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ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Tag: Philosophie

Der Staat als Pate

Sind Sie mit einer freiwilligen Impfpflicht einverstanden?

Über ein Angebot, das niemand ablehnen soll

Gleich nach dem Stu­di­um hat­te ich einen Lehr­auf­trag an der Fach­hoch­schu­le für öffent­li­che Ver­wal­tung in Dort­mund: „Ethik für Poli­zei-Beam­te“. Das ist Pflicht­pro­gramm vor dem Hin­ter­grund der Gleich­schal­tung in Nazideutschland.
Ich habe dort viel erfah­ren über das Innen­le­ben der Poli­zei. Einer­seits wach­sam in der Kon­trol­le mit Argus­au­gen, ande­rer­seits der per­ma­nen­te Wunsch, Gren­zen zu über­tre­ten, wohl weil der stän­di­ge Druck zu groß ist. Also, man benahm sich pro­vo­kant, woll­te den star­ken Macho–Mann geben und kei­ne Schwä­che zei­gen. Daß kei­ne Papier­flie­ger auf­stie­gen, war alles. Dort waren kei­ne Frau­en dar­un­ter, die Luft war also ziem­lich würzig.
Damals spür­te ich, wie es intern zugeht bei denen, die weni­ge Jah­re zuvor in der RAF-Raster­fahn­dung mich immer raus­ge­wun­ken haben, mit mei­nen lan­gen Haa­ren, dem klapp­ri­gem R4 mit Achs­scha­den und Hip­pie­be­ma­lung, um mich zu kon­trol­lie­ren mit Maschi­nen­ge­wehr im Rücken. Das ist eine selt­sa­me Form der Prominenz.
Aber wie und wer sind die, die eine sol­che Per­for­mance auf Befehl lie­fern, wenn “der” Staat, also die, die sich für “den” Staat hal­ten und das Sagen haben, mei­nen, “der” Staat müs­se mal zei­gen, wo der Frosch die Locken hat und der Bartel den Most holt.

Der Pate (Ori­gi­nal­ti­tel: The God­fa­ther) ist ein US-ame­ri­ka­ni­scher Mafia­film aus dem Jahr 1972 von Fran­cis Ford Cop­po­la, basie­rend auf dem gleich­na­mi­gen Roman von Mario Puzo, der gemein­sam mit Cop­po­la auch das Dreh­buch ver­fass­te. Der Film mit Mar­lon Bran­do und Al Paci­no in den Haupt­rol­len war für elf Oscars nomi­niert, von denen er drei gewann. Der Pate zählt zu den künst­le­risch bedeu­tend­sten Wer­ken der Filmgeschichte.

Intern herrscht eine unge­heu­er­li­che Dis­zi­pli­nie­rungs­kul­tur. Sobald in den Semi­na­ren einer „aus­scher­te“ und irgend­ein Ver­ständ­nis für Min­der­hei­ten zum Aus­druck brach­te, fiel die Grup­pe augen­blick­lich über ihn her: Ach, so einer bist Du also?!
Empa­thie und alles “Wei­che”, gewis­ser­ma­ßen Unmänn­li­che war ein Aus­druck von Schwä­che. Es ging zu wie im Schwa­ben­land, wo vie­le in der schwä­bi­schen Frei­kir­che sozia­li­siert wur­den und sich einen ähn­li­chen Schliff ein­ge­fan­gen haben. So wur­den die­se über­aus wach­sa­me Mit­men­schen dres­siert, eif­rig in höhe­rem Auf­trag augen­blick­lich dabei zu stö­ren, falls einer sich mal ver­ges­sen haben und irgend­wie ver­träumt und selbst­ver­ges­sen in Glücks­mo­men­ten schwel­gen soll­te. Wenn man von die­sen Mit­men­schen erwischt wird beim Mensch­sein, dann füh­ren sie einen augen­blick­lich zurück auf den rich­ti­gen Weg des Unwohl­seins im Sein.
Eine älte­re Dame im mün­ster­län­di­schen Wall­fahrts­ort Telg­te erklär­te mir mal: “Der Herr­gott hat uns ja auch nicht erschaf­fen, damit wir es uns hier unten gut gehen las­sen!” — Das ist phi­lo­so­phisch gar nicht so leicht zu kon­tern, denn man müß­te dann mit dem Ter­mi­nus “Herr­gott” eini­ger­ma­ßen ver­siert umge­hen kön­nen. Heu­te wür­de ich es mir zutrau­en, aber damals war ich höf­lich sprachlos.
Ähn­li­ches muß ich den poli­zei­li­chen Anwär­tern auf den höhe­ren Dienst auch zuge­ste­hen, daß sie mich ent­waff­net haben mit dem Bekennt­nis: „Immer müs­sen wir dort­hin, wo alle ande­ren weg­lau­fen”. — Ja, das ist der Job, und für nicht weni­ge ist genau das sogar Beru­fung. Sie haben mei­nen Respekt, wirklich.
Tat­säch­lich sind Poli­zei­be­am­te bei ihrer Berufs­wahl ähn­lich moti­viert wie Leh­rer. Es sind Idea­le im Spiel, aber Poli­zi­sten bekom­men es rich­tig dicke auf die Müt­ze, wäh­rend es für Leh­rer bei wei­tem nicht so bela­stend ist, weil man vie­les per­sön­lich gestal­ten kann. Aber genau das möch­te man von der Poli­zei gera­de nicht, daß sie per­sön­lich was gestaltet.
Vor die­sem Hin­ter­grund ist es auch amü­sant für mich, in eine Ver­kehrs-Kon­trol­le zu gera­ten, weil ich noch immer wie ein Leh­rer emp­fin­de. Und wenn dann ein Beam­ter mich fragt: „Sind Sie mit einem frei­wil­li­gen Atem­test zur Alko­hol­kon­trol­le ein­ver­stan­den?“, dann bekommt er von mir einen sokra­ti­schen Dia­log, das bin ich ihm und mir schuldig.
Was denn dar­an frei­wil­lig sei, will ich wis­sen. Der Beam­te wie­der­holt, ich hät­te doch die Wahl!? Was denn wäre, wür­de ich mich nicht ein­ver­stan­den erklä­ren, fra­ge ich zurück. Dann müß­te ich mit auf die Wache, wo mir auch mit kör­per­li­cher Gewalt das Blut für einen Alko­hol­test abge­nom­men wür­de. Was denn dar­an frei­wil­lig sei, fra­ge ich zurück. Er wie­der­holt nur, ver­steht nicht oder will nicht verstehen.
Ich sage ihm, das sei kei­ne Frei­wil­lig­keit. Ich wür­de ihm das jetzt mal vor Augen füh­ren und zwar am Bei­spiel sei­ner dane­ben­ste­hen­den Kol­le­gin. Wenn ich sei­ne Kol­le­gin als Frau fra­gen wür­de, ob sie mit einer frei­wil­li­gen kör­per­li­chen Nähe ein­ver­stan­den wäre, weil ich anson­sten ande­re Mit­tel ein­set­zen wür­de, was das wohl wäre: Nöti­gung durch Andro­hung von Gewalt min­de­stens, wenn nicht mehr. – Er habe jetzt kei­ne Zeit, sagt der Beam­te und geht.
Lau­ter­bach hat für die Nahe­le­gung einer „frei­wil­li­gen Impf­licht” eine ähn­li­che rhe­to­ri­sche Figur gewählt, die selbst­ver­ständ­lich von Sokra­tes in den höch­sten Tönen als der Weis­heit letz­ter Schluß gelobt wür­de. Das geht immer so, wenn er wie­der mal schwer beein­druckt ist. Wehe dem, wer so einen Bock gescho­ßen hat, denn man wird dann vor aller Augen rhe­to­risch geteert und gefedert.
Es beginnt damit, auf eine viel zu lau­te, unmög­li­che, ja uner­träg­li­che Wei­se über den grü­nen Klee gelobt zu wer­den. — Die­se Gegen­fi­gur wird als Hyper­bel bezeich­net, das ist die Keim­zel­le ver­nich­ten­der Iro­nie im Gewan­de des Lob­ge­sangs, der nur eine Rich­tung kennt, nach oben, höher und höher des Lobes voll – und dann im Sturz­flug run­ter, direkt auf den Boden der Tatsachen.
Auch in der Musik funk­tio­niert das her­vor­ra­gend. Jimi Hen­drix prä­sen­tier­te auf dem Festi­val in Wood­stock von 1969 eine ver­zerrt dröh­nen­de, mit mar­tia­li­schen Bom­ber– und Maschi­nen­ge­wehr­sal­ven durch­setz­te, als­bald welt­be­kann­te Inter­pre­ta­ti­on der US-Natio­nal­hym­ne “The Star-Span­gled Ban­ner”. Er hob sie hoch und höher, um sie fal­len zu las­sen wie einen Bom­ber, der im Sturz­flug zum Angriff über­geht. Ver­blüf­fend deut­lich sind Flie­ger­an­grif­fe und Geschoß­ein­schlä­ge zu hören, Vietnam.
Die frei­wil­li­ge Impf­pflicht als der Weis­heit letz­te Schluß von Lau­ter­bach wür­de Sokra­tes gewiß hoch über alles heben, um die­se absur­de The­se dann umso tie­fer abstür­zen zu las­sen. Natür­lich ist es lächer­lich, weil Lau­ter­bach gar nicht ver­steht, was der Unter­schied zwi­schen Kör­per und Leib ist, eben­so­we­nig wie der Poli­zist, der nun ein­mal im stäh­ler­nen Gehäu­se der Hörig­keit sei­ner Dienst­pflich­ten lebt.
Die­ser Zwang zum frei­wil­li­gen Selbst­zwang hat nicht nur etwas von einer Ver­ge­wal­ti­gung, es ist eine. Und der Täter ist der Staat. Und der Staat ist ein Schlä­ger, einer, der hun­dert­mal schon ver­si­chert hat, er wol­le sich bes­sern und hät­te schon man­che The­ra­pie­sit­zung absol­viert, sich nicht wie­der in der Gewalt zu ver­grei­fen an der Gesell­schaft. Aber dann ist er doch bei der näch­sten Gele­gen­heit wie­der rück­fäl­lig geworden.
Das alles läßt sich demon­strie­ren, ich habe dar­über Bücher geschrie­ben. Aber es berei­tet auch Freu­de, sich dar­über lustig zu machen, über so etwas Ehren­wer­tes wie die ehren­wer­te Gesell­schaft, die der Staat letzt­end­lich ist.
Das läßt nicht von unge­fähr an einen zeit­lo­sen US-ame­ri­ka­ni­schen Mafia­film aus dem Jahr 1972 von Fran­cis Ford Cop­po­la den­ken, mit Mar­lon Bran­do, über­wäl­ti­gend in der Rol­le des Vito Cor­leo­ne, als der Pate (Ori­gi­nal­ti­tel: The God­fa­ther). — Aber ja doch, Mafia. Das Pro­blem ist, daß der Staat von Hau­se aus selbst nichts ande­res als “Mafia” ist, höchst ehren­wert ver­steht sich, nur daß es eben nicht bei­des zugleich geben kann.
Wenn Staat, dann nur in Ket­ten wie ein Unge­heu­er. Das bedeu­tet Gewal­ten­tei­lung, Balan­ce of Power und ist so gemeint, daß die eine Gewalt der ande­ren bit­te­schön nicht ein­mal die Wurst auf dem Brot gön­nen soll­te. Da möch­te man nun wirk­lich nicht von Bun­des­ver­fas­sungs­rich­tern hören, die zum Din­ner ins Kanz­ler­amt fah­ren, um sich dort, ja was eigent­lich, wohl zu füh­len oder geehrt oder geach­tet? Da lobe ich mir die Polizisten.
Unüber­trof­fen der Spruch des Paten: Man mache ihnen ein Ange­bot, das sie nicht ableh­nen können.
Das läßt mich wie­der an mei­ne freund­lich gemein­te, hypo­the­ti­sche Avan­ce der Poli­zi­stin gegen­über den­ken, mir gefäl­lig zu sein. 
Wie lau­tet der Spruch? — Du willst es doch auch!
Frei­wil­lig? Aus eige­nem Antrieb?
Weil sie sel­ber es will?
Es gibt einen Unter­schied zwi­schen “Kör­per haben und Leib sein”, sagt Hel­muth Plessner.
Und ich sage, daß ich der Sou­ve­rän bin in die­sem inti­men Raum zwi­schen mei­nem Leib und mei­ner See­le, alles ande­re ist Vergewaltigung.

Ironie in Zeiten Coronas

Wie es ist, Hypochonder zu sein

Ein viel­be­ach­te­ter Auf­satz von Tho­mas Nagel geht der Fra­ge nach, wie es wohl sein wür­de, eine Fle­der­maus zu sein.

Schnell stößt der Autor auf Gren­zen, näm­lich jene, die Lud­wig Witt­gen­stein kon­sta­tiert hat: „Die Gren­zen mei­ner Spra­che, sind die Gren­zen mei­ner Welt“.

Ich war nie son­der­lich ange­tan vom Hype um die­sen Auf­satz von Nagel, denn ich kann­te längst die berüh­ren­den Expe­di­tio­nen in die Wahr­neh­mungs­wel­ten der Tie­re von Jacob von Uex­küll, etwa über die Stu­ben­flie­ge oder, ganz beson­ders „ein­fühl­sam“ über die Zecke. Da hat man näm­lich den Ein­druck, zum besag­ten Tier zu wer­den, weil die Sin­ne redu­ziert wer­den auf das, was noch bleibt: Bei der Zecke ist es ein Geruchs­sinn für But­ter­säu­re, um Säu­ge­tie­re wahr­zu­neh­men und dann noch ein Wär­me­sinn, um dort­hin zu krab­beln, wo war­mes fri­sches Blut fließt.

Auch Nagel kommt auf jene Pro­ble­ma­tik, die hin­ter alle­dem steht, was der Anthro­po­lo­gie Hel­muth Pless­ner ein­mal auf die For­mel gebracht hat vom „Unter­schied zwi­schen Kör­per-Haben und Leib-Sein“. Da gibt es in der Tat eini­ge Dif­fe­ren­zen, da geht eini­ges nicht auf und das liegt nicht an der Phi­lo­so­phie, son­dern es ist selbst phä­no­me­nal, daß und was da nicht auf­geht. — So wird die­ser Tage viel Wert gelegt auf „Acht­sam­keit“, auch als eine Form der Selbst­auf­merk­sam­keit. Aber auch da zeigt sich die­ses Pro­blem, daß wir genau dort, wo es ums Ver­ste­hen die­ser Dif­fe­ren­zen geht, ein­fach nicht nahe genug herankommen.

Wie­viel Selbst­auf­merk­sam­keit ist genug, was wäre zu wenig und was zu viel? Das läßt sich gar nicht beant­wor­ten, weil man dann erst irgend­wo Maß neh­men müß­te. Maß­neh­men woran?

Aber man kann in sol­chen Fäl­len auch mit Extre­men arbei­ten, die selbst etwas Beson­de­res haben im Ver­hält­nis zwi­schen Psy­che und Kör­per, Leib und See­le. So wie es Unauf­merk­sam­keit gibt, so läßt sich auch eine gestei­ger­te Auf­merk­sam­keit beob­ach­ten, die dann irgend­wann etwas viel wird.

Vie­le sind dann schnell mit der Eti­ket­tie­rung bei der Hand, etwas sei „krank­haft“. Das ist so schreck­lich bei Ari­sto­te­les in der von vie­len so geschätz­ten „Niko­ma­chi­schen Ethik“. Als wäre das Mitt­le­re immer die rich­ti­ge Wahl, nie­mals zu viel oder zu wenig, immer in Maßen. Als ob es das wäre.

Ari­sto­te­les konn­te den Epi­gram­ma­ti­ker Fried­rich Frei­herr von Logau (1605–1655) noch nicht ken­nen, des­sen Spruch die unter­be­lich­te­te Ethik spie­lend ad absur­dum füh­ren kann, wie es Dio­ge­nes nicht bes­ser hät­te tun kön­nen: „In Gefahr und gro­ßer Not bringt der Mit­tel­weg den Tod.“ — Und jene selbst­be­ru­fe­nen Men­schen, die mit Urtei­len aus der Hüf­te schie­ßen, um garan­tiert nicht zu tref­fen, sind auch nicht hilf­reich, wenn es heißt, Hypo­chon­drie sei „krank­haft“. Zuge­ge­ben, es ist eine etwas ange­spann­te, ziem­lich per­ma­nen­te Auf­merk­sam­keit, die Fried­rich Nietz­sche dazu gezwun­gen hat, tag­täg­lich den eige­nen Gesund­heits– und Kran­ken­stand in ein eige­nes Tage­buch des Wohl– und eher Unwohl­seins zu schreiben.

Bild: Albrecht Dürer: Selbst­por­trait (1528). Skiz­ze in der er auf ver­grö­ßer­te Milz zeigt.

Wie ist es, Hypo­chon­der zu sein? Das ist die Fra­ge, die nun von beson­de­rem Inter­es­se ist, wegen der Imp­fung, der Per­so­na­lie und der unbe­hol­fe­nen Skan­da­li­sie­rung um Harald Schmidt. Ich hat­te schon vor gerau­mer Zeit dar­über spe­ku­liert, ob er ist oder nicht ist, also „geimpft“. Und es hat mir ein sar­do­ni­sches Ver­gnü­gen berei­tet, dar­über zu spe­ku­lie­ren, daß nun ja wirk­lich zwei Her­zen in sei­ner Brust schla­gen müß­ten. Einer­seits ist das die Angst vor Krank­heit, ande­rer­seits ist da die Angst vor der Imp­fung. — Ja, an alle Wenig­den­ker, das geht auch! Die Phi­lo­so­phie hat sogar einen Namen dafür, es ist eine Apo­rie, eine „Weg­lo­sig­keit“, die eben „ter­ti­um non datur“, ohne ein Drit­tes, also ohne Aus­weg ist. 

Ich bin damals zu dem Schluß gekom­men, er hat nicht und er ist nicht. Rich­tig! Er ist noch immer nicht.

Das kam auf eine köst­lich ver­klau­su­lier­te Wei­se über den Kon­text her­aus. Lustig ist, daß die Impf–Sitten–Wächter das noch immer nicht bemerkt haben. Und natür­lich äußert sich sein Manage­ment zu die­ser Peti­tes­se nicht. Er sei gera­de im Urlaub. Sie wür­den dem begna­de­ten Enter­tai­ner damit ja sei­ne Poin­te und sei­ne Extra–Lektion in Rhe­to­rik ver­mie­sen, die er einer ent­setz­ten Öffent­lich­keit ver­ab­reicht hat.

Noch lusti­ger ist, daß sich nie­mand traut, über Harald Schmidt her­zu­fal­len wie über Sport­ler oder Schau­spie­ler auf eine mit­un­ter ein­fach nur unver­schäm­te Art und Wei­se. Man hät­te es aller­dings mit einem rhe­to­risch gna­den­los Begna­de­ten zu tun. — Hat sich Lau­ter­bach eigent­lich schon zum Impf­sta­tus von Schmidt geäußert?

Das Argu­ment von der „Vor­bild­funk­ti­on von Pro­mi­nen­ten“ lese ich gera­de, oh. Es mag Pro­mi­nen­te geben, deren Beruf es ist, pro­mi­nent zu sein, aber bei Harald Schmidt wäre zu klä­ren, wie es wohl sein mag, Hypo­chon­der zu sein. — Das mag selbst schon wie­der hei­kel erschei­nen, das der­art an die gro­ße Glocke zu hän­gen, hät­te er sich nicht selbst in einer köst­li­chen Steh­greif-Par­odie dar­über lustig gemacht, wie es ist, Hypo­chon­der zu sein.

Aber gewiß ist der Impf­sta­tus pri­vat. Das geht nie­man­den etwas an und genau­so hält er es auch. Dabei sind über­all Iro­nie­si­gna­le aber nur weni­ge checken es. Was sei­nen Impf­sta­tus, die Fra­ge aller Fra­gen betrifft, so müs­se er vor­sich­tig sein, sonst gäbe es etwas auf den Alu­hut und dann kommt die ver­schmitzt zurecht­ge­leg­te For­mel im Wort­laut des Scholzo­ma­ten, er sei auf dem besten Wege zu 2G. — Köstlich!

Aber fast alles irr­lich­tert in der gar nicht mehr so frei­heit­li­chen Repu­blik. Man­che möch­ten sich gern dar­über sehr erre­gen, daß er dann auch noch Wit­ze über Coro­na macht.

Nur weni­ge sind nicht her­ein­ge­fal­len und haben sich nicht vor­füh­ren las­sen im Nicht­den­ken. In der Welt vom 7. Janu­ar kon­sta­tiert Mla­den Gla­dić den gei­sti­gen Niveau­ver­fall unter dem Titel: „Harald Schmidt und sein Impf­sta­tus“. Köst­lich, weil sich da einer ein­schwingt in den Sound. — Phi­lo­so­phie­ren ist eben wie Jazz, man soll­te den Ein­satz nicht ver­pas­sen und impro­vi­sie­ren kön­nen. Und zu Recht wird moniert, daß unse­re Gegen­wart kaum noch fähig ist, sich auf die­sen Sound einzulassen:

„Ich bin auf einem guten und ver­nünf­ti­gen Weg, 2G zu erfül­len“, sagt Harald Schmidt in einem Inter­view. Und alles rät­selt: Ist Schmidt unge­impft, gar Impf­geg­ner? War­um unse­re Gegen­wart kaum noch fähig ist, sich auf den Schmidt–Sound ein­zu­las­sen. Und was die Sät­ze des Ex–Talkers signalisieren.

Im jüng­sten Inter­view mit Harald Schmidt in der „Neu­en Zür­cher Zei­tung“ bemerkt sein Gesprächs­part­ner gleich am Anfang: „Wir dür­fen uns nicht im Hotel tref­fen, weil Sie weder geimpft noch gene­sen sind.“ Schmidts Ant­wort: „Daß ich nicht geimpft sei, das behaup­ten Sie ein­fach so, und ich las­se das mal so ste­hen. Mitt­ler­wei­le habe ich mir eine Olaf–Scholz-Formulierung über­legt: ‚Ich bin auf einem guten und ver­nünf­ti­gen Weg, 2G zu erfül­len.’ Das läßt alles offen. Mehr möch­te ich dazu nicht sagen, sonst gibt’s schnell was auf den Alu­hut.“ Eine Ant­wort, die uns merk­lich über­for­dert und prompt der Skan­da­li­sie­rung anheim­ge­fal­len ist.

Alles hat auch eine ande­re Sei­te, die meist nicht gese­hen wer­den soll, das gilt für das Rau­chen, eben­so wie für Hypo­chon­drie. Die erhöh­te Auf­merk­sam­keit auf Dif­fe­ren­zen zwi­schen Leib und See­le, Psy­che und Kör­per sorgt auch für ein hohes Niveau einer Acht­sam­keit, die ein Enter­tai­ner wie Schmidt stets mit einer gewis­sen Leich­tig­keit bewie­sen hat. Schön waren immer die Pas­sa­gen, in denen er hat durch­blicken las­sen, wie er es macht. Zum Bei­spiel die Lacher, von denen es wel­che gäbe, die Grenz­wer­tig­keit signa­li­sie­ren. — Ich schlie­ße dar­aus, daß die erhöh­te Auf­merk­sam­keit sich sonst­wo­hin aus­ge­dehnt hat, Befind­lich­kei­ten wahr­neh­men zu kön­nen, die auch dem Intel­lekt bei alle­dem Freu­de berei­ten, eine, die ganz gern auch mal die vor­füh­ren, die ande­re immer­zu vor­füh­ren, in dem Glau­ben, sie hät­ten die Moral für sich gepach­tet. Den­ken bräuch­te es nicht, wenn man ohne­hin schon im Recht ist. 

Übri­gens, schon mal vom “Mor­bus Goog­le” gehört, auch die Hypo­chon­drie geht mit der Zeit als Cyber­chon­drie. — Mei­ne per­sön­li­che Erfah­rung ist, daß sich vie­les aufs erste Mal goo­geln läßt aber nicht das, was Ärz­ten regel­mä­ßig auf Par­tys wider­fährt, wenn sie sich als eben­sol­che outen. Sogleich rob­ben sich man­che her­aus, nut­zen die Gele­gen­heit, machen sich schon mal ein wenig frei und wei­sen dann auf sich selbst, sie hät­ten da so ein Zie­hen, manch­mal auch ein Stechen.

Ich woll­te mal Heil­prak­ti­ker wer­den, war schon im Stan­dard­kurs an der Uni in Mün­ster: “Phy­sio­lo­gie für Psy­cho­lo­gen”. Bis ich dann gemerkt habe, daß ich mit man­chen Kran­ken nicht klar­kom­me. Jetzt bin ich es nur so neben­her und das erleich­tert sehr.


Worauf es wirklich ankommt.

Vortrag: Bildungshaus Batschuns, Österreich, 11.06.2021

In einer Kri­se zeigt sich, wer wir sind und wor­auf wir uns wirk­lich ver­las­sen kön­nen und wie sta­bil die Ver­hält­nis­se wirk­lich sind. Ob wir es wol­len oder nicht: Kri­sen sind Bewäh­rungs­pro­ben, dann zeigt sich, ob wir uns anpas­sen, ver­än­dern oder viel­leicht sogar über uns hin­aus­wach­sen können.

Reden stärkt, vor allem Ver­ste­hen. Angst schwächt, eben­so wie Hetz­kam­pa­gnen, das alles ver­wirrt und schmä­lert die Kräf­te. – Neue Stär­ken ent­ste­hen, sobald wir läh­men­de Äng­ste behut­sam überwinden.

Eine Kri­se kann vor­über­ge­hend sein, im psy­cho­lo­gi­schen Sin­ne sind Kri­sen jedoch nur der Anfang umfas­sen­der Wand­lungs­pro­zes­se. – In Mär­chen und Mythen macht die Kri­se den Anfang, dann folgt zunächst die Kathar­sis und dar­auf die Transformation.

Vor allem für die Päd­ago­gik zei­gen die Erfah­run­gen der letz­ten 15 Mona­te, daß die Welt von Men­schen gemacht und zu ver­ant­wor­ten ist. Auch die Men­schen­bil­der, die Unkul­tur öffent­li­cher Debat­ten, der Rück­fall in fast reli­giö­se Äng­ste, das alles gibt zu denken.

Die­se Welt, so wie sie ist, hat kei­ne Zukunft. Dabei ist die Kli­ma­fra­ge nur wie die Spit­ze eines Eis­bergs. Wich­tig wäre es, end­lich auch in der Poli­tik ein posi­ti­ves Men­schen­bild an den Tag zu legen, wie es in Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie schon seit den 70er Jah­ren üblich ist. Staat, Poli­tik und Behör­den gehen aber immer noch vom Obrig­keits­staat aus, wenn sie mei­nen, mün­di­ge Men­schen vor sich selbst schüt­zen zu müssen.

Das Bild vom Guten Hir­ten und sei­ner Her­de ist obso­let, es soll­te den vie­len Auto­kra­ten über­las­sen wer­den. Der in der Coro­na-Kri­se erstark­te Staat wird blei­ben. Daher müs­sen die Gegen­ge­wich­te gestärkt wer­den, also brau­chen wir mehr Demo­kra­tie und mehr Gerichts­hö­fe, an denen sich Staat und Poli­tik recht­fer­ti­gen müssen.

Das wird aber alles nicht rei­chen, wenn man bedenkt, was eigent­lich alles inzwi­schen zur Nei­ge geht. Aller­dings war die Zivi­li­sa­ti­on, seit sie vor 12.000 Jah­ren ent­stand, immer schon eine insta­bi­le Angelegenheit.

Vor allem jene Ent­wick­lun­gen, auf die Päd­ago­gik, Psy­cho­lo­gie und Phi­lo­so­phie beson­ders Wert legen, sind über­haupt nicht mit­ge­kom­men. – Das Feh­len­de nach­zu­ho­len ist und bleibt eine Auf­ga­be, in der es vor allem sehr viel sehr pro­fes­sio­nel­le Päd­ago­gik braucht. Schließ­lich ist jeder Mensch ein­zig­ar­tig, dar­in lie­gen Hoff­nun­gen, nur nie­man­den zu verlieren.


LIVE! music, life et cetera…

Heming­way Lounge | Uhland­str. 26 | 76135 Karlsruhe

LIVE! . music, life et cetera . 

Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nen­nen: “Von Frei­heits­lie­be und der Sehn­sucht nach Kontrolle” .

Ull­rich Eiden­mül­ler im Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen

Was hat das Corona–Virus mit uns gemacht? Wie weit hat es die Welt ver­än­dert und wird sie noch ver­än­dern? Wel­che Tie­fen hat das Virus in der Gesell­schaft bloß­ge­legt? — Könn­te es zu sol­chen Fra­gen am Beginn der „Rück­kehr der Frei­heit“ einen kom­pe­ten­te­ren Gesprächs­part­ner geben als ein Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie an der Fakul­tät für Gei­stes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten am Karls­ru­her Insti­tut für Tech­no­lo­gie (KIT)?

Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen Gesprächs­part­ner von Ull­rich Eiden­mül­ler beim tra­di­tio­nel­len Talk in der Heming­way Lounge sein. Der Phi­lo­soph, der sei­ne Zeitgeist–Analysen seit Jah­ren aus sei­nem Wohn­mo­bil am Kanal in Mün­ster schreibt, ana­ly­siert die Aus­wir­kun­gen auf das täg­li­che Leben, den „Ver­lust an Nähe, den wir zu ver­kraf­ten haben, die Unkul­tur der Ver­un­glimp­fung Anders­den­ken­der, das frü­he Schlie­ßen der gesell­schaft­li­chen Dis­kur­se schon im März 2020“.

Freu­en Sie sich auf ein sprit­zi­ges und tief­ge­hen­des Gespräch in der wie­der­eröff­ne­ten Lounge, unter­malt wie immer von der Musik, die Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nen­nen mitbringt.


Philosophischer Salon

Philosophischer Salon

Literaturhaus im Prinz-Max-Palais

WS 2019 | donnerstags | 18:00–20:00 Uhr

Was­si­ly Kan­din­sky: Thir­ty (1937). Musée natio­nal d’art moder­ne, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Kul­tur ist ein Mit­tel, nicht ein­fach nur ver­rückt zu wer­den, ange­sichts der über­for­dern­den Kom­ple­xi­tät einer Welt, der wir als Indi­vi­du­en und auch als Gat­tung ziem­lich gleich­gül­tig sind. — Es gilt, dar­über hin­aus zu gehen und Ord­nung zu schaf­fen, also Bedeu­tun­gen. Kul­tur bie­tet Ori­en­tie­rung und Schutz, sie gewährt Erwar­tungs­si­cher­heit, basa­le Gefüh­le und die Erfah­rung, getra­gen sein von wie­der erkenn­ba­ren Struk­tu­ren, die ver­läß­lich sind.

Wir sind immer auf der Suche nach Sinn, weil sich dar­an das eige­ne Ori­en­tie­rungs­ver­mö­gen selbst wie­der ori­en­tie­ren läßt. Daher ist Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung von so gro­ße Bedeu­tung, denn Sinn ver­schafft Sicher­heit im Gei­ste, und das in einer Welt, die über­mäch­tig und eigent­lich auch unbe­herrsch­bar erscheint. 

Aber die Welt läßt sich in Geschich­ten ver­stricken, so daß wir uns wie an einem Ari­ad­ne­fa­den im Laby­rinth einer immer unüber­sicht­li­cher wer­den­den Welt ori­en­tie­ren kön­nen, obwohl wir sie als gan­ze gar nicht überschauen.

Lite­ra­tur­haus | Karls­ru­he | Prinz-Max-Palais | Karl­stra­ße 10 | Foto: Bern­hard Schmitt

Men­schen sind Ori­en­tie­rungs­wai­sen. Jedes Tier ist voll­kom­men inte­griert in den ange­stamm­ten Lebens­raum. — Man möch­te anneh­men, daß ›die‹ Natur mit dem Men­schen das Spiel eröff­net hat, wie es wohl sei, ein Wesen zu erschaf­fen, das sich selbst ori­en­tie­ren kann. Inzwi­schen ist die Welt fast voll­stän­dig umge­baut wor­den. Schon bald wer­den zwei Drit­tel der Welt­be­völ­ke­rung in Städ­ten leben.

Der Anspruch, sich in die­sen künst­li­chen Wel­ten zu ori­en­tie­ren, steigt stän­dig. Zur Ori­en­tie­rung braucht es inzwi­schen Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung. Dabei soll gera­de auch die Indi­vi­dua­li­tät zum Zuge kom­men. — Die Zei­ten sind vor­bei, in denen tra­di­tio­nel­le Rol­len muster­gül­tig gelebt wer­den muß­ten, vor allem Geschlech­ter­iden­ti­tä­ten, die kei­nen Aus­bruch, kei­ne Abwei­chung, kei­ne Spe­ren­zi­en dul­de­ten. Immer weni­ger ›Sinn‹ ist vor­ge­ge­ben, was eben bedeu­tet, sich selbst zu orientieren.

Seit alters her wer­den ein­schlä­gi­ge Ant­wor­ten auf letz­te Fra­gen immer wie­der neu von den Mythen gege­ben, die das Kunst­stück beherr­schen, Welt­ver­trau­en und Zuver­sicht zu schaf­fen. Wie das geschieht, das soll mit immer wie­der neu­en Ein­sich­ten im Phi­lo­so­phi­schen Salon zur Erfah­rung gebracht wer­den. — Men­schen sind kos­mi­sche Wai­sen, aus­ge­setzt in dem Bewußt­sein, sich selbst beden­ken zu müssen.


Philosophische Ambulanz

Philosophische Ambulanz

WS 2019 | freitags | 11:30–13:00 Uhr | Raum: 30.91–110 (OG)

Beginn: 23. Okt. 2019 | Ende: 7. Febr. 2020

Fer­di­nand Bart: Der Zau­ber­lehr­ling, (1882). Zeich­nung aus dem Buch Goethe’s Wer­ke, 1882. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia

Und sie lau­fen! Naß und nässer
Wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch ent­setz­li­ches Gewässer!
Herr und Mei­ster! hör mich rufen! —
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.
»In die Ecke,
Besen! Besen!
Seid’s gewe­sen.
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu sei­nem Zwecke,
Erst her­vor der alte Meister.

(Goe­the: Der Zauberlehrling)

In der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Marktplatz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es nicht vor­ran­gig um Meinungsäußerungen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. Es kommt viel mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen Fort­schritt errei­chen. Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie

der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

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EPG II

Oberseminar: Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

WS 2019 | freitags | 14:00–15:30 Uhr | Raum: 30.91–009

Beginn: 17. Okt. 2019 | Ende: 6. Febr. 2020

Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obligatorischer Bestand­teil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wissenschafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befähigen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behandeln zu kön­nen. The­ma­ti­siert werden die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermessens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bildung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maßnahmen und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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Frauenbilder im Mythos

Oberseminar: Frauenbilder im Mythos

WS 2019 | donnerstags | 11:30–13:00 Uhr | Raum 30.91–110

Beginn: 17. Oktober 2019 | Ende: 6. Febr. 2020

Man sieht, daß sie eben­bür­tig sind, schließ­lich ist sie auch sei­ne Schwe­ster. — James Bar­ry: Jupi­ter and Juno on Mount Ida (um 1790f.) — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Die Rol­len vie­ler Frau­en­fi­gu­ren in den klas­si­schen Mythen zei­gen weit mehr als nur die Sei­te des Opfers (Hele­na), son­dern auch eine Viel­falt weib­li­cher Macht, durch die Stel­lung im Haus als Matro­ne (Hera), durch beson­de­re Fähig­kei­ten wie Ver­nunft (Athe­ne) oder auch Zau­be­rei (Medea), nicht zuletzt aber auch durch Ver­füh­rung (Salo­me). Auch tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Kon­flik­te spie­len hin­ein, wenn Gefühl, Wil­le, Kör­per und Geist eben nicht mit­ein­an­der har­mo­nie­ren (Anti­go­ne) oder wenn der Zwang zur Selbst­ver­leug­nung so groß wird, daß Psy­cho­sen aus­ge­lebt wer­den müs­sen (Dio­ny­sos). Des­wei­te­ren ist die offe­ne Zukunft im Pro­zeß der Selbst­er­mäch­ti­gung des Men­schen ein dau­er­haf­tes Pro­blem (Pan­do­ra).

Die­se Ver­an­stal­tung dient der Gegen­wart und dar­in der Selbst­re­flek­ti­on vor dem Hin­ter­grund einer huma­ni­sti­schen Bil­dung, deren Reiz dar­in besteht, sich men­tal und emo­tio­nal den ganz anders­ge­ar­te­ten Ver­hält­nis­sen in der Anti­ke aus­set­zen zu kön­nen, von denen uns vie­les bis auf den heu­ti­gen Tag noch immer tief berührt. Wir soll­ten die­se alten Zei­ten nicht men­tal über­win­den wol­len, denn es wür­de bereits genü­gen, ein­fach nur zu ver­ste­hen, was Kon­ven­tio­nen mit Men­schen machen können.

Bemer­kens­wert ist die in Sze­ne gesetz­te Empa­thie, als wäre das Werk eine Reak­ti­on auf das von Franz Stuck. — Her­mann Haase–Ilsenburg: Fare­well of the Ama­zon (1902). — Quel­le: Foto von Golf in der Wiki­pe­dia. via Wiki­me­dia, Lizenz: Crea­ti­ve Com­mons, CC-BY‑3.0.

Auch der Mythos um die Ama­zo­nen ist, neue­ren For­schun­gen zufol­ge, höchst inter­es­sant in der Deu­tung des­sen, was da wirk­lich auf dem Spie­le stand. Die Ver­hält­nis­se waren längst nicht mehr so ein­ver­nehm­lich wie vor­her, als es noch sehr weni­ge Men­schen gab und noch nicht die Ambi­ti­on, dar­aus Unter­ta­nen zu machen. — Viel­leicht ist unter sol­chen Bedin­gun­gen sogar die Blut­ra­che nicht so desa­strös, wie sie spä­ter sein wird.

Da sind Prin­zes­sin­nen wie Ari­ad­ne oder Medea, die ihr Schick­sal auf­bes­sern möch­ten und end­lich her­aus wol­len aus der eige­nen, als bar­ba­risch emp­fun­de­nen Kul­tur. Daher wür­den sie für einen hoch­wohl­ge­bo­re­nen grie­chi­schen Prin­zen mit Aus­sicht auf Königs­wür­den wirk­lich alles tun, bis hin zum Hoch­ver­rat des eige­nen Lan­des, der Göt­ter und der eige­nen Fami­lie, sogar bis hin zum Brudermord.

Zwar hat auch Ari­ad­ne ›ihrem Hel­den‹ The­seus ganz ent­schei­dend gehol­fen, den Mino­tau­rus im Laby­rinth von Knos­sos zu töten und wie­der her­aus­zu­fin­den, aber The­seus setzt die Schla­fen­de, also die ihm blind­lings Ver­trau­en­de ganz ein­fach auf der Insel Naxos aus. — Ihr wird aber ein atem­be­rau­bend über­ra­schend schö­nes Schick­sal zu Teil, der Wein­gott Dio­ny­sos ver­liebt sich in die schla­fen­de Schö­ne. Ohne­hin spielt die­ser Gott eine sehr wich­ti­ge Rol­le im Zuge der Frau­en­eman­zi­pa­ti­on, weil er end­lich Mög­lich­kei­ten schafft, daß gera­de auch Frau­en ›unge­zü­gelt‹ sein kön­nen und auch sein dürfen.

Franz Stuck: Ama­zo­ne zu Pfer­de (1897). Lower Sax­o­ny Sta­te Muse­um. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Da sind die Opfer gött­li­cher Avan­cen wie Daph­ne, bei der die uner­wi­der­te, ja auf­dring­li­che Lie­be durch­ge­spielt wird, oder etwa Kas­san­dra, die allein für die Aus­sicht auf eine ein­zi­ge Lie­bes­nacht schon mal im vor­hin­ein von Apol­lon mit der Seher­ga­be belohnt wor­den ist, die sich aber stand­haft ver­wei­gert, so daß auch hier wie­der­um der Gott nicht zurück­neh­men kann, was nun ein­mal ver­lie­hen wor­den ist. Dafür aber konn­te er sie sehr wohl noch emp­find­lich tref­fen, die Seher­ga­be soll­te ihr erhal­ten blei­ben, allein, es wür­de ihr nur nie­mand mehr glauben.

Es sind vie­le, wirk­lich sehr ein­drucks­vol­le Bege­ben­hei­ten, einer­seits Stan­dard­si­tua­tio­nen, wie die Los­lö­sung vom Eltern­haus, die Ent­füh­rung der Braut, ero­ti­sche Aben­teu­er, unzwei­deu­ti­ge Ange­bo­te, aber auch ihre gewalt­sa­me Über­win­dung, wonach sie dann auf die­se Wei­se zur Frau ›gemacht‹ wor­den ist, wie etwa Hera durch Zeus, der sich in Gestalt eines bib­bern­den Kuckucks in die Nähe ihres Scho­ßes begibt.

John Wil­liam Water­hou­se: Jason and Medea (1907). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

Dann ist es — so will es die­se Geschlechter–Dramaturgie vor­ma­li­ger Zei­ten, um die Frau gesche­hen. Sie hat nicht auf­ge­paßt, ist hin­ters Licht geführt wor­den. Es genügt, der Gelieb­ten die Ehre zu neh­men, dann wird sie nolens volens ihren Über­wäl­ti­ger hei­ra­ten müs­sen. — Mög­lich ist alle­dings auch, daß hier sehr alte Erfah­run­gen reka­pi­tu­liert wer­den, der Frau­en­raub auch unter vor­zi­vi­li­sier­ten Völ­kern. Der Hin­ter­grund dürf­te der sein, daß es eine immens hohe Müt­ter­sterb­lich­keit gege­ben haben dürfte.

Wir sind inzwi­schen mei­len­weit ent­fernt von die­sen Ver­hält­nis­sen, und nur noch weni­ge wis­sen, was eigent­lich im Ritus der ent­führ­ten Braut noch so alles mit­schwingt. Aber vie­les von alle­dem spukt noch immer in den Köp­fen und Kör­pern her­um. Daher ist es so inter­es­sant, die­se eben­so schil­lern­den wie arche­ty­pi­schen Kon­stel­la­tio­nen ganz bewußt neu auszudeuten.

Alles ist Kon­ven­ti­on, ganz beson­ders kon­ven­tio­nell sind auch die gegen­wär­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, in denen vie­le Akti­vi­stIn­nen noch immer davon aus­ge­hen, daß Frau­en stets Opfer sind, die Opfer von Män­nern, daß Män­ner immer Täter sind und daß daher den Frau­en immer­zu Schutz gewährt wer­den müs­se. Genau das aber bewirkt nichts anders als die Auf­recht­erhal­tung über­kom­me­ner Ver­hält­nis­se, die längst nicht mehr dem Sta­te of the art im Dis­kurs über Gen­der gerecht werden.

Aber oft hin­ter­geht gera­de die­ser Dis­kurs sei­ne eige­nen Anfor­de­run­gen. Daher ist es so inter­es­sant, vor dem Hin­ter­grund unse­rer eige­nen Gegen­wart die dra­ma­ti­schen Situa­tio­nen, in die Frau­en im Mythos gera­ten, als sol­che zu deu­ten. — Wir spie­geln uns immer­zu selbst und dar­auf kommt es an. Daher geht es auch nicht ums Urtei­len, schon gar nicht ums Ver­ur­tei­len, son­dern ein­fach nur und immer wie­der ums Verstehen.

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Die Urbanisierung der Seele

Die Urbanisierung der Seele. 

Über Zivilisation und Wildnis

Das Ewig-Weib­li­che als Motiv aller Moti­ve ist weit weni­ger bio­lo­gi­scher Natur, als gemein­hin ange­nom­men wird, denn gera­de die Geschlech­ter­rol­len sind eine Fol­ge der Zivi­li­sa­ti­on. Zuvor waren die Ver­hält­nis­se der Geschlech­ter stets anders arrangiert.

Heinz-Ulrich Nennen: Die Urbanisierung der Seele.

Heinz-Ulrich Nen­nen: Die Urba­ni­sie­rung der See­le. Über Zivi­li­sa­ti­on und Wild­nis; (Zeit­Gei­ster 2). tre­di­ti­on, Ham­burg. 312 S. – Paper­back 18,99 €, ISBN: 978–3‑7482–1319‑2. Hard­co­ver 28,99 €, ISBN: 978–3‑7482–1320‑8. Erschei­nungs­da­tum: 07.03.2019

Wild­beu­ter sind nicht sess­haft, daher wäre es unsin­nig, Besitz­tü­mer anzu­häu­fen und ver­er­ben zu wol­len. Inso­fern ist auch nicht das Haben, son­dern das Sein ent­schei­dend, wenn und wo es um Aner­ken­nung geht. – Unter den Bedin­gun­gen der Zivi­li­sa­ti­on geht es jedoch um Besitz und Sta­tus, vor allem in Bezug auf Frau­en, was sich anhand von Alle­go­rien über Weib­lich­keit demon­trie­ren läßt. Pan­do­ra steht sym­bo­lisch für die Ver­lockun­gen, Fol­gen und Neben­fol­gen im Pro­zess der Zivi­li­sa­ti­on. Aphro­di­te ver­kör­pert als Göt­tin der Lie­be den Ver­drän­gungs-Wett­be­werb unter Frau­en und die Ent­schie­den­heit, im Zwei­fels­fall alles ein­zu­set­zen. Der­weil steht die schö­ne Hele­na für das Schick­sal, im Spiel der Mäch­te zum wil­len­lo­sen Opfer und zur schö­nen Beu­te gemacht zu wer­den, um als Trumpf, Tro­phäe, viel­leicht sogar im Tri­umph gewalt­sam genom­men zu wer­den. Es gibt eine Foto­gra­fie, die minu­ti­ös von Fried­rich Nietz­sche gegen den Ein­spruch der Betei­lig­ten arran­giert wor­den ist. – Lou Andre­as-Salo­mé hat Fried­rich Nietz­sche und Paul Rée vor ihren Kar­ren gespannt. So könn­te eine Inter­pre­ta­ti­on lau­ten, zumal die Begehr­te kurz zuvor die Hei­rats­an­trä­ge bei­der Män­ner abge­lehnt hat­te. – Es mag sein, dass Nietz­sche sich von die­ser ent­täu­schen­den Lie­be inspi­rie­ren ließ. Aber neben der bio­gra­phi­schen Inter­pre­ta­ti­on ist eine ande­re noch tief­grün­di­ger, es geht um das Motiv aller Moti­ve. Das berühm­te Foto spot­tet jeder land­läu­fi­gen Inter­pre­ta­ti­on des gemei­nen Spruchs: »Wenn Du zum Wei­be gehst, ver­giss die Peit­sche nicht«. Gera­de die­ser Satz hat Nietz­sche in Ver­ruf gebracht. Betrach­tet man aber das Foto genau­er, so zeigt sich, wer hier die Peit­sche führt: Es ist das Weib. 


Alle Bän­de der Rei­he Zeit­Gei­ster erschei­nen bei tre­di­ti­on – wer­den aber auch hier suk­zes­si­ve zum Down­load frei­ge­ge­ben. 

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Anerkennung, Macht, Liebe

Hauptseminar: Anerkennung, Macht, Liebe

SS 2019 | Donnerstags | 11:30–13:00 Uhr | Raum: 30.91–009

Beginn: 25. April 2019 | Ende: 25. Juli 2019

John William Waterhouse: Cleopatra. Privatsammlung. Quelle: Public Domain via Wikimedia.

John Wil­liam Water­hou­se: Cleo­pa­tra. Pri­vat­samm­lung. Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Ech­te Aner­ken­nung ist nicht nur sozi­al, son­dern auch psy­cho­lo­gisch von erheb­li­cher Bedeu­tung. Aner­ken­nung bestä­tigt nicht nur, sie schafft Iden­ti­tät. Sie wirkt hoch moti­vie­rend, ihre Ver­wei­ge­rung dage­gen ver­stö­rend. Das Aus­ge­schlos­sen­sein von jeder Form der Aner­ken­nung ist hoch­pro­ble­ma­tisch. — Die Psy­che eines jeden Indi­vi­du­ums muß dar­auf set­zen, für ande­re von Bedeu­tung zu sein. Sozia­le Iso­la­ti­on steht als Todes­ur­sa­che an erster Stelle.

Wie wich­tig authen­ti­sche Aner­ken­nung tat­säch­lich ist, wird deut­lich anhand der Dia­lek­tik jener zwei­er Selbst­be­wußts­ei­ne, die bei Hegel ein­an­der begeg­nen, weil sie, ein jedes für sich, nicht in der Lage sind, die ent­schei­den­de Aner­ken­nung zu fin­den, eine, die zählt, die gel­ten, die etwas wert sein soll. — Wir legen also nicht von unge­fähr ganz beson­ders Wert dar­auf, nicht nur wofür, son­dern auch, von wem wir die für unser Selbst­be­wußt­sein so lebens­wich­ti­ge Aner­ken­nung erhal­ten. Pro­ble­ma­tisch ist Bei­fall von der fal­schen Sei­te, über­haupt ist es leich­ter, mit Kri­tik umzu­ge­hen, nicht aber mit Lob.

Wenn Aner­ken­nung wirk­lich ›zäh­len‹ soll, dann muß sie unab­hän­gig, fast frei­mü­tig, ohne jede Berech­nung und vor allem ohne Hin­ter­ge­dan­ken ein­ge­räumt, gewährt, ja gera­de­zu auf­ge­nö­tigt wer­den. Sie muß fer­ner vor­ge­bracht wor­den sein von jeman­dem, an des­sen Urteil einem liegt. — Augen­hö­he ist ent­schei­dend. Das geht bis weit in theo­lo­gi­sche Spe­ku­la­tio­nen: Gott habe den Men­schen erschaf­fen, um ein Gegen­über, einen ernst­zu­neh­men­den Kri­ti­ker zu haben, der unab­hän­gig und urteils­fä­hig genug ist, auch fun­da­men­ta­le Schöp­fungs­kri­tik zu betrei­ben. Es genügt eben nicht, wenn ein Schöp­fer tag­täg­lich stolz auf sein Werk ist, um sich immer­zu selbst zu bekun­den, daß alles gut sei.

John Wil­liam Water­hou­se: Cleo­pa­tra. Pri­vat­samm­lung. Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Jeder Zwei­fel an der Authen­ti­zi­tät von Aner­ken­nung offen­bart gera­de in der Lie­be einen unhei­li­gen Kern. Die Tra­gi­ko­mö­die beginnt, sobald nach dem War­um einer Lie­be gefragt wird. Das Pro­blem liegt dar­in, daß kein ›Grund‹ die­sen Zwei­fel wür­de je wie­der aus der Welt schaf­fen kön­nen. Das­sel­be gilt übri­gens auch für die Eifer­sucht, deren Ver­dacht eben­so­we­nig aus­ge­räumt wer­den kann. — Tat­säch­lich han­delt es sich in bei­den Fäl­len nicht um den Aus­druck des Zwei­fels am Ande­ren, son­dern viel­mehr um mani­fe­ste Selbst­zwei­fel, die mit dem ande­ren eigent­lich gar nichts zu tun haben.

Aner­ken­nung setzt nicht nur ein ehr­li­ches Urteil vor­aus, son­dern eben auch ein gesun­des Selbst­be­wußt­sein. Wer jedoch zwei­felt, tat­säch­lich aner­kannt oder gar geliebt zu wer­den, wird die Last sämt­li­cher Zwei­fels­fäl­le selbst abar­bei­ten müs­sen. — Tat­säch­lich haben die ›Grün­de‹ für sol­che Dis­po­si­tio­nen kaum etwas mit der Gegen­wart zu tun, sie rei­chen viel­mehr weit zurück und sind nicht sel­ten ›syste­misch‹ bedingt.

Wie die Aner­ken­nung, so hat auch die Lie­be zwei Sei­ten. Ent­schei­dend ist der Unter­schied zwi­schen Lie­ben und Geliebt­wer­den. Pla­ton zufol­ge zählt eigent­lich nur täti­ge Lie­be, weit weni­ger dage­gen das Geliebt­wer­den, denn nur dann ist der hei­li­ge Wahn inspi­rie­rend genug, so daß einem wie­der neue Feder nach­wach­sen, um zusam­men mit den Göt­tern zum Ideen­him­mel aufzusteigen.

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