl füh­len muß, wenn die See­le als Gei­sel genom­men wor­den ist und am Kopen­ha­gen-Syn­drom lei­det, wo die Gei­seln beim Feu­er­ge­fecht mit der Poli­zei den Tätern die Waf­fen nach­ge­la­den haben.

Um etwas zu ver­ste­hen, müs­sen wir es uns erst ein­mal vor­stell­bar und nach­voll­zieh­bar machen, aber dazu gehört sehr viel Ein­füh­lungs­ver­mö­gen. — Wenn es schon einen berühm­ten Auf­satz von Tho­mas Nagel gibt unter der Fra­ge­stel­lung: „Wie es ist, eine Fle­der­maus zu sein“, dann soll­te es doch auch gelin­gen, sich vor­stel­len zu kön­nen, wie es wohl sein wür­de, Donald Trump zu sein, nicht auf Dau­er, aber solan­ge, bis man gese­hen hat, wie Trump–Sein geht.

Als Hilfs­ar­gu­ment neh­me ich der­weil ein „Fak­tum“ aus ande­ren Zei­ten. Es wur­de näm­lich vor­zei­ten über Mercedes–Fahrer, ihre Karos­sen und ihr Ver­hal­ten im Stra­ßen­ver­kehr gesagt, daß bei die­sen die Vor­fahrt bereits ein­ge­baut sei. — So jeden­falls ver­su­che ich mir zu erklä­ren, wie der Trum­pis­mus als Betriebs­sy­stem und Mas­sen­be­we­gung wohl funk­tio­nie­ren könn­te. In der non–binären Welt von Trump, sei­ner Anhän­ger­schaft und denen, die an ihn und sei­ne Mis­si­on glau­ben, ist er ja so etwas wie ein Messias.

Im Trump–Spiel kann es immer nur einen Gewin­ner geben. Dem­nach gibt es gar nicht die Mög­lich­keit, daß er auch mal ver­lie­ren könn­te, denn so etwas ist im Schöp­fungs­plan ein­fach nicht vor­ge­se­hen! — Also kann eine Wahl, in der er ver­lo­ren hat, ein­fach nur ein Fake sein, genau­so wie die Fotos sei­ner Amts­ein­füh­rung mit einem bemer­kens­wer­ter Neo­lo­gis­mus gekon­tert wur­den, bei dem man sich nicht genug die Augen rei­ben kann: Es gäbe neben der nor­ma­len Wirk­lich­keit noch so etwas wie „Alter­na­ti­ve Fak­ten“, sag­te sei­ne selt­sam anmu­ten­de Pres­se­spre­che­rin damals.

Kritik der Esoterik

Aller­dings berei­tet es mir beson­de­re Pro­ble­me, genau­er nach­zu­voll­zie­hen, war­um es unter Eso­te­ri­kern häu­fi­ger gera­de sol­che Zeit­ge­nos­sen gibt, die in Trump einen ganz gro­ßen, wei­sen, aus­er­wähl­ten, durch­aus von den Göt­tern gesand­ten Erlö­ser sehen. — Ich muß geste­hen, daß ich dann in mei­ner Gedan­ken­ar­beit regel­mä­ßig an Bela­stungs­gren­zen sto­ße, weil ich da ein­fach nicht mehr mit­kom­me. Dabei spie­le ich ganz gern auch mit schrä­gen Gedanken.

In Kin­der­ta­gen hat­te ich uner­müd­li­che Gedan­ken­spie­le mit Ver­su­chen, mir etwas vor­zu­stel­len, was ich mir nicht vor­stel­len kann. Also wur­de eine Vor­stel­lung nach der ande­ren durch­ge­wun­ken; sobald sie vor­stell­bar gewor­den war, wur­de sie auch schon wie­der abge­lehnt… — So etwas erwei­tert den Hori­zont des Vor­stell­ba­ren unge­mein und den­noch blei­ben gewis­se Gren­zen der Phantasie.

Nicht ohne scha­den­fro­he Selbst­iro­nie sehe ich mir selbst beim Expe­ri­men­tie­ren mit den Gedan­ken­wel­ten man­cher die­ser Eso­te­ri­ker zu. Bald zei­gen sich näm­lich in mei­ner Welt­vor­stel­lung die ersten Ris­se, dann kom­men Struk­tur­brü­che hin­zu und schon bald bre­chen gan­zen Gedan­ken­ge­bäu­de kra­chend in sich zusam­men, wenn ich ernst­haft ver­su­che, alle­dem einen nach­voll­zieh­ba­ren Sinn einzuhauchen.

Da wer­den nicht nur die zu prü­fen­den Gedan­ken zu Crash­test-Dum­mies, schluß­end­lich kol­la­biert die gan­ze Ver­suchs-Anla­ge. — Es dau­ert übri­gens etwa drei Tage, bis alles so eini­ger­ma­ßen wie­der steht.

Trump, Sports­geist, Fair­neß, wahr­haf­te Grö­ße, tat­säch­li­che Wür­de, Kon­zi­li­anz und vor allem Per­sön­lich­keit, wie das alles zusam­men­ge­hört? — Manch­mal paßt es eben nicht wirk­lich und alles bricht unter der Last der Lügen in sich zusammen.

Für Gläu­bi­ge ist so etwas aber nichts wei­ter als eine Prü­fung in der Festig­keit des eige­nen Glau­bens. — Wie heißt es doch: Als sie ihr Schei­tern bemerk­ten, da ver­dop­pel­ten sie ihre Anstrengungen.

Aller­dings ist die­ser Tage nicht nur ein Zen­tral­ge­stirn reak­tio­nä­ren Den­kens im Sink­flug begrif­fen. So ergeht es man­chen die­ser Tage, die ein­fach zu hoch geflo­gen sind. — Man kann nicht Angst mit Haß bekämp­fen, man soll­te auch nicht die See­len­heil­kun­de in die Hän­de ver­meint­li­cher Coa­ches legen, die auf den Markt­plät­zen im Inter­net wie Wun­der­hei­ler herumziehen.

Zur Fair­neß, vor allem auch zu der, sich selbst gegen­über, braucht es Mut und Zuver­sicht. Aber so etwas fällt nicht vom Him­mel. — Auf Bil­dung kommt es an, so viel Umweg muß sein.

Man­che wol­len aber Erleuch­tung nach dem Mot­to: “I like Genuß sofort”, noch so eine sau­blö­de Wer­bung vor­zei­ten. Und die­sen Spruch haben sich vie­le auch noch aufs Auto geklebt. — Da mag es gün­stig erschei­nen, gleich in den Glau­ben zu sprin­gen, als wäre es nur eine Mut­pro­be. Aber so etwas ist gar kei­ne Lei­stung, son­dern nur die Flucht vor der gei­sti­gen Freiheit.

Auf die Bil­dung der Per­sön­lich­keit kommt es daher an. Wir soll­ten eini­ger­ma­ßen sicher gehen kön­nen, daß wir uns selbst und ande­ren nicht ein­fach nur etwas vor­ma­chen. – Das ist es doch gera­de, was “Kri­tik” aus­macht. Wir soll­ten uns nicht selbst auf den Leim gehen, son­dern uns selbst ganz beson­ders “kri­tisch” betrachten.

Als Kon­trast­mit­tel kann man dabei auf Phi­lo­so­phie, Kunst und Dich­tung zurückgreifen:

„Wer Wis­sen­schaft und Kunst besitzt,

Hat auch Religion;

Wer jene bei­den nicht besitzt,

Der habe Religion.“

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Gedich­te. Nach­le­se. In: Ber­li­ner Aus­ga­be; Bd. 2, S. 383.)


Elon Musk und der Algorithmus der Macht

Über die Konstruktion der herrschenden Meinung

Wer die Spra­che beherrscht, kann Macht für sich bean­spru­chen, weil die Wirk­lich­keit damit kon­stru­iert wer­den kann und damit auch die herr­schen­de Meinung.

Elon Musk will angeb­lich den Algo­rith­mus ver­öf­fent­li­chen, der „hin­ter“ Twit­ter steckt. Aber es sind hun­der­te und im übri­gen bräuch­te man dann auch das Mate­ri­al, mit dem die­se Algo­rith­men “ange­lernt” wor­den sind.

Via Twit­ter ver­kün­den die Alphas unter den Jour­na­li­sten seit gerau­mer Wei­le, wo die herr­schen­de Mei­nung liegt. Auf­stre­ben­de Nach­wuchs­ta­len­te haben das Cre­do der mäch­ti­gen Mei­nungs­ma­cher dank­bar übernommen.

Die „Vier­te Gewalt“ ist kei­ne mehr, son­dern selbst zum Teil des Pro­blems gewor­den, sie hat sich zum Angst­bei­ßer ent­wickelt, weil sie längst vor dem Inter­net in die Knie gegan­gen ist. – Als das Pri­vat­fern­se­hen auf­kam, hat­ten die öffent­lich-recht­li­chen Anstal­ten schließ­lich auch nichts Bes­se­res zu tun, als sich ein schlech­tes Bei­spiel an der neu­en Kon­kur­renz zu nehmen.

Johann Hein­rich von Dannecker, Ari­ad­ne auf dem Pan­ther, 1803–1814, Lie­bieg­haus in Frank­furt am Main.

Nicht ohne klamm­heim­li­che Freu­de gön­ne ich es den Ver­tre­tern der “Vier­ten Gewalt”, daß sie jetzt mit­ver­kauft wor­den sind. Denn sie tun seit Jah­ren nicht mehr, was sie zu tun hät­ten: Den Dis­kur­sen bei der Ori­en­tie­rung in der ver­wir­ren­den Viel­falt aller Stim­men kom­pe­tent zur Sei­te zu stehen.

Natür­lich gibt es immer auch Aus­nah­men, aber die Ten­den­zen sind ins­ge­samt besorg­nis­er­re­gend: Man­che füh­ren sich wie die Ober­prie­ster einer allein­se­lig­ma­chen­den Kir­che auf, um alle exkom­mu­ni­zie­ren zu las­sen, die sich nicht ihrer Auf­fas­sung „fügen“.

Die her­me­ti­sche Mei­nungs­bil­dung via Twit­ter wirkt wie die hei­li­ge Inqui­si­ti­on der römisch-katho­li­schen Kir­che. – Aus­ge­sto­ßen zu wer­den aus der Gemein­schaft, ist seit Anbe­ginn der Mensch­heit die ulti­ma­ti­ve Katastrophe.

Wäh­rend die Kir­chen immer weni­ger rele­vant sind in Fra­gen der Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung, haben Pres­se­ver­tre­ter längst die Rol­le der Kir­chen­für­sten über­nom­men. Man kann inzwi­schen sogar die Exkom­mu­ni­ka­ti­on aus­spre­chen und exe­ku­tie­ren, die Betrof­fe­nen wer­den dann vom sozia­len Tod ereilt.

Nun hat Elon Musk gera­de via Twit­ter oft und gern zur Image­pfle­ge, für Spie­le­rei­en, Spe­ku­la­tio­nen und zur Agi­ta­ti­on genutzt. Dabei war das Medi­um immer auch Bot­schaft. – Aber irgend etwas hat den Tycoon ganz offen­bar schon seit lan­gem an Twit­ter gestört: Es muß das Geheim­nis­vol­le im Ran­king gewe­sen sein. Also wer kriegt eigent­lich was, wann und war­um zu sehen?

Man weiß längst von Insi­dern sozia­ler Net­ze, die zu Wist­le­b­lo­wern wur­den, daß gera­de die „gro­ßen“, beson­ders extre­men „Emo­tio­nen“ geför­dert wer­den, weil wir uns angeb­lich nur zu gern maß­los auf­re­gen. Und die Algo­rith­men sind dazu pro­gram­miert, die User mög­lichst lang auf der Platt­form zu hal­ten, damit man sie umso bes­ser mit Wer­bung bestrei­chen kann.

So wie einst­wei­len die Rat­schlüs­se der Göt­ter uner­forsch­lich waren, so sind es jetzt die Algo­rith­men. Es wäre daher begrü­ßens­wert, wür­den die Algo­rith­men von Twit­ter ver­öf­fent­licht. Berich­tet wird, daß Elon Musk mit einer Entou­ra­ge eng­ster Mit­ar­bei­ter wie eine Besat­zungs­macht ein­ge­fal­len ist. Die Chefs wur­den augen­blick­lich in die Wüste geschickt, das Gan­ze ist eine Mischung aus feind­li­cher Über­nah­me und Raz­zia. – Sei­ten­wei­se wur­den Codes geor­dert und aus­ge­druckt, die dann in einer klan­de­sti­nen Com­mu­ni­ty von Bera­tern und Exper­ten, mit denen sich Musk umge­ben hat, geprüft zu wer­den. Worauf?

Jetzt hat er nicht nur ein Satel­li­ten­sy­stem „unter sich“, das der Kom­mu­ni­ka­ti­on vor allem auch in Kriegs­ge­bie­ten dient. Jetzt will er an die Kom­mu­ni­ka­ti­on selbst her­an. – Tat­säch­lich geht es um unse­re Diskurse!

Aber sind Mär­chen, Mythen und Meta­phern nicht auch wie Algo­rith­men? Und ist nicht Ari­ad­ne eine, die sich mit Laby­rin­then aus­kennt? – Ganz so neu ist das alles nun auch wie­der nicht.

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Burnout der Gesellschaft

Über die Macht der Medien und das Unbehagen in der Kultur

Vortr., geh. am 31. Oktober 2022 im Studium generale: »Zeitenwenden – ein Kommen und Gehen«. Hochschule Konstanz – Technik, Wirtschaft und Gestaltung, Wintersemester 2022.

Eine neue Medi­en­re­vo­lu­ti­on, die dem des Buch­drucks in nichts nach­steht, hat soeben erst begon­nen. Wir erle­ben nur den Anfang die­ser Zei­ten­wen­de und sind jetzt schon maß­los über­for­dert. Das alles führt zum Burn­out der Gesell­schaft, zum Ver­lust der Dia­log­fä­hig­keit und zum Rück­fall in längst über­wun­de­ne Zeiten.

Rein­hold Völ­kel: Café Grienst­eidl in Wien (1896). — Das berühmt–berüchtigte Künst­ler­lo­kal in Wien, auch bekannt als ›Café Grö­ßen­wahn‹, war ein bevor­zug­ter Treff­punkt der Lite­ra­ten. — Eines vor allem sieht man hier, wie sehr die Zei­tun­gen alles domi­nier­ten und sich die Gemü­ter erhitz­ten. Es gras­sier­te die ›Neur­asthe­nie‹, das ›Burn­out‹ jener Tage.

Das ist der heim­li­che Hin­ter­sinn sol­cher Kri­sen und Wen­de­zei­ten: Die Mensch­heit wird sich ange­sichts die­ser neu­en Ver­bun­den­heit ent­we­der wei­ter ent­wickeln oder im Cha­os unter­ge­hen und dann zumin­dest eini­ge Stu­fen her­un­ter­fal­len in ihrer Ent­wick­lung vom Tier zum qua­si gött­li­chen Wesen.

Bei alle­dem ist eine all­ge­mei­ne Ten­denz ersicht­lich, die offen­bar von Anfang an hin­ter die­ser Ent­wick­lung steht: Es geht um mehr Indi­vi­dua­li­tät, Auto­no­mie und Selbst­ori­en­tie­rung, es geht um mehr Bewußt­sein, Empa­thie­ver­mö­gen, Selbst­be­wußt­sein und Geist.

Die Natur hat im Men­schen ein Auge auf­ge­schla­gen, um sich selbst in den Blick zu neh­men. Dabei spielt Reli­gi­on nach wie vor eine ganz bemer­kens­wer­te Rol­le, nicht unbe­dingt im her­kömm­li­chen Sinne.

Aber als Gespür für Höhe­res, ins­be­son­de­re für Auf­klä­rung und Huma­nis­mus, wer­den reli­giö­se Moti­ve noch über lan­ge Zeit erfor­der­lich sein. Denn was der Psy­che gut tut, muß nicht unbe­dingt auch gut sein für die Seele.

Audiodatei des Vortrags:


Der amerikanische Pragmatismus ist unethisch

„Alle auf das Recht ande­rer Men­schen bezo­ge­ne Hand­lun­gen, deren Maxi­me sich nicht mit der Publi­zi­tät ver­trägt, sind unrecht.“

(Imma­nu­el Kant: Zum ewi­gen Frie­den. Ein phi­lo­so­phi­scher Ent­wurf. In: Wer­ke. Bd. VI; S. 245.)

Kant ist eben­so berühmt wie berüch­tigt für sei­nen Rigo­ris­mus. Das läßt sich sehr gut illu­strie­ren anhand des Bei­spiels vom unschul­dig Ver­folg­ten, der sich bei mir ver­steckt. Ich soll, ich muß den Ver­fol­gern ver­ra­ten, daß er sich bei mir aufhält.

Die­se bein­har­te Prin­zi­pi­en­treue erscheint zunächst völ­lig welt­fremd, wenn das Lügen­ver­bot der­art abso­lut gesetzt wird, ohne jede Aus­nah­me. Aber bei Kant kommt es nicht auf die Fol­gen an, son­dern ein­zig und allein auf den per­sön­li­chen Ent­schluß zum Guten Wil­len als Grund­la­ge jeg­li­cher Moral. – Es wird ein täti­ges Ver­trau­en ein­ge­for­dert, sich nicht über das Gesetz zu stel­len, sich nicht für klü­ger zu hal­ten als alle ande­ren. Ent­schei­dend ist, ob man in der eige­nen Per­son den eige­nen Pflich­ten gerecht gewor­den ist oder nicht. Alles Wei­te­re muß und wird sich dann schon zeigen.

Das sieht der Ame­ri­ka­ni­sche Prag­ma­tis­mus völ­lig anders. Ihm zufol­ge ist ein­zig und allein das Ziel ent­schei­dend, und die Mit­tel zum Zweck sind dann „gut“, wenn sie errei­chen, was man sich nun ein­mal in den Kopf gesetzt hat.

Aller­dings geht es in der Phi­lo­so­phie stets ums Grund­sätz­li­che, daher wird es inter­es­sant, die mög­li­chen Alter­na­ti­ven bewußt durch­zu­spie­len. Und da wird Sokra­tes bei­spiel­haft mit sei­nem Ver­hal­ten, den Gift­be­cher zu schlucken, obwohl die Wäch­ter bereits besto­chen sind und eigent­lich von ihm sogar erwar­tet wird, daß er sich dem Urteil durch Flucht ent­zieht. – Aber Sokra­tes bleibt, trinkt und stirbt, wobei sehr deut­lich beschrie­ben wird, wie das Gift des Schier­lings sei­ne Wir­kung zu ent­fal­ten beginnt.

Jac­ques-Lou­is David: Der Tod des Sokra­tes (1787).

Wenn man nun dar­auf spe­ku­liert, Sokra­tes habe, wie Prot­agoras rund 10 Jah­re zuvor, eben­falls die Gele­gen­heit zur Flucht ergrif­fen, dann wird deut­lich, daß Sokra­tes nicht hät­te wei­ter­hin Sokra­tes sein und blei­ben kön­nen nach die­ser Flucht. Er hät­te durch sein Ver­hal­ten sei­ner gan­ze Phi­lo­so­phie eine Nar­ren­kap­pe auf­ge­setzt, er wäre zu Recht zum Gespött gewor­den. Und Pla­ton hät­te ihn mit­nich­ten so in Sze­ne set­zen kön­nen, wie er es getan hat. – Mit die­sem Opfer­tod wur­de der Phi­lo­so­phie ein unum­stöß­li­ches Denk­mal gesetzt, gegen das kein Prag­ma­tis­mus und auch kein Uti­li­ta­ris­mus ankom­men kann.

Genau das kommt auch her­aus, wenn man das Lügen ver­all­ge­mei­nert. Wenn näm­lich alle lügen wür­den und nie­mand sicher sein kann, daß nicht doch gelo­gen wor­den ist, dann gibt es kei­ne Wahr­heit mehr und auch kein Ver­trau­en. Alles wäre rui­niert. Der Lüg­ner spe­ku­liert ja dar­auf, daß ihm geglaubt wird, obwohl er weiß, daß er kein Ver­trau­en ver­dient hat. – Also wie­viel Zynis­mus, wie­viel Eigen­mäch­tig­keit, wie­viel Selbst­herr­lich­keit, Selbst­ge­rech­tig­keit und Geheim­hal­tung braucht man eigent­lich, wenn man sich so über alles hin­weg­set­zen will, was angeb­lich all­ge­mein ver­bind­lich gilt?

Das wirft ein ande­res Schlag­licht auf die Situa­ti­on mit dem unschul­dig Ver­folg­ten. Wir näh­men der Gemein­schaft und auch den Ver­fol­gern durch unse­ren eigen­mäch­ti­gen Ein­griff in das Gesche­hen jede Gele­gen­heit, selbst hin­ter die Unschulds­ver­mu­tung zu kom­men. – Auch wer aus angeb­lich guter Absicht lügt, stört die mora­li­sche Ent­wick­lung der gan­zen Mensch­heit für die Ver­fol­gung nied­ri­ger Zwecke. Das Recht auf die Wahr­heit haben Kin­der gegen­über ihren leib­li­chen Eltern und Kran­ke gegen­über Ärz­ten und Angehörigen.

Das Geheim­hal­ten selbst ist also bereits ein Indiz für poten­ti­el­les Unrecht. Genau das aber tun die Geheim­dien­ste aller Staa­ten, vor allem aber die der US-Ame­ri­ka­ner. Die Liste der gehei­men Kom­man­do­sa­chen, die durch­aus denen von James Bond ent­spre­chen, läßt sich offen bei Wiki­pe­dia nach­schla­gen. Und der Ame­ri­ka­ni­sche Prag­ma­tis­mus seg­net das üble Tun und Trei­ben auch noch ab.

Dar­in liegt der ent­schei­den­de Unter­schied zur kon­ti­nen­tal-euro­päi­schen Phi­lo­so­phie, die auch den eng­li­schen Uti­li­ta­ris­mus nicht wirk­lich mit­tra­gen kann. – Daß ein geka­per­tes Pas­sa­gier-Flug­zeug mit Kurs auf ein besetz­tes Fuß­ball­sta­di­on nicht auf Geheiß des Ver­tei­di­gungs­mi­ni­sters abge­schos­sen wer­den darf, weil die­ser dazu das Recht gar nicht hat, ist ein ein­schlä­gi­ges Grund­satz­ur­teil in sol­chen Ange­le­gen­hei­ten. – Men­schen­le­ben wer­den nicht gezählt, es wird nicht gerech­net und schon gar nicht wird auf­ge­rech­net. Viel­mehr ist es dem euro­päi­schen Den­ken fremd, so etwas über­haupt in Erwä­gung zu ziehen.

Gin­ge es wirk­lich um das “größt­mög­li­che Glück der größt­mög­li­chen Zahl”, dann wäre zuletzt nicht ein­mal mehr aus­ge­schlos­sen, daß man Men­schen her­nimmt, um sie aus­zu­wei­den. Ein Ein­zel­ner könn­te wirk­lich sehr vie­le ande­re Organ­emp­fän­ger über­aus „glück­lich“ machen.

Die Fra­ge Cui bono?

Es spricht nicht viel dafür, daß Putin höchst­selbst die Bom­ben in gro­ßer Tie­fe an den Pipe­lines hat plat­zie­ren las­sen. Wenn dem so wäre, dann wür­de das gesche­hen sein in der Absicht, es den USA in die Schu­he zu schie­ben. – Viel­ver­spre­chen­der scheint aber die Ver­mu­tung zu sein, daß es die USA waren, die schon vor Mona­ten die­se Mög­lich­keit erwo­gen und auch in Aus­sicht gestellt haben.

Ein Unding, was da pas­siert ist, als der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent Biden in Anwe­sen­heit von Bun­des­kanz­ler Scholz genau das offen aus­ge­spro­chen hat, daß die USA im Zwei­fels­fall schon über “Mit­tel und Wege” ver­fü­gen wür­den. – Der Augen­blick der Zün­dung die­ser mut­maß­lich bereits vor Mona­ten instal­lier­ten Bom­ben kann selbst als Indiz genom­men wer­den dafür, daß die USA nicht nur die­sen Krieg, son­dern auch den Rück­weg in den Frie­den ver­bau­en wollen.

Wenn es näm­lich gar nicht so gut steht um die Kriegs­zie­le von Putin, dann könn­te die­ser ja erwä­gen, even­tu­ell doch auf Ver­hand­lun­gen ein­zu­ge­hen. Wenn die­se dann fruch­ten wür­den, dann könn­te ja als­bald auch wie­der Gas durch die Lei­tun­gen flie­ßen. – Genau das ist jetzt unmög­lich gemacht worden.

Die Maxi­men US-Ame­ri­ka­ni­scher Außen­po­li­tik waren und sind nie­mals wirk­lich am Wohl der Mensch­heit aus­ge­rich­tet wor­den, es ging und geht immer nur um oft sehr kurz­fri­sti­ge Inter­es­sen und dazu ist dann jede Mit­tel recht, also auch Lügen, Betrü­gen, Hin­ter­ge­hen und Vor­täu­schen fal­scher Tat­sa­chen. – Genau das aber macht alle Geheim­dien­ste zu einem Stein des Ansto­ßes, weil sie im Sin­ne von Kant per se unrecht sind und Unrecht tun.

Bereits die Tat­sa­che, daß sie ihr Tun und Trei­ben nicht öffent­lich machen kön­nen, dis­kre­di­tiert sie alle, wirk­lich alle. Es kann kei­ne guten Geheim­dien­ste, kei­ne gute Geheim­po­li­tik im ethi­schen Sin­ne geben. Es kann sie schon des­we­gen nicht geben, weil sie dem Prin­zip der Demo­kra­tie wider­spre­chen. – Wenn das „Volk“ der Sou­ve­rän sein soll, dann muß die­ser auch erst ein­mal infor­miert wer­den, wer, wes­halb, wozu und war­um sol­che Aktio­nen gebo­ten sein sollen.

Geheim­dienst­ak­tio­nen wie die Sabo­ta­ge an Pipe­lines erwei­sen der viel­be­ru­fe­nen Demo­kra­tie einen Bären­dienst. Es geht zuletzt auch nur um die Macht-Gelü­ste ganz klei­ner Eli­ten, die ihre Glas­per­len­spie­le betrei­ben. Und dabei ver­spie­len sie genau das, wor­auf es ankä­me, wor­auf Kant und Sokra­tes uner­bitt­lich gesetzt haben: Vertrauen.


Bildungskatastrophe II

„Ich weiß, was auf mich zukommt, aber ich will trotz­dem Leh­re­rin wer­den“, sag­te mir neu­lich eine Lehr­amts­an­wär­te­rin, nach­dem es im Semi­nar mal wie­der düster gewor­den war und sich kein Sil­ber­streif am Hori­zont mehr abzeichnete.

Seit 10 Jah­ren ver­an­stal­te ich nun Semi­na­re zur Berufs­ethik für Leh­rern und Leh­re­rin­nen am KIT in Karls­ru­he. Wir machen kei­ne Text­ar­beit, wie es üblich ist in der Philosophie.

Es soll nicht um Theo­rie gehen, son­dern die Pra­xis selbst ist das, was wir durch­spie­len, mit dem gan­ze Arse­nal mög­li­cher Konflikte.

Dabei lau­tet einer der bewußt pro­vo­kan­ten Leit­sprü­che: „Wer einen Burn­out bekommt, macht etwas falsch. Pro­fis bekom­men kei­nen Burn­out“. – Also ver­su­chen wir, gemein­sam zu ent­wickeln, wie man es „rich­tig“ macht.

Aber wenn die Ansprü­che und Wider­sprü­che mal wie­der über den Kopf wach­sen, etwa beim The­ma „Inklu­si­on“, dann zweif­le ich in letz­ter Zeit an der Berech­ti­gung die­ser eigent­lich wit­zig gemein­ten Maxi­me. Tat­säch­lich wer­den die Ansprü­che an Lehr­per­so­nen immer höher, aber die Wert­schät­zung wird immer gerin­ger. Wie soll das eigent­lich auf Dau­er gut gehen?

Inzwi­schen koket­tiert die Gesell­schaft bereits mit ihrer Bil­dungs­fer­ne, wie es Alt­kanz­ler Schrö­der vor­ge­macht hat. Einer Schü­ler­zei­tung hat er im Inter­view mal die Bin­sen­weis­heit ver­kauft: „Ihr wißt doch alle, daß Leh­rer fau­le Säcke sind“.

Mein Glau­be an die Mis­si­on einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik sieht sich immer grö­ße­ren Prü­fun­gen aus­ge­setzt. In den gol­de­nen 70er Jah­ren wur­de der Alarm­ruf von der „Bil­dungs­ka­ta­stro­phe“ noch wirk­lich ernst genom­men, die Gesell­schaft war schockiert und von sei­ten der Poli­tik wur­de mas­siv gegen­ge­steu­ert. Heu­te zuckt man nur noch mit den Schultern.

Mir scheint, die Basis für Huma­nis­mus, Auf­klä­rung und Bil­dung ist abhan­den gekom­men. Die Fun­da­men­te tra­gen nicht mehr und die Leit­bil­der, die noch vor Gene­ra­tio­nen gal­ten, sind demo­liert. Aber ohne ein Bewußt­sein für das, was von Wert ist, wird nicht mehr gelin­gen, was doch gelin­gen muß, Ent­wick­lung in jeder Gene­ra­ti­on neu.

Wenn in den Mär­chen das Unge­heu­er die Büh­ne betritt, dann ver­liert das Leben schon bald jeden Reiz. Das Unge­heu­er ver­langt täg­lich noch mehr Opfer und man hat schluß­end­lich zum Leben zu wenig und zum Ster­ben zu viel. Das ist der Inbe­griff einer Kri­se, wie sie nicht nur Indi­vi­du­en, son­dern auch gan­ze Gesell­schaf­ten ergrei­fen kann. – Zumeist wer­den Kin­der als Opfer ver­langt, was unschwer zu deu­ten ist, dann damit steht die Zukunft der gan­zen Gesell­schaft auf dem Spiel.

Cata­li­na Schrö­der: Lehr­er­man­gel an Grund­schu­len. Bil­dungs­land bald abge­brannt. DLF, 29.08.2022. 

Ethisch–Philosophisches Grund­la­gen­stu­di­um II.


Die Schönheit der Seele

Psyche und Seele

Das Sym­po­si­on ist schon weit fort­ge­schrit­ten, als sich uner­war­tet ein illu­strer Gast ein­stellt. Alki­bia­des, reich­lich berauscht und gestützt auf zwei Flö­ten­spie­le­rin­nen, begehrt Ein­laß, was ihm selbst­re­dend gewährt wird. — Und wie es in sol­chen Situa­tio­nen häu­fig so ist, läßt er sich kurz erläu­tern, daß man sich nicht zum Zechen, son­dern zu einem wei­te­ren Dich­ter­wett­streit zusam­men­ge­fun­den haben. Es gel­te, ein Lob­lied auf den Gott der Lie­be, auf Eros aufzuführen.

Anselm Feu­er­bach: Das Gast­mahl. Nach Pla­ton (zwei­te Fas­sung: 1871). — Im Mit­tel­punkt steht der Gast­ge­ber Aga­thon, geschmückt mit dem Lor­beer­kranz, weil er den Dich­ter­wett­streit gewon­nen hat. In der rech­te Bild­hälf­te, mit dem Gesicht vom Gesche­hen abge­wandt, voll­kom­men in sich ver­sun­ken, sieht man auch Sokra­tes. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Wer so spek­ta­ku­lär auf­tritt, steht ohne­hin im Mit­tel­punkt. Also legt der spä­ter nicht unum­strit­te­ne Macht­po­li­ti­ker einst­wei­len los mit sei­nem Lob­ge­sang auf den Gott der Lie­be. Er läßt sich nie­der und erzählt von einer unge­heu­ren Lie­be, der er ver­fal­len sei, die ihm aber uner­füllt blieb. Dabei sei die Ver­füh­rung bestens vor­be­rei­tet wor­den. Er habe die Die­ner weg­ge­schickt, die Bett­decken bis auf eine redu­ziert, so daß man ein­an­der zwangs­läu­fig habe näher­kom­men müs­sen, und den­noch habe er kein Glück damit gehabt. — Dabei sei doch die Per­son, um die es ging, rein äußer­lich nicht nur nicht schön, son­dern eigent­lich häß­lich, wäre da nicht die­se Schön­heit der See­le, die von innen her kommt.

Pla­ton ist ein Schalk, wenn er dem über­schweng­li­chen Alki­bia­des erst in die­sem Augen­blick erlaubt, sich der ande­ren Sei­te hin­zu­wen­den, um dann unmit­tel­bar neben sich jenen zu erblicken, um den es ihm in allen sei­nen Lie­bes­be­kun­dun­gen die ganz Zeit geht: Sokra­tes. Die­ser hat­te zuvor sei­ne Lob­re­de auf den Gott der Lie­be gehal­ten, aber durch die Wie­der­ga­be eines weg­wei­sen­den Dia­logs über die Lie­be, mit einer Leh­re­rin namens Diot­ima. — Die­se prä­gen­de Unter­wei­sung hat er in jun­gen Jah­ren erfah­ren. Die wei­se Frau aus Man­ti­neia in Arka­di­en muß
ihn sehr beein­druckt haben.

Josef Simm­ler: Diot­ima. Por­trät der Jad­wi­ga Luszc­zews­ka (1855). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Erneut geht es, wie bereits im Höh­len­gleich­nis oder beim See­len­ge­spann um einen Auf­stieg, nun­mehr aber in der Liebe.—Diotima emp­fiehlt eine Ori­en­tie­rung am Begeh­ren des Schö­nen, wobei nicht typi­scher­wei­se die Ero­tik schlecht gere­det und dann aus­ge­grenzt wird. Viel­mehr wird zuge­stan­den, daß die­se Form der Lie­be zum Schö­nen den Anfang macht.

Inso­fern ist die Rede von ›pla­to­ni­scher Lie­be‹ als einer ohne Begeh­ren phi­lo­so­phisch nicht berech­tigt, weil aus­drück­lich jede Form der Lie­be zuge­las­sen wird. — Sie sei ein ›hei­li­ger Wahn‹, der von sich aus über sich selbst hin­aus in tran­szen­den­te Höhe füh­ren wer­de, wenn sich dem nichts ent­ge­gen­ge­stellt. Den Anfang macht das ero­ti­sche Begeh­ren und die Fixie­rung auf äuße­re und indi­vi­du­el­le Schön­heit, dann aber erwei­tert sich die­se Lie­be zur Schön­heit und wan­delt sich zur Freu­de an der Schön­heit der Lie­be. All­mäh­lich wird man mehr die inne­re und uni­ver­sel­le Schön­heit schät­zen ler­nen, was sich schließ­lich auf den gan­zen Kos­mos erwei­tern kann.

Damit hat die Schön­heit einen bedeu­ten­den Rang erhal­ten, der kaum mehr über­trof­fen wer­den kann. Und tat­säch­lich gibt es eini­ge Hin­wei­se, die Anlaß geben kön­nen, dar­über zu spe­ku­lie­ren, ob womög­lich die­se ›inne­re‹ Schön­heit nicht tat­säch­lich dem Abso­lu­ten noch am aller­näch­sten kom­men kann.

Auch über die Ver­nunft läßt sich glei­cher­ma­ßen spe­ku­lie­ren, daß sie, wenn sie damit betraut ist, ein Gan­zes als sol­ches vor Augen zu füh­ren, sich dabei stets auf die Per­spek­ti­ven der Ästhe­tik und der ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu stüt­zen ver­steht. Das Inter­es­san­te dar­an liegt dar­in, daß beim Emp­fin­den von Schön­heit nur noch plä­diert aber nicht mehr argu­men­tiert und schon gar nicht mehr bewie­sen wer­den kann.—Das wie­der­um hat Han­nah Are­ndt zu einem bemer­kens­wer­ten Expe­ri­men­tie­ren moti­viert, eine Poli­ti­sche Theo­rie auf der Grund­la­ge der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu entwickeln.

Kri­sti­an Zahrt­mann: Sokra­tes und Alki­bia­des (1911). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Damit ist ein tie­fes Geheim­nis ange­spro­chen, es geht dar­um, daß wah­re Schön­heit von innen her­kommt, von der Schön­heit der See­le. — Und wie sich den begehr­lich Vor­wür­fen des Alki­bia­des dem Sokra­tes ent­neh­men läßt, ist der Poli­ti­ker in sei­nen Besitz­an­sprü­chen und sei­nen Eifer­süch­te­lei­en eben weit weni­ger an wah­rer Lie­be inter­es­siert, son­dern viel­mehr an sei­ner eige­nen Eitel­keit. Er wird damit zu einem muster­gül­ti­gen Bei­spiel, wie man es bes­ser nicht hal­ten soll­te, mit der Liebe.

Hier läßt sich der Faden auf­neh­men, um zu unter­su­chen und zu ver­ste­hen, wie denn der Zusam­men­hang zwi­schen See­le und Psy­che beschaf­fen sein mag. Vor allem inter­es­siert eines: Die zuneh­men­den Depres­sio­nen mögen auch als Hin­weis genom­men wer­den, daß wir uns viel zu sehr mit der Psy­che, aber viel zu wenig mit der See­le befassen.

Es ist an der Zeit, man­che Begrif­fe end­lich auch all­ge­mein­sprach­lich wie­der in Gebrauch zu neh­men, die allen­falls noch von Theo­lo­gen bemüht wer­den, die daher in die­sen Sachen über das bes­se­re Arti­ku­la­ti­ons­ver­mö­gen ver­fü­gen. — Wir soll­ten nicht mehr nur vom Kör­per , son­dern auch vom Leib spre­chen, was nicht das­sel­be ist. Wir soll­ten nicht mehr nur von der Psy­che, son­dern auch von der See­le reden. Wir soll­ten nicht mehr nur von Ratio­na­li­tät, son­dern auch von Ver­nunft spre­chen. Und wir soll­ten nicht mehr nur Ratio­na­li­tät, Ver­stand und Ver­nunft bemü­hen, son­dern auch, was nicht leicht faß­bar ist, den Geist.

Psyche und Seele

Nur bei ober­fläch­li­cher Betrach­tung schei­nen Psy­che und See­le das­sel­be zu mei­nen. Wäh­rend die See­le häu­fig in reli­giö­sen, medi­ta­ti­ven und eso­te­ri­schen Kon­tex­te the­ma­ti­siert wird, erscheint die Psy­che inzwi­schen eher wie ein Part of the game mit all­täg­li­chen Belan­gen. — Und mögen wir noch so ver­hei­ßungs­voll von unse­rem ver­meint­li­chen Inne­ren spre­chen, die Psy­che ist nicht sel­ten auch nur ein Spiel mit der Alltagsmaske.

Es scheint, als habe die Psy­che viel weni­ger von jener Tie­fe, wie sie der See­le zuge­spro­chen wird. Die Psy­che ist offen­bar sehr viel jün­ge­ren Datums und damit auch ein Spie­gel nar­ziß­ti­scher, selbst­be­züg­li­cher und mate­ria­li­sti­scher Belan­ge, von denen sich vie­le ver­spre­chen, gro­ße Sehn­süch­te zu stil­len. Es sin Illu­sio­nen, die durch Kon­su­mis­mus nicht bewäl­tigt wer­den können.

Vor­der­grün­dig wirkt die Psy­che als beson­de­rer Teil unse­rer See­le, den wir uns über uns selbst bewußt machen möch­ten. — Das Gere­de von der ›Suche nach dem wah­ren Selbst‹ kann die Sehn­sucht nicht stil­len, denn die Psy­che ist selbst ein Teil des Thea­ters, das wir uns und ande­ren vor­spie­len. Ist die Thea­ter­maske erst ein­mal mit dem eige­nen Gesicht und den übli­chen Ober­fläch­lich­kei­ten fest ver­wach­sen, dann kann auch kein Aus­druck von Tie­fe mehr auf­kom­men, denn damit gehen auch Empa­thie und Authen­ti­zi­tät verloren.

Der Geist der Narrative

Zugang zu den Tie­fen in uns hat nur der Geist, der in den Nar­ra­ti­ven wohnt. Es kommt dar­auf an, mit Fein­ge­fühl die eige­ne Geschich­te in tief­grün­di­gen Dia­lo­gen ganz all­mäh­lich bewußt wer­den zu las­sen. — Um Freund­schaft mit sich selbst zu schlie­ßen, soll­te man sich einst­wei­len näher ken­nen­ler­nen. Dann kann man mit­hil­fe der Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie noch eini­ge wesent­li­che Schrit­te dar­über hin­aus gehen.


Die Vernunft, die Musen und das Glück

Über Momente des Glücks, für die zu leben sich lohnt

In der Medi­zin set­zen nicht-inva­si­ve Ein­grif­fe inzwi­schen neue Maß­stä­be. Der­weil betreibt die Poli­tik noch immer hemds­är­me­li­gen Inter­ven­tio­nis­mus. Ver­nunft oder gar Geist sind unerwünscht.

So ist die Homöo­pa­thie die­ser Tage gestri­chen wor­den von den Fort­bil­dun­gen für Ärz­ten. Sie paßt nicht mehr in die­se selbst­ver­lieb­te Zeit. Man glaubt, grö­ße­re Pro­ble­me nur mit schwe­ren Waf­fen „lösen“ zu kön­nen. – Es wäre aber zu emp­feh­len, mehr über Sozia­le Syste­me zur Kennt­nis zu nehmen.

Die Maul­af­fen-Per­for­mance aus Coro­nas Zei­ten wird unbe­irrt wei­ter fort­ge­setzt. Dabei ist die Welt längst aus dem Rhyth­mus gera­ten, weil Poli­ti­ker in vie­len Län­dern allen Ern­stes mein­ten, sie könn­ten auf Hand­steue­rung umschal­ten. Grö­ßen­wahn inmit­ten einer Kri­se ist das Dümm­ste, was pas­sie­ren kann.

Es gibt näm­lich gar kein Cock­pit, kei­ne Brücke mit Kapi­tän und Steu­er­mann. Sozia­le Syste­me haben alle ihren eige­nen Auto­pi­lo­ten. Sie steu­ern sich selbst, ganz im Sin­ne ihrer inter­nen Codes, ob Poli­tik, Wis­sen­schaft, Gesund­heit, Recht, Reli­gi­on, Kunst oder Lie­be. – Es gibt kei­ne Hebel der Macht. Das sind naï­ve Vor­stel­lun­gen, die eigent­lich nie der Wirk­lich­keit entsprachen.

Aller­dings gibt es mehr oder min­der gro­ße Dumm­hei­ten, die anfangs noch naiv, dann aber fahr­läs­sig und bald schon unver­ant­wort­lich wer­den. „Gut gemeint“ ist nicht „gut gemacht“, bei­lei­be nicht.

Wer sich kei­nen Kopf macht, kann ihn auch nicht ver­lie­ren, das glau­ben wohl man­che von denen, die immer vor­ne­weg sind:

„So tu doch was!“

„Was soll ich denn tun?“

„Das weiß ich auch nicht. -

Aber tu doch end­lich irgendwas!“

Auch das 9 Euro-Ticket ist wie­der so eine pre­kä­re Mei­ster­lei­stung. Es ist über­haupt kei­ne gute Idee, gleich gan­ze Syste­me zu maro­die­ren, so wie zuvor noch die Kli­ni­ken in der Coro­na-Kri­se. Inzwi­schen sit­zen alle erdenk­li­chen Leu­te spa­ßes­hal­ber im Zug und neh­men denen die Plät­ze weg, die nur zur Arbeit fah­ren. – Das Bahn-Bas­hing ist jetzt zur Frei­zeit­un­ter­hal­tung geworden.

Oder der staat­li­che Tan­kra­batt, der nicht wirk­lich an der Tank­säu­le ankommt, weil er vor­her abge­fischt wird. Und dann regen sich alle wie­der auf über die bösen Spe­ku­lan­ten. – Es war sei­ner­zeit eine Freu­de, als man­che davon kalt erwischt wur­den im Lockdown.

Sie hat­ten gro­ße Kon­tin­gen­te an Sprit in Ter­min­ge­schäf­ten erwor­ben aber gar kei­ne eige­nen Lager­ka­pa­zi­tä­ten. Als sie die Ware zum erhöh­ten Preis abneh­men soll­ten, muß­ten man­che drauf­zah­len, damit ihnen irgend­wer das Zeug zum Dum­ping­preis noch vor der Lie­fe­rung abkauft.

Was kann Poli­tik? Wenn sie klug, viel­leicht sogar ver­nünf­tig oder even­tu­ell auch geist­reich wäre, dann könn­te sie eini­ges bewir­ken. Aber nicht durch Södern, Flick­schu­ste­rei und Popu­lis­mus. Jetzt mal eben eine Über­ge­winn­steu­er zu beschlie­ßen, ist bereits am wis­sen­schaft­li­chen Dienst geschei­tert. Das geht glück­li­cher­wei­se nicht auch noch, weil ein paar Grund­ge­set­ze im Wege stehen.

Wir haben Pri­vat­wirt­schaft und die­se setzt sich selbst ihre Zie­le, wie jedes ande­re System auch. – Schlech­te Poli­tik bringt aber die Syste­me der­art aus der Rou­ti­ne, so daß Desa­ster nicht mehr aus­ge­schlos­sen sind. So war und ist der Umgang des Staa­tes mit Bahn, Bil­dung und Gesund­heit ein­fach nur kata­stro­phal. Mal eben Kin­der­gär­ten und Schu­len schlie­ßen, das war auch wie­der so eine Meisterleistung.

Ins Gesund­heits­we­sen hat die Poli­tik der­art krass hin­ein­re­giert, so daß der eigent­li­che Zweck längst ins Hin­ter­tref­fen gera­ten ist. Geht es wirk­lich noch um Gesund­heit, wo die Fall­pau­scha­len alles beherrschen?

Neu­er­dings sind bereits die ersten Inve­sto­ren auf beson­ders lukra­ti­ve Arzt­pra­xen auf­merk­sam gewor­den? Kran­ken­häu­ser sind bereits Spe­ku­la­ti­ons­ob­jek­te, die natür­lich nur noch vor­hal­ten, was sich ren­tiert, nicht gesund­heit­lich, son­dern eben öko­no­misch. – Und die Vor­fi­nan­zie­rung teu­rer Gerä­te für Fach­arzt­pra­xen ist offen­bar die näch­ste Stufe.

Aber die Pati­en­ten spie­len mit und las­sen sich brav von Ter­min zu Ter­min schicken. Es pas­siert ja was, es wird ja was getan. Auf den Dos­siers der Labor­un­ter­su­chun­gen fin­den sich Hand­rei­chun­gen für den wer­ten Leser, für die man kei­nen Arzt mehr braucht. – Es ist aus­ge­wie­sen, was als “nor­mal” gilt und was gemes­sen wur­de. Aber die Nor­ma­li­tät wur­de als sol­che oft aus ganz ande­ren Grün­den beschlos­sen, die mit Gesund­heit selbst nichts zu tun hat. So sind die Wer­te für Blut­druck immer wie­der gesenkt wor­den und die Zahl der Pati­en­ten stieg. Die wun­der­sa­me Ver­meh­rung gibt es also auch in der Medizin.

Wer wird sich da noch ver­trau­ens­voll in die Hän­de sol­cher Weiß­kit­tel bege­ben? – Aber die Leu­te ver­trau­en doch nur zu gern, um die eige­nen Ver­ant­wor­tung nicht spü­ren und schon gar nicht tra­gen zu müs­sen. Wir leben in Zei­ten eines neu­en Paternalismus.

Die Aller­mei­sten kon­su­mie­ren ihre eige­ne Unmün­dig­keit. Sie wol­len mit der eige­nen Erkran­kung höchst­selbst eigent­lich nichts zu tun haben. Also sind sie auch nicht wirk­lich bei der Sache, dabei soll­te es doch eigent­lich um Hei­lung gehen.

Krank­heit ist dann kein Weg mehr, son­dern nur wie Kalk im Was­ser­kes­sel, der weg­ge­macht wer­den soll. Wenn ein Lei­den “nur” psy­chisch bedingt ist, dann ist es eher so etwas wie pure Ein­bil­dung. – Nur, was sich mes­sen läßt, hat ein Recht dar­auf, über­haupt ernst genom­men zu wer­den. Kann man Geist­lo­sig­keit messen?

Der neue Dis­kurs über Depres­si­on, der inter­es­san­ter­wei­se von nam­haf­ten Come­di­ans wie Schmidt, Strä­ter und Krö­mer ange­sto­ßen wur­de, dürf­te aller­dings nicht ohne Wir­kung blei­ben. – Es gibt zu den­ken, daß aus­ge­rech­net die Lustig­sten unter den Mit­men­schen die erfor­der­li­che Elo­quenz auf­brin­gen, end­lich zu sagen, daß der Clown hin­ter sei­ner Mas­ke weint und wie ihm dabei zu Mute ist.

Wir leben in beweg­ten Zei­ten. Es ist Cha­os genug, mehr geht eigent­lich nicht. – Im Hin­ter­grund steht eine Medi­en­re­vo­lu­ti­on, die ihres­glei­chen sucht. Nur noch die Erfin­dung des Buch­drucks kann der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on, die nun ansteht, über­haupt noch das Was­ser reichen.

Unter die­sen Umstän­den ver­än­dert sich auch die Rol­le von Poli­ti­kern ganz radi­kal. Daher rüh­ren auch die fort­wäh­ren­den Ver­su­che, das Netz der Net­ze unter Kon­trol­le zu bekom­men. – Aber so viel läßt sich jetzt schon mit Gewiß­heit sagen: Es wird nicht gelin­gen. Wenn es eine Ener­gie­quel­le gibt, von der die Kul­tur­ge­schich­te ange­trie­ben wird, dann ist es die Sehn­sucht nach Indi­vi­dua­li­tät und indi­vi­du­el­ler Anerkennung.

In die­sen Zei­ten ist ein „Tal der Ahnungs­lo­sen“, wie noch in der DDR, als die Anten­nen bei Dres­den nicht hoch genug sein konn­ten, um West­fern­se­hen zu emp­fan­gen, gar nicht mehr denk­bar. In den hin­ter­letz­ten Win­keln der Welt wis­sen alle, daß woan­ders ein ande­res Leben geführt und ande­re Wer­te gelebt wer­den. Die dog­ma­ti­sche Begrün­dung der „Hir­ten“, Tugend­wäch­ter und Gesin­nungs­wäch­ter, ver­fängt ein­fach nicht mehr. Es gibt immer Alternativen!

Auch im gar nicht mehr ganz so frei­en Westen zei­gen sich Ver­än­de­run­gen. Die Dis­kur­se fin­den nicht mehr nur in der „System­pres­se“ statt, son­dern über­all. Und sie wer­den der­art divers, so daß sich man­che Ver­tre­ter der Pres­se in Mis­sio­na­re ver­wan­delt haben, die wie vor Zei­ten in frem­den Län­dern den „Aber­glau­ben“ bekämpf­ten, um ihre „fro­he Bot­schaft“ vor­zu­be­rei­ten. – Ganz so froh war die Bot­schaft für die Nati­ves dann doch nicht, wenn man bedenkt, daß außer­eu­ro­päi­schen Kul­tu­ren ein­fach der eige­nen Iden­ti­tät beraubt wur­de, um sie unter die Fuch­tel frem­der Herr­schaft zu zwin­gen und Geschäf­te auf ihre Kosten zu machen.

Der Westen hat unend­li­ches Leid über alle erdenk­li­chen Kul­tu­ren gebracht. Schwei­gen wir hier von den Nie­der­lan­den, von Bel­gi­en oder Frank­reich. Um nur ein Bei­spiel zu brin­gen: Die Bri­ten haben wäh­rend ihrer Besat­zungs­zeit den Indern die Sin­nen­freu­de aus­ge­trie­ben, weil sie bei sich zuhau­se gera­de ihren Vik­to­ria­nis­mus hat­ten und den Frau­en gar kei­ne und schon gar kei­ne eige­ne Lust zuge­ste­hen moch­ten. – Noch heu­te zei­gen sich die trau­ma­ti­schen Spät­fol­gen in Indi­en anhand von Gewalt­ver­bre­chen mit sexu­el­lem Hintergrund.

Die frem­de Herr­schaft ist zwar abge­zo­gen, man hat aber seit­her kei­nen eige­nen Umgang mit Sin­nen­freu­den mehr, son­dern eine repres­si­ve Scheu und ein Scham­emp­fin­den, unter dem es bro­delt und kocht. – Die Kul­tur wur­de mut­wil­lig zer­stört, nur um Geschäf­te zu machen. Es fehlt der Respekt vor dem Geist, wo immer nur aufs Mate­ri­el­le gestarrt wird.

Man den­ke nur an den Opi­um­han­del in Chi­na. Das geschah, um die eigent­lich sta­bi­le Kul­tur in Chi­na emp­find­lich zu schwä­chen und das Land mit­hil­fe die­ser Sucht in die Kniee zu zwin­gen. – Der Westen möge sich also bit­te nicht so auf­spie­len, er soll­te erst ein­mal Buße tun, im Geden­ken an die­se Ver­bre­chen. Und wenn man bedenkt, daß ein Gut­teil der Lan­des­gren­zen von den Bri­ten gezo­gen wur­de, in Afri­ka und in Asi­en, bewußt mit­ten durch Stam­mes­ge­bie­te, weil man den Hader immer wie­der für eige­ne Zwecke instru­men­ta­li­sie­ren wollte.

Man kann inzwi­schen erstaun­lich viel über mie­se Machen­schaf­ten wis­sen. Das mei­ste davon ist nicht ein­mal mehr geheim, son­dern läßt sich im Zwei­fels­fall mit Links sehr schnell doku­men­tie­ren. Das ist es, was das Netz aus­macht. – So war es eine Stern­stun­de, als die Pla­ne­s­pot­ter an ver­schie­de­nen Flug­hä­fen der Welt ihre Beob­ach­tun­gen unter­ein­an­der abstimm­ten und dann publik wur­de, daß es regel­rech­te Fol­ter­flü­ge im Auf­trag der CIA gab und daß die USA in Euro­pa gehei­me Gefäng­nis­se betreibt.

Wir ste­hen erst am Anfang einer neu­en, unüber­seh­bar mäch­ti­gen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on. So etwas dau­ert meh­re­re Gene­ra­tio­nen und das Netz läuft sich gera­de erst warm.

Auf eine Medi­en­re­vo­lu­ti­on folgt immer eine Kul­tur­re­vo­lu­ti­on, weil ja nun noch mehr Men­schen mit­ein­an­der ins Gespräch kom­men, ohne daß sich Herr­scher oder Prie­ster noch dazwi­schen­schal­ten könnten.

Zuvor ent­schied die Kir­che, ob und wie ein Text das Licht der Öffent­lich­keit erblick­te. Aber der Buch­druck mach­te die Kon­trol­le der Kom­mu­ni­ka­ti­on durch die Kir­che unmög­lich. Fort­an ent­schie­den schnell nam­haft wer­den­de Drucker, was sie drucken woll­ten, aus ganz eige­nen Moti­ven her­aus. – Dar­auf ging die Zen­sur von der Kir­che an den Staat über.

Mar­tin Luther hielt nicht viel vom Buch­druck, aber bös­ar­ti­ge Kari­ka­tu­ren über Papst und Kir­che brach­ten sei­ner Refor­ma­ti­on erst den rich­ti­gen Schwung. Der Papst als Schwein mit der drei­fa­chen Kro­ne, das konn­ten auch Leu­te ver­ste­hen, die noch nicht des Lesens mäch­tig waren.

Dar­auf kam die Zei­tungs­pres­se und mit ihr kamen Par­la­men­te, Par­tei­en und Poli­ti­ker. Und mit dem Radio kamen tota­li­tä­re Syste­me auf, wie Faschis­mus oder Sozia­lis­mus. Neue Medi­en sind zu vie­ler­lei ein­setz­bar, im Guten wie auch im Bösen. – Der­weil split­tet „die“ Öffent­lich­keit sich immer wei­ter auf. Es gibt nicht mehr die ein­zig wah­re herr­schen­de Mei­nung aller Wohl­mei­nen­den und Wohlinformierten.

Man­che unter den Poli­ti­kern kom­men in ihrer neu­en Rol­le gar nicht mehr an. Sie kön­nen sich nicht mehr als „Reprä­sen­tan­ten“ ver­ste­hen, als Volks­ver­tre­ter, weil das „Volk“ selbst mün­dig gewor­den ist und nie­man­den mehr braucht, der noch das Wort stell­ver­tre­tend ergreift.

Die Zei­ten sind ver­gan­gen, als Poli­ti­ker noch in aller Eitel­keit beton­ten, sie sei­en die näch­ste Woche wie­der in der Haupt­stadt. Dort wür­den sie dann tur­nus­mä­ßig auf irgend­ei­ne Wich­tig­keit von Mensch tref­fen, um bei Gele­gen­heit das gemein­sa­me Anlie­gen umso dring­li­cher vor­zu­tra­gen. – Man soll­te sich auf­ge­ho­ben, ernst genom­men, ver­stan­den und ver­tre­ten fühlen.

Jetzt braucht es sie nicht mehr, die­se Form der Reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie, weil sich alle selbst aus­drücken und inso­fern auch reprä­sen­tie­ren kön­nen. Es gilt, end­lich mehr Demo­kra­tie zu wagen. – War­um wäh­len wir den Bun­des­prä­si­den­ten nicht online? Wahl­män­ner braucht es nicht mehr, also auch nicht mehr eine Bundesversammlung.

Die Rol­le von Reli­gi­ons­für­sten, Prie­stern und „Hir­ten“ ist vakant gewor­den. Daher ist es auch kein Skan­dal mehr, wenn sich ein Bischof aus dem Ruhr­ge­biet vor etwa 10 Jah­ren in vol­ler Über­zeu­gung noch gegen die gleich­ge­schlecht­li­che Eltern­schaft aus­sprach, von wegen, das sei „wider­na­tür­lich“, Kin­der bräuch­ten nun ein­mal Vater und Mut­ter. Das ist inzwi­schen ein­fach nur noch eine belie­bi­ge Mei­nungs­äu­ße­rung. – Rosa von Praun­heim saß mit in der Dis­kus­si­ons­run­de und sag­te baff nicht ohne Schmun­zeln: Daß er das noch mal erle­ben dürfte!

Es ist alles auch ein biß­chen viel, was sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten so alles radi­kal gewan­delt hat. Und Man­chen geht es noch immer nicht schnell genug. Dage­gen hilft eine Sen­tenz von Niklas Luh­mann: Vie­le wür­den immer­zu noch mehr Ver­än­de­run­gen ver­lan­gen, ohne aber zu beden­ken, „wie schnell wir schon fahren“.

Jede Inter­ven­ti­on führt zu Gegen-Reak­tio­nen von Sei­ten der Sozia­len Syste­me, die sich ihrer­seits auf die ver­än­der­ten “Umwelt­be­din­gun­gen” ein­stel­len, wie die Mine­ral­öl-Spe­ku­lan­ten, die bei der Gele­gen­heit ganz außer­or­dent­li­che Gewin­ne erwirt­schaf­ten wer­den. – Das stützt übri­gens auch einen schlim­men Ver­dacht, dem bedin­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men gegenüber.

Im Prin­zip kann man nur für ein Grund­ge­halt sein, wenn es denn wirk­lich so kom­men wür­de, wie es im Traum erscheint: Eine Gesell­schaft, in der Men­schen ein­an­der durch Krea­ti­vi­tät beglücken, die sich end­lich dar­auf ver­stün­de, die vie­len schlum­mern­den Talen­te in vie­len von uns zu erwecken. Wäre das nicht wirk­lich lebens­wert und sogar lie­bens­wert? – Aber wie beim Tan­kra­batt wür­de schluß­end­lich nur eines die Fol­ge eines sol­chen Grund­ein­kom­mens sein: Die Mie­ten wür­den stei­gen, weil Ver­mie­ter nun ein­mal mit Miet­wohn­raum spe­ku­lie­ren, um mög­lichst hohe Gewin­ne zu erzielen.

Nein, die Welt ist über­haupt nicht ein­fach. Das Getue von Poli­ti­kern mit ihrem Hang zum Inter­ven­tio­nis­mus ist Buden­zau­ber. Des­we­gen hat man den Tan­kra­batt auch nicht an dem Groß­han­del gege­ben, dann wäre er an den Tank­stel­len ange­kom­men. Auf den Hype kam es an, auf die Show, what ever it costs.

Die Reli­gi­on soll die­ser Tage durch eine deter­mi­ni­sti­sche Wis­sen­schaft ersetzt wer­den, die päpst­li­cher sein soll als der Papst. – „Fol­low the Sci­ence?“, da fragt sich nur wohin. Im übri­gen, gibt es etwas Düm­me­res als die­sen Spruch?

Man kann eine Hür­de auch neh­men, indem man sie nicht etwa über­springt, son­dern “unter­bie­tet”, wie Trump, John­son, Erdo­gan, Putin, Jong-un oder auch wie die Tali­ban. Wenn man nur die Frau­en oder auch die Anders­den­ken­den aus vor­ge­scho­be­nen Glau­bens­grün­den mög­lichst radi­kal unter­drückt, dann wird alles wie­der gut. – Sor­ry, wel­cher Gott soll­te dar­an Gefal­len finden?

Um abzu­len­ken wer­den Pro­ble­me zur Not auch künst­lich erzeugt und dann „gelöst“. Im Hin­ter­grund ste­hen zumeist tie­fer lie­gen­de Res­sen­ti­ments gegen die Moder­ne, gegen jede Eman­zi­pa­ti­on und vor allem gegen Ver­nunft und Geist. Alles soll so blei­ben wie es ist, bes­ser noch, alles soll so wer­den, wie es ein­mal war, als alles angeb­lich noch gut war. – Aber auch das funk­tio­niert mit Sicher­heit nicht.

Der trei­ben­de Fak­tor im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on ist Indi­vi­dua­li­sie­rung. Alle suchen so gut sie kön­nen nach sich selbst, wol­len sich spü­ren und sehen las­sen kön­nen in ihrer Ein­zig­ar­tig­keit. Aber die Wenig­sten wis­sen von sich, wer sie eigent­lich sind oder sein wol­len, ganz unab­hän­gig vom Sol­len. – Was hilft?

Phi­lo­so­phie kann hel­fen, wenn es dar­um geht, mehr Boden unter die Füße zu bekom­men. Man kann nicht alles zugleich anzwei­feln und soll­te schon gar nicht den Ast absä­gen, auf dem man sitzt. Der Rei­he nach, also mit Metho­de geht das durch­aus. – Wich­tig und wesent­lich ist aber vor allem eines, daß gere­det wird. Es braucht Dia­lo­ge und Dis­kur­se vor allem über das, was pein­lich sein könn­te, über Äng­ste, Gefüh­le, Sehn­süch­te, Gelü­ste, Unsi­cher­hei­ten, Rol­len­kon­flik­te. Wenn immer mehr Men­schen ein­an­der authen­tisch begeg­nen, dann kön­nen Dia­lo­ge ent­ste­hen, die den Hori­zont wirk­lich erwei­tern. Dann könn­te es auch sein, daß man­che die­ser Bann­flü­che bre­chen, mit denen wir uns und unse­res­glei­chen immer­zu klein machen und klein halten.

Der­zeit ist jedoch allent­hal­ben ein Man­gel an Geist, an Beschei­den­heit und ein Man­gel an Gelas­sen­heit zu ver­zeich­nen. Man glaubt ernst­haft, über­all hin­ein­pfu­schen zu kön­nen, ohne wirk­lich eine Ahnung zu haben von dem, was da eigent­lich vor sich geht in den Systemen.

Wer hat denn die Endo­kri­no­lo­gie wirk­lich so auf dem Schirm, daß die Wir­kung künst­li­cher Hor­mon­ga­ben nicht nur so unge­fähr ver­stan­den wird, son­dern in ihrer gan­zen Wech­sel­wir­kung bis hin­auf zur See­le, zur Psy­che und bis hin zum Geist beur­tei­len zu kön­nen? – Es müß­te schon ein Uni­ver­sal­ge­nie sein, daß es so nicht mehr geben kann. Also braucht es den Streit der Fakul­tä­ten, aber kei­ne Ein­heits­par­tei, kei­ne Ein­heits­wis­sen­schaft und auch kei­nen Einheitsbrei.

In der Tat steht ein Kurs­wech­sel an, der Aus­stieg aus dem Car­bon-Zeit­al­ter und der Ein­stieg in die Welt der rege­ne­ra­ti­ven Ener­gie. – Poli­tik kann im Namen des Staa­tes die Rah­men­be­din­gun­gen schaf­fen oder auch ver­än­dern. Popu­lis­mus ist aber kontraproduktiv.

Ein schö­nes Bei­spiel für gelun­ge­ne Poli­tik ist das Patent­recht. Ein Erfin­der wird sei­ne Erfin­dung geheim hal­ten wol­len, weil er nichts davon hät­te, wenn ande­re ern­ten, was er gesät hat. – Genau das aber wäre nicht im Sin­ne von Wirt­schaft und Gesell­schaft. Deren Inter­es­se besteht viel­mehr dar­in, daß Paten­te öffent­lich gemacht wer­den. – Also ver­bürgt sich der Staat dafür, daß die Rech­te des Urhe­bers gewahrt blei­ben. Dafür muß aber die Erfin­dung öffent­lich gemacht wer­den, und der Erfin­der erhält dar­auf sein Patent, mit dem er am Markt mit den Ver­wer­tern auf­tre­ten und ver­han­deln kann. Es braucht also eigent­lich nicht viel, um ganz gewal­tig etwas zu ver­än­dern, so daß es auf den rich­ti­gen Kurs kommt.

In der chi­ne­si­schen Phi­lo­so­phie gibt es dazu ein Prin­zip, es ist das „Wu Wei“, was bedeu­tet „Nicht-Tun“. Damit ist aber kei­nes­wegs „Nichts­tun“ gemeint, viel­mehr geht es um eine Phi­lo­so­phie der Inter­ven­ti­on. Es kommt dar­auf an, mit gering­fü­gi­gen Ein­grif­fen die ent­schei­den­den Rei­ze zu set­zen, um einen Kurs­wech­sel in die gewünsch­te Rich­tung zu bewir­ken. Das macht gute Poli­tik zur Kunst.

Das macht gute Päd­ago­gik, gute Psy­cho­lo­gie, gute Phi­lo­so­phie aus. In den Dia­lo­gen sind Men­to­ren nur anwe­send und tun dabei, rein äußer­lich betrach­tet, nicht son­der­lich viel. Sie “mode­rie­ren” und sind wie die Kata­ly­sa­to­ren in der Che­mie oder in der Bio­lo­gie. – Wenn und solan­ge sie anwe­send sind, wird aber das Unmög­li­che möglich.

Reak­tio­nen, für die eigent­lich anspruchs­vol­le Rah­men­be­din­gun­gen erfor­der­lich sind, gehen ohne Pro­ble­me von­stat­ten, als wäre ein ganz beson­de­rer Zau­ber im Spiel. – Die Meme, also gute Ideen haben etwas von sol­cher Zau­ber­kraft. Wesent­lich ist, daß ein Geist auf­kommt, der die Musen zur Hil­fe rufen kann, so daß man sich vor Begei­ste­rung vor so vie­ler guter Ein­fäl­le kaum noch erweh­ren kann.

Dann gilt es, mit bewuß­ter Unter­küh­lung die ein­zel­nen Optio­nen zu prü­fen und womög­lich ins Kon­zept zu brin­gen. Das wäre gute Poli­tik, das ist aber bereits Kunst und viel­leicht auch Phi­lo­so­phie, wenn denn das Gute, Schö­ne und Wah­re wirk­lich zusam­men­ge­bracht wer­den könnten.

Wenn sich im Dia­log die erlö­sen­den Wor­te ein­stel­len, so daß wir end­lich sagen kön­nen, was schon längst soll­te gesagt und ver­stan­den wor­den sein, erst dann kom­men wir uns selbst und ein­an­der näher in einem Ver­ste­hen, das sei­ne Basis gefun­den hat. Das sind Momen­te des Glücks, für die es zu leben sich lohnt.

Die Wirk­lich­keit selbst wird immer viel­fäl­ti­ger, nur schwarz-weiß oder wenig­sten grau zu den­ken, sie Slo­ter­di­jk anregt, ist noch immer nicht far­big. Aber das wäre viel­leicht auch ein wenig zu viel des Guten. – Dage­gen ist aber auch der kau­sal­fe­ti­schi­sti­sche Ungeist kei­nes­wegs dazu ange­tan, wirk­lich auf gute Ideen zu kommen.

Johan König: Athe­ne und die Neun Musen an der Quel­le von Hip­okre­ne (1624).

Wie wäre es, wenn sich die Ver­nunft und die Musen zusam­men­tun? – Wenn ich dar­über spe­ku­lie­re, wie die Ver­nunft es wohl macht, wenn sie ein Modell des­sen erstel­len soll, wor­auf es ins­ge­samt ankommt, dann wird es doch wohl nicht im Sin­ne der MINT-Fächer sein, nicht im Sin­ne der viel­be­ru­fe­ne “Ratio­na­li­tät” oder “Wis­sen­schaft­lich­keit”, denn es gibt so vie­le davon wie Göt­ter im Pantheon.

Der Leit­stern kann nicht der allent­hal­ben bemüh­te Kau­sal-Feti­schis­mus sein, der in der Coro­na-Kri­se schon so viel gei­sti­ge Ver­wir­rung gestif­tet hat. Nein, die Ver­nunft opti­miert sich in Hin­sicht auf Schön­heit, als Ein­heit des Wah­ren, Schö­nen und Guten. – Die­ser Meta-Dis­kurs soll­te end­lich an die Stel­le der Papst­kir­che tre­ten, um die alten Göt­ter eben­so wie die Musen dazu zu bewe­gen, ihre uralten Kämp­fe, Tän­ze und Inspi­ra­tio­nen wie­der aufzunehmen.

Nähe und Enge

Wenn es eng wird ums Herz

“Wann Krieg beginnt, das kann man wis­sen, aber wann beginnt der Vor­krieg. Falls es da Regeln gäbe, müß­te man sie wei­ter­sa­gen.” (Chri­sta Wolf: Kas­san­dra. Vor­aus­set­zun­gen einer Erzäh­lung. Frank­fur­ter Poetik–Vorlesungen; Darm­stadt, Neu­wied 1983. S. 76f.)

Es gibt einen ethisch nicht zuläs­si­gen Tier­ver­such: Zwei Rat­ten wer­den in einen Käfig gesperrt, der eine ziem­lich klar defi­nier­te Grö­ße unter­schrei­tet. Dann gehen sich bei­de augen­blick­lich an die Gur­gel, bis nur noch eine übrig bleibt. 
Auf mehr­tä­gi­gen Ver­an­stal­tun­gen gibt es die­sen magi­schen 3. Tag. Auch da gehen sich Teil­neh­mer aus einem inne­ren Zwang her­aus an, weil irgend­ei­ne Geduld am Ende ist und man vom vie­len Weg­lä­cheln all­mäh­lich Gesichts­krämp­fe bekommt. — Es ist auch komisch, wenn gleich ganz vie­le wie auf ein gehei­mes Kom­man­do ziem­lich unver­mit­telt und auf­grund von Nich­tig­kei­ten plötz­lich auf­ein­an­der losgehen.
Wenn man als Refe­rent spä­ter dazu kommt und wis­sen möch­te, wie die Stim­mung so ist, kann man sehr gut Teil­neh­me­rin­nen befra­gen. Frau­en haben es wie selbst­ver­ständ­lich auf dem Schirm, wer mit wem, war­um nicht und wes­we­gen. — Ich bin da immer bass erstaunt, wie leicht frau Grup­pen­dy­na­mik dur­schau­en kann, weil ich dazu mit Bord­mit­teln ziem­lich lan­ge brau­che, bis ich es auch sehe.

Jérô­me-Mar­tin Lang­lois: Cas­san­dra fleht Miner­va an, sich an Ajax zu rächen (1810).

Es ist über­aus wich­tig, hin­ter die Kulis­sen zu schau­en. Das ist auch der Sinn von Höf­lich­keit, denn es gilt, ande­ren zuvor­kom­mend zu begeg­nen, so daß sie gar nicht erst Beklem­mun­gen bekom­men, son­dern sich wohl­füh­len, ver­stan­den, geach­tet, gewür­digt. — Das läßt sich sehr schön bei Knig­ge stu­die­ren, dem es mit­nich­ten um den Ein­satz des Fisch­mes­sers geht. 
Tat­säch­lich ist Gesell­schaft immer auch Thea­ter. Wir spie­len unse­re Rol­len und dabei uns selbst und ande­ren etwas vor. Aber was wäre die Alter­na­ti­ve? — Der Unter­ti­tel bei Knig­ge lau­tet, vom Umgang mit Men­schen. Dabei geht es um eine Diplo­ma­tie, die alles ande­re ist als Schmei­che­lei oder Mani­pu­la­ti­on. Aller­dings ist dazu ein wenig Lebens­art und Lebens­er­fah­rung erfor­der­lich und vor allem ein huma­ni­sti­scher Geist. 
Das Rol­len­spiel ist ja selbst wie­der ein Medi­um, eine Spra­che, mit der wir uns dar­stel­len. Das wird einem klar bei einer Emp­feh­lung, die Knig­ge gibt: Sei­ner­zeit war die Bewe­gungs­frei­heit nicht so wie heu­te. Nur Ade­li­ge und Hand­werks­ge­sel­len durf­ten und muß­ten rei­sen, um sich in der wei­ten Welt zu bewei­sen. In der Tat lernt man sich selbst am besten in der Frem­de ken­nen und vor allem dann, wie man mit dem Unbe­kann­ten umge­hen muß. 
Wenn man in der Stadt eine Kut­sche gemie­tet hat und die Kut­scher wie ver­rückt los­fah­ren, soll­te man sich kei­nes­wegs dar­über beschwe­ren. Es geht nur um eine Bela­stungs­pro­be. Wenn näm­lich die Räder schwach sind, dann soll­ten sie hier und jetzt bre­chen – aber nicht im Wald, wo bekannt­lich die Räu­ber sind. 
Die mei­sten Pro­ble­me ent­ste­hen durch nicht the­ma­ti­sier­tes Miß­ver­ste­hen. Es ist fal­sche Höf­lich­keit, irgend­ei­ne Form zu wah­ren, aber nicht auf das zu spre­chen zu kom­men, was wirk­lich von Bedeu­tung ist, um ein­an­der zu ver­ste­hen. — Das ist vor­aus­set­zungs­rei­cher als gedacht. Zunächst müß­te man erst ein­mal sich selbst ver­ste­hen und dann auch den Ande­ren. Dann braucht man eine gemein­sa­me Gesprächs­grund­la­ge, wie es schon im Jar­gon der Diplo­ma­ten heißt. Das alles ver­langt der Spra­che der­art viel ab, so daß vie­le lie­ber alles weg­lä­cheln und Meta–Toleranz–Gepflogenheiten vor sich her­tra­gen oder auch Par­tei­nah­men, je nach Tages­be­fehl, was 
noch mehr Pro­ble­me bereitet.
Die Welt ist in der Tat abhän­gig vom Wil­len und von der Vor­stel­lung, die man sich dar­über macht oder auch nur machen läßt. Das hat die Coro­na-Kri­se leid­lich unter Beweis gestellt. Die Gren­zen zwi­schen dem Öffent­li­chen und dem Pri­va­ten, zwi­schen Gesell­schaft und Gemein­schaft, wur­den stän­dig ver­letzt. Man hat sich in eine Stim­mung aus Panik, Furcht und Bedro­hung ver­set­zen und dau­er­haft hal­ten lassen.
Und jetzt erscheint es so, als wäre Coro­na nur eine Art Vor­krieg gewe­sen. Die Pola­ri­sie­rung der Gesell­schaft, der Kul­tur, man­cher Gemein­schaf­ten und das Gefühl, im Ande­ren eine infek­tiö­se Bedro­hung zu sehen und Nähe gene­rell fürch­ten zu müs­sen, sich auf nichts mehr ver­las­sen zu kön­nen, schon gar nicht auf das eige­ne Immun­sy­stem, das hat alles sehr viel mehr Scha­den ange­rich­tet, als man­che bereit wären, sich zuzugestehen.
Auch ist es kein Zufall, daß nun­mehr mit mög­lichst gro­ßer Öffent­lich­keit die­ses toxi­sche Männ­lich­keits­geh­abe wie­der fröh­li­che Urstän­de fei­ert. — Wie war es noch, als Deut­sche in den Krieg fuh­ren? Das taten sie ja nur, um dort mit ihrer neu­en, fran­zö­si­schen Gelieb­ten auf der Chaus­see de Ely­see fla­nie­ren zu gehen. Zurück kamen sie, wenn über­haupt, zutiefst traumatisiert.
Die Welt­krie­ge haben die­se Schat­ten­fi­gu­ren des pre­kä­ren Mas­ku­li­nis­mus erzeugt, einen manisch-depres­si­ven Män­ner­typ, der nicht spre­chen kann über die Scheuß­lich­kei­ten, die nicht wie­der ver­schwin­den wol­len. Also liegt er den gan­zen Tag auf der Couch, bekommt aber ein­mal am Tag sei­nen Anfall, die gan­ze Fami­lie zu vermöbeln.
Das gegen­wär­ti­ge, affen­haf­te Brust­klop­fen der Macho­ma­nie ist ja nur das, was im Vor­krieg demon­striert wird. Spä­ter wird sich die Gesell­schaft in gro­ßer Dank­bar­keit für die erbrach­ten Opfer von die­sen Hel­den nur noch ange­wi­dert abwen­den. Also was soll das?
Es ist kein Kunst­stück, gegen den Krieg zu sein, gegen jeden, weil das ein­fach für nichts gut ist. Außer­dem befand man sich schon immer in der bes­se­ren Gesell­schaft mit denen, die sich ein eige­nes Urteils­ver­mö­gen zutrau­en und auch zumu­ten moch­ten. — Zwi­schen der Zustim­mung zur Imp­fung und der Zustim­mung zum Krieg gibt es eine gespen­sti­sche Gemeinsamkeit.
I am not con­vin­ced. — Wo kommt nur das Bedürf­nis nach Haß her? Ist es nicht eine viel zu spä­te Reak­ti­on dar­auf, daß man sich wie­der ein­mal hat viel zu viel Duld­sam­keit abver­langt, zu viel Nähe zuge­mu­tet und zu wenig Ver­ste­hen auf­ge­bracht hat? War­um weh­ren sich so weni­ge gegen Über­grif­fe und lächeln sich weg? War­um kommt es dazu, daß man irgend­wann ein­fach platzt, wenn es bereits zu spät ist? Das ist fal­sche Höf­lich­keit, das ist Feig­heit, Unbe­darft­heit, Unselbst­stän­dig­keit, Unsi­cher­heit, Unmündigkeit.
War­um haben so vie­le die Gele­gen­heit zum Bas­hing nicht ver­strei­chen las­sen, um auch mal ganz kräf­tig aus­zu­tei­len? — Die Grün­de lie­gen woan­ders, in einem all­ge­mei­nen Unglück­lich­sein, das mit dem eigent­li­chen Anlaß kaum etwas zu tun hat. 
In einem Man­gel an Den­ken und Spra­che lie­gen die eigent­li­chen Grün­de. Daher lau­fen die Kon­flik­te völ­lig aus dem Ruder nach dem Mot­to: Und was ich Dir über­haupt immer schon mal sagen woll­te…! — Macht­wor­te sind Ver­laut­ba­run­gen einer Ohn­macht, aus Grün­den der Spra­che, des Den­kens und aus Man­gel an Geist.
Als Etho­lo­gen einem Volk ohne Fern­se­her vom Welt­krieg erzähl­ten, haben sich die­se zunächst köst­lich amü­siert. So etwas bräuch­ten sie auch mal. Offen­bar dach­ten sie an eine zünf­ti­ge Wirts­haus­schlä­ge­rei, die sie auch noch nicht kann­ten. — In einem Sci­ence Fic­tion las ich mal über eine frem­de Spe­zi­es, sie sei­en ursprüng­lich sehr krie­ge­risch gewe­sen, dann aber hät­ten sie sich selbst immer wei­ter pazi­fi­ziert. Aber von Zeit zu Zeit bräuch­ten sie noch eine Drang­wä­sche, ein bemer­kens­wer­tes Wort für das, was da gera­de vor sich geht.
Es ist vie­len zu eng gewor­den. Es wäre aber bes­ser, ein­an­der mehr Raum zu gewäh­ren. Raum gewäh­ren kann man auch durch mehr Ver­ständ­nis, etwa für die, die sich gera­de völ­lig ver­un­si­chert in den Geschäf­ten bewe­gen, daß jetzt kei­ne Mas­ken­pflicht mehr herrscht. Aber wo kom­men wir da jetzt hin, wenn jeder wie­der macht was er oder sie will! – Genau das ist das Pro­blem, die­ses unaus­ge­spro­che­ne Miß­trau­en, der ver­bor­ge­ne Selbst– und Menschenhaß.
Der Libe­ra­lis­mus steht einer rechts­ka­tho­li­sche Tie­fen­ge­sin­nung gegen­über und einer Rei­he von selbst­über­zeug­ten Bes­ser­wis­sern, die in sich das Poten­ti­al zum guten Dik­ta­tor ver­spü­ren. Nicht nur Krieg, son­dern auch Dik­ta­tur scheint wie­der machbar.
Aber der Libe­ra­lis­mus hat den Huma­nis­mus auf sei­ner Sei­te. Er kann sagen, war­um wir uns in unse­rer Frei­heit selbst fin­den und ent­wickeln müs­sen. Nur so wird aus Men­schen das, was sich aus ihrer Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schich­te längst her­aus­le­sen läßt, Wesen indi­vi­du­el­ler Weis­heit, Selbst­ver­ant­wor­tung, Empa­thie, Authen­ti­zi­tät und einem immens gestie­ge­nen Verbalisierungsvermögen.
Erst wenn wir sagen kön­nen, was mit uns und der Welt nicht stimmt, wenn wir auch in der Bewegt­heit noch die Con­ten­an­ce bewah­ren kön­nen, um uns gleich­wohl nicht unter­but­tern zu las­sen, erst dann sind wir auf dem rich­ti­gen Weg. — Dabei ist die Bezeich­nung Homo sapi­ens bis­lang nur eine Anmaßung.
Die letz­te aller Kom­pe­ten­zen ist die schwer­ste von allen, das ist in jeder Ent­wick­lung so. Sich selbst mode­rie­ren zu kön­nen, freund­schaft­lich, ver­ständ­nis­voll und hoff­nungs­voll, das ist ein­zig das, was zählt. Der Staat hat über­haupt nicht das Recht, sich da ein­zu­mi­schen. Er hat nicht die Auf­ga­be, über die Gesell­schaft zu herr­schen, er hat ihr zu die­nen, um sie dar­in zu unter­stüt­zen, zu sich selbst zu kom­men. — In Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie ist das der sta­te of the art, alle Eltern wis­sen das.