Ober­se­mi­nar:

Das erschöpf­te Selbst — Die Psy­che und die Narrative

Don­ners­tags | 12:00–13:30 Uhr | Raum: online

Beginn: 15. April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

Zum Kommentar als PDF

Es gilt, ein mul­ti­ples Selbst und Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät zu ent­wickeln. Denn wenn wir den bis­he­ri­gen Ver­lauf der Psy­cho­ge­ne­se in die Zukunft ver­län­gern, dann wer­den wei­te­re Inter­na­li­sie­run­gen folgen. 

Das wer­den vor allem auch sol­che sein, die Pro­ble­me berei­ten, weil sie immer mehr mit­ein­an­der im Hader lie­gen wie Prie­ster und Ket­zer, wie Scha­ma­nen und Wis­sen­schaft­ler, wie Natur– und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. — Es wird ganz gewiß nicht ein­fa­cher, son­dern kom­pli­zier­ter, wenn nun­mehr wei­te­re wider­sprüch­li­che Figu­ren und Nar­ra­ti­ve hin­zu­kom­men, so, wie wir inzwi­schen fast den gan­zen Göt­ter­him­mel in uns haben als Teil unse­rer Psyche.

Nicht nur die sozia­le Außen­welt, son­dern auch die psy­chi­schen Innen­wel­ten dif­fe­ren­zie­ren sich im Ver­lauf der Kul­tur­ge­schich­te immer wei­ter aus. Wenn die Welt, weni­ger die natür­li­che Umwelt, als viel­mehr die sozio­kul­tu­rel­le zwei­te Natur, immer kom­ple­xer wird, dann stei­gen die Anfor­de­run­gen, wirk­lich noch zu ver­ste­hen, was eigent­lich gespielt wird. 

Es soll­te daher mög­lich sein, die inhä­ren­te Dia­lek­tik ver­schie­de­ner Per­spek­ti­ven mit allen ein­schlä­gi­gen Dif­fe­ren­zen ganz bewußt in Dienst zu neh­men, um sodann selbst den­ken und sich an die Stel­le eines jeden ande­ren ver­set­zen zu kön­nen, um schließ­lich im Bewußt­sein aller die­ser unter­schied­li­chen Stim­men aufzutreten.

Vor­ge­stellt wird uns Nar­ziß als ein anmu­ti­ger all­seits begehr­ter Jüng­ling, nur daß die­ser, ganz anders als der noch anmu­ti­ge Jüng­ling im Mario­net­ten­thea­ter von Kleist, auch im wei­te­ren Ver­lauf sei­ner Jugend rein gar nichts von sei­ner Anmut ein­büßt. Man kön­ne ihn als ein Bild der när­ri­schen Eigen­lie­be anse­hen, nach wel­cher einer ande­re Leu­te ver­ach­tet, end­lich aber ein Narr wer­de, und selbst ver­geht, heißt es im gründ­li­chen mytho­lo­gi­schen Lexi­kon von Ben­ja­min Hede­rich, das bereits Goe­the, Schil­ler und Kleist inspi­riert hat.

Bei Ovid erfah­ren wir sein doch recht jugend­li­ches Alter, Nar­ziß habe soeben eines zu fünf­zehn Jah­ren hin­zu gefügt und kön­ne eben­so noch als Kna­be erschei­nen aber auch bereits als Jüng­ling. Wir haben es also mit einem recht jun­gen Men­schen zu tun, und ver­wun­der­lich ist eigent­lich, daß allen Ern­stes erwar­tet wird, die­ser sol­le sich in die­sem Alter bereits zu irgend­ei­ner Lie­be bekennen. 

Über­tra­gen in unse­re Gegen­wart müß­ten wir pro­te­stie­ren und anfüh­ren, daß ein hal­bes Kind sehr wohl auch sein Recht auf einen Rest Kind­heit, auf Jugend­lich­keit, Unge­bun­den­heit, auch auf Selbst­ver­liebt­heit habe und daß nicht erwar­tet und schon gar nicht gefor­dert wer­den sol­le, er möge als­bald den soge­nann­ten Ernst des Lebens oder gar der Grün­dung einer Fami­lie ins Auge zu fas­sen. — Aber unter­stel­len wir wei­ter­hin, der Mythos wol­le uns anhand des Nar­ziß etwas ande­res vor Augen füh­ren, geste­hen wir ihm also zu, woge­gen wir durch­aus Ein­spruch erhe­ben könnten.

War­um es einen sol­chen Mythos geben muß, der uns den Nar­ziß­mus näher vor Augen führt, läßt sich anhand einer Neben­be­mer­kung bei Ovid zumin­dest erah­nen, es ist die ›Neu­heit des Wahn­sinns‹ bei Nar­ziß, dar­in läge dann also das eigent­li­che Motiv für die­sen Mythos. 

Am Anfang steht der geheim­nis­vol­le Spruch des Sehers, der noch aus der Kin­der­zeit stammt, der über lan­ge Zeit nicht in Erfül­lung gehen soll­te: »Wenn er sich nicht kennt!« sei ihm ein lan­ges Leben beschie­den, hat­te The­re­si­as vorhergesagt.

“Lang schien eitel und leer sein Aus­spruch. Doch ihn bewäh­ren That und Erfolg und die Art des Tods und die Neu­heit des Wahn­sinns.” (Ovid: Metamorphosen)

Die­se ›Neu­heit des Wahn­sinns‹ wäre dem­nach der eigent­li­che Anlaß, war­um es die­sen Mythos, war­um es Nar­ziß hat­te geben müs­sen, um zu demon­strie­ren, daß etwas in sei­ner Ent­wick­lung schief gegan­gen ist, was nicht schief gehen soll­te. — Der neu­ar­ti­ge Wahn­sinn soll­te nun justa­ment in dem Augen­blick aus­bre­chen, als sich Nar­ziß doch noch selbst ken­nen ler­nen sollte.

Es scheint zugleich, als wol­le der Mythos auch pro­te­stie­ren, als sei er gegen irgend­et­was Neu­es gerich­tet, vor des­sen Fol­gen hier gewarnt wer­den soll, anhand eines schlim­men Fall­bei­spiels. — Wenn dem so wäre, daß der Mythos selbst und sei­ne Autor­inten­ti­on einer Epo­che ent­stammt, in der das, wovor hier gewarnt wer­den soll, noch gar nicht bekannt war, so daß es Befürch­tun­gen gab, gegen die sich das mythi­sche Modell des Nar­ziß rich­ten soll­te, dann steht ver­mut­lich im Hin­ter­grund die Erfah­rung eines ein­schnei­den­den kul­tu­rel­len Wandels.

Wir haben es hier also ver­mut­lich mit einem ent­schei­den­den Schritt im Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se zu tun. — Die Neu­heit des Wahn­sinns von Nar­ziß läge dem­zu­fol­ge dar­in, nicht mehr ein­fach wie üblich von Lie­be ergrif­fen zu wer­den, als wil­len­lo­ses Objekt eines Angriffs des Hecken­schüt­zen Amor, der, selbst noch ein ver­ant­wor­tungs­lo­ses Kind, ein­fach mit Lie­bes­fei­len nur so um sich schießt und der nicht sel­ten auch Zeus zu allen erdenk­li­chen Eska­pa­den verleitet. 

Wir hät­ten dann im Nar­ziß einen ange­hen­den jun­gen Mann vor uns, der sich das Urteil dar­über, in wen er sich ver­liebt und ob über­haupt, selbst vor­be­hält. Auch das wäre eine Les­art, wobei die Neu­ar­tig­keit des Wahn­sinns, die Unver­schämt­heit aus der Per­spek­ti­ve der Alten zwei­fels­oh­ne im Anspruch auf Indi­vi­dua­li­tät liegt. 

Nar­ziß wäre einer, der sich nicht so ein­fach ergrei­fen läßt, der sich sei­ne Kind­heit und sei­ne Jugend­lich­keit bewahrt. — Nar­ziß dürf­te dem­nach in ganz beson­ders einem Wesens­zug als arro­gant, selbst­ver­liebt und auch hoch­mü­tig erschie­nen sein, in sei­nem Anspruch ein eigen­stän­di­ges, selbst­be­stimm­tes Indi­vi­du­um sein zu wollen.